In den Notizen vor zwei Wochen war von Widersprüchen im System die Rede. Quelle und zugleich Resultat dieser Widersprüche ist, dass »staatlichem Handeln unter Putin letztlich immer zwei Ziele zugrunde [liegen]: der Machterhalt und die (privat und politisch motivierte) Bereicherung.« An der Moskauer Stadtpolitik (die in Russland immer Bedeutung für das ganze Land hat) lässt sich das gegenwärtig so beispielhaft illustrieren, wie selten. Worum geht es und wie fing es an?
Vor einigen Monaten saßen Präsident Putin und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin im Kreml zusammen. Das Fernsehen war dabei. So etwas ist immer eine Inszenierung. Sobjanin sagte Putin, mehr als eine Million Moskauer lebten immer noch in baufälligen Häusern aus der Zeit des KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chruschtschow, in den sogenannten Chruschtschowkas. In den späten 1950er und den 1960er Jahren waren in der Sowjetunion als Reaktion auf die große Wohnungsnot nach dem Krieg Millionen sehr einfache Mehrfamilienhäuser gebaut worden. Sie hatten fünf Stockwerke, keine Aufzüge, meist Durchgangszimmer, kleine Küchen und außerdem waren – für das russische Verständnis ein großer Mangel – Toilette und Bad nicht getrennt.
Zudem waren für den Bau der Chruschtschowkas die Baustandards gesenkt worden. Die neuen Häuser sollten, so der Plan, 40 Jahren lang stehen, um dann abgerissen und durch neue, bessere Häuser ersetzt zu werden. Nun sind 60 bis 70 Jahre vergangen und viele Chruschtschowkas stehen immer noch. Zwar wurden vor rund 15 Jahren unter Sobjanins Vorgänger Jurij Luschkow viele dieser Leichtbauten abgerissen und neue, modernere Wohnhäuser errichtet. Nach Meinung der Moskauer Stadtverwaltung leben aber immer noch rund 1,4 Millionen Menschen in Moskau in eigentlich abrisswürdigen Häusern.
Das also erklärte Sobjanin gegenüber Putin und bat ihn um Unterstützung, um Abhilfe zu schaffen. Die Moskauer Stadtverwaltung wolle ein großes Investitionsprogramm auflegen, um all diese Häuser zu ersetzen. Um das aber durchzusetzen, brauche es Gesetzesänderungen, nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auch auf föderaler Ebene. Putin stimmte Sobjanin, wie in solchen Inszenierungen üblich, zu und versprach, das entsprechende Gesetz zu unterstützen, was heute in Russland gleichbedeutend damit ist, dass es dieses Gesetz geben wird.
Nun könnte man glauben, dass sich viele Menschen, die in alten, beengten, meist seit ihrem Bau nie wirklich renovierten Häusern leben, freuen, wenn ihnen neue Wohnungen in Aussicht gestellt werden. Doch der Instinkt sagte vielen russischen Bürgerinnen und Bürgern, dass immer, wenn ihre Machthaber eine Wohltat ankündigen, erst einmal Vorsicht geboten ist. So auch hier (siehe »Aus russischen Blogs« in den Russland-Analysen Nr. 334).
Die erste Liste umfasst gut 8.000 abzureißende Häuser, in denen mehr als 1,4 Millionen Menschen leben. Darunter befinden sich tatsächlich viele Chruschtschowkas, aber auch andere Häuser, auf die oft die Merkmale fünfstöckig und alt zutreffen, oft auch unrenoviert, deren Bewohner aber aus vielen Gründen nicht ausziehen wollen (was im Übrigen auch für nicht wenige Bewohner der eigentlichen Chruschtschowskas gilt). Den größten Schock erlebten die betroffenen Moskauer und Moskauerinnen aber, als ein erster Entwurf des von Putin versprochenen Gesetzes bekannt wurde. Darin wird der Moskauer Stadtverwaltung praktisch das Recht eingeräumt, die Menschen – denen die Wohnungen meist gehören – zu enteignen. Und das geht so:
Die Stadtverwaltung benachrichtigt die Menschen, dass ihr Haus abgerissen wird und bietet ihnen gleichzeitig eine Ersatzwohnung an (die immerhin nicht weniger Quadratmeter haben darf als die alte). Binnen 60 Tagen müssen die betroffenen Menschen diesem Angebot nicht nur zugestimmt haben, sondern auch schon umgezogen sein. Ansonsten kann zwangsgeräumt werden. Einspruchsmöglichkeiten sieht das Gesetz nicht vor. Klagen vor Gericht werden ausgeschlossen. Viele Juristen sehen deswegen das Gesetz als verfassungswidrig an. Leider ist das Verfassungsgericht dafür bekannt, sich wenig davon beeindrucken zu lassen, was die Verfassung sagt. Was der Kreml sagt, also Putin, ist wichtiger.
Schnell regte sich Protest. Im Internet, insbesondere in den sozialen Netzwerken rieten Juristen und eine Handvoll unabhängiger Kommunalabgeordneter, wie Wohnungsbesitzer sich am besten vor dem unerwünschten Abriss und der unerwünschten Umsiedlung schützen könnten. Denn ob das Vorhaben der Behörden gelingt, hängt auch von der Trägheit oder Unwissenheit der Menschen ab. Laut Gesetz können sich die Bewohner eines Hauses zusammenschließen, einen »Hausrat« bilden und die Angelegenheiten ihres Hauses weitgehend in die eigenen Hände nehmen. Bisher ist das aber die große Ausnahme. Und dort, wo es Hausräte gibt, werden sie meist von den Wohnungsverwaltungen dominiert, die zwar private Unternehmen sind, aber mit engen (das ist in vielen Fällen ein Euphemismus für korrupte) Verbindungen zur Stadtverwaltung.
In Moskau mit seinen offiziell knapp 13 Millionen Einwohnern dominieren ganze drei Firmen diesen Multimilliardenmarkt. Sie haben jedes Interesse daran, Eigeninitiative gar nicht erst aufkommen zu lassen. Denn Eigeninitiative könnte dazu führen, dass die Bewohner, meist eher unzufrieden mit der Arbeit der Hausverwaltungen, auf die Idee kämen, die Hausverwaltung einer anderen Firma zu übertragen oder in die eigenen Hände zu nehmen.
Nach einer (eher kleinen) Welle von Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern/Wohnungsbesitzern und Wohnungsverwaltungen Mitte der 2000er Jahre hatte sich eine Art Modus Vivendi herausgebildet. Die Wohnungsverwaltungen waren ein wenig besser geworden. Das Interesse vieler Bewohner an Eigeninitiative kleiner. Eine kurze Phase der Aktivität setze vor gut drei Jahren ein, als die Stadtverwaltung das Parken am Straßenrand ausgehend von der Innenstadt nach und nach kostenpflichtig machte. Die Parker wichen auf die Höfe aus. Bewohner fanden kaum noch Parkplatz. Daraufhin bildeten sich in vielen Höfen Initiativgruppen, die die Bewohner zusammenbrachten und gemeinschaftlich finanzierte Schlagbäume an den Einfahrten aufstellen ließen.
Auf diese und andere kleinere Erfahrungen von Kooperation greifen nun viele Initiativgruppen zurück, die sich schnell nach Bekanntwerden des ersten Gesetzesentwurfs bildeten. Inzwischen gibt es mehrere Hundert in Moskau. Mitte Mai organisierten sie eine Demonstration gegen die Renowazija, zu der nach Veranstalterangaben bis zu 20.000 Menschen kamen. Für Moskauer Verhältnisse eine durchaus beachtliche Zahl. Die Veranstalter der Demonstration waren sehr darauf bedacht, zu erklären, sie machten »keine Politik«. Politiker waren entsprechend auch nicht als Redner auf der Kundgebung zugelassen. Dafür sprach eine Vertreterin der Stadtverwaltung, die versicherte, man werde die Meinung der Hausbewohner bei der Entscheidung, welches Haus abgerissen werde und welches nicht, berücksichtigen. Auch eine Änderung des in die Staatsduma eingebrachten Gesetzesentwurfs wurde versprochen.
Kurze Zeit später wurde eine neue Liste der abzureißenden Häuser veröffentlicht, die anstelle von 8.000 nur noch 4.500 Häuser umfasste. Bürgermeister Sobjanin versicherte, wenn sich die Mehrheit der Bewohner eines Hauses gegen den Abriss ausspreche, werde das Haus auch nicht abgerissen, ob es nun auf dieser Liste stehe oder nicht. Etwa gleichzeitig erklärte aber die Stadtverwaltung, man habe in mehr als 500 Häusern bereits Umfragen durchgeführt und es habe »nicht eine Stimme« gegen den Abriss gegeben. Das vom Kreml kontrollierte Meinungsforschungsinstitut WZIOM veröffentlichte die Ergebnisse einer Umfrage, der zufolge »eine Mehrheit der Moskauer« für die Renowazija sei.
Nun sind tatsächlich nicht alle Bewohner der Chruschtschowkas und (weniger) anderer betroffener Wohnhäuser gegen Abriss und Umzug. Insbesondere Bewohner sogenannter Kommunalkas, also Wohnungen, in denen mehr als eine Familie/Partei lebt, erhoffen sich, wohl zurecht, von dem Programm eine eigene Wohnung. Ähnlich war es vor 15 Jahren. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Abrissen seinerzeit und heute. Vor 15 Jahren waren die Chruschtschowkas tatsächlich heruntergekommen. Die meisten Wohnungen waren seit der Sowjetzeit kaum renoviert worden. Gerade in den Chruschtschowkas waren viele Wohnungen noch nicht privatisiert. Doch inzwischen hat sich einiges geändert.
Erstens wurden die ältesten und baufälligsten Häuser bereits vor 15 Jahren abgerissen. Zweitens nimmt die Stadtverwaltung diesmal auch zwar ältere aber durchaus repräsentable Häuser ins Visier. Drittens gab es zwischen Anfang der 2000er Jahre und heute die zehn wirtschaftlich fetten Jahre. Viele Menschen haben sich Wohnung gekauft (meist auf Kredit, der lange abgezahlt wurde oder oft noch nicht abgezahlt ist) und/oder ihre (gegen eine geringe Gebühr) privatisierten Wohnungen aufwändig renoviert, neue Fenster eingebaut, neue Fußböden, Badewannen, Küchen und so weiter.
Daraus ergibt sich ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum Eigentum. Während Wohnungen zuvor etwas waren, was der Staat gab (und mitunter wieder nahm), so handelt es sich nun um etwas Eigenes, etwas, das man sich im direkten Sinn des Wortes verdient hat. Das nun wieder weggenommen oder gegen etwas Minderwertiges eingetauscht zu bekommen, wird als feindlicher Akt des Staates betrachtet. Hinzu kommt, dass zwar die Vorstellung verbreitet ist, es sei in erster Linie der Staat, der für das Wohlergehen seiner Bürger zuständig sei. Gleichzeitig aber gibt es ein tiefes Misstrauen gegenüber eben diesem Staat. Kaum jemand glaubt, dass das staatliche Versprechen, niemand werde nach der Renowazija eine schlechtere Wohnung haben als vorher, eingehalten wird. Entsprechend finster ist die Stimmung.
Nach all dem Gesagten, stellt sich die Frage, warum die Moskauer Stadtverwaltung quasi mutwillig so viele, eher unpolitische, sicher in ihrer Mehrheit nicht oppositionelle Menschen gegen sich aufbringt. Zuerst kann ich da nur auf das Eingangszitat verweisen. Nicht so sehr eine politische, auf das Ganze gerichtete Ratio spielt bei vielen Entscheidungen im System Putin die wichtigste Rolle. Es sind eher die Klientelbeziehungen innerhalb des (jeweils) obersten Machtzirkels, die bedacht und bedient werden müssen. Während in den »fetten« 2000er Jahren beides gleichzeitig möglich war, also das Klientelsystem am Laufen zu halten und die Bürger etwas abbekommen zu lassen, wird das in Zeiten der Krise immer schwieriger. Und der Bau- und Immobiliensektor ist in Moskau (wie übrigens in allen großen Städten dieser Welt) sowohl ein wirtschaftlicher als auch ein Machtfaktor.
Interessanter vielleicht ist aber die Frage, ob sich dieser Protest so schnell und so (relativ) leicht wieder einfangen lässt, wie das in den vergangenen Jahren mit vielen sozialen Protesten gelungen ist. Eine Möglichkeit, wie dies gelingen könnte, wäre der geordnete, zumindest teilweise Rückzug der Stadtverwaltung. Anzeichen dafür gibt es. Sie bestehen bisher aber ausschließlich in Worten. Die Renowazija hat in der Praxis noch gar nicht angefangen. Die ersten »Angebote« für neuen Wohnungen an Einwohner abzureißender Häuser sollen erst in einem halben Jahr erfolgen. Es könnte also sehr gut sein, dass die Strategie der Stadtverwaltung darin liegt, jetzt die Empörung abzufangen, die Hausräte sich beruhigen zu lassen, um dann Haus für Haus vorzugehen. Es kann gut sein, dass das aufgeht. Schon jetzt ist zu sehen, dass in den knapp 4.000 Häusern, die entgegen der ersten Veröffentlichungen nun doch (erst einmal) nicht auf der Abrissliste stehen, viele Menschen erleichtert aufatmen und sich entspannen. Ob die Solidarität mit denjenigen, die es tatsächlich treffen wird, auch dann ausreicht, wenn viele selbst nicht (mehr) betroffen sind, ist fraglich. Zudem ist auch die Angst verbreitet, dass, wer sich rührt, als nächstes dran sein könnte.
Eines macht allerdings ein wenig Hoffnung. Wenn man sich die Geschichte neuerer sozialer Bewegungen und politischer Lernkurven in demokratischen Gesellschaften anschaut, dann waren es häufig die Auseinandersetzungen um den städtischen Raum, die unmittelbaren Lebenswelten, die zur Entwicklung zivilgesellschaftlichen Bewusstseins und zivilgesellschaftlicher Strukturen beigetragen haben. Eine der Wurzeln der Bürgerinitiativbewegung in Deutschland waren in den 1960er Jahre Proteste gegen die Sanierung ganzer Stadtviertel und die damit verbundene Verdrängung wirtschaftlich schwächerer Bevölkerungsgruppen aus ihren angestammten Wohngebieten. Hier bildeten sich Koalitionen zwischen (meist linken) Studenten und bürgerlichen Milieus, die später auch für den Erfolg der Anti-Atom- und Ökologie-Bewegung und den Aufstieg der Grünen konstitutiv waren. Ähnliches ist in vielen Gesellschaften geschehen und hat auch schon in Russland Vorbilder. Es waren die Proteste gegen die Bebauung von Freiflächen in den Zentren großer Städte und gegen unerträgliche Privilegien von hohen Beamten und Reichen im dichten Straßenverkehr, die in der Regierungszeit Putins als erste nicht nur Massencharakter annahmen, sondern auch Zustimmung in weiten Bevölkerungskreisen erhielten. Das liegt vor allem am vorwiegend als nicht politisch empfundenen Gegenstand des Protests, der Bündnisse unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen über sozioökonomische, soziokulturelle und ideologische Grenzen hinweg ermöglicht. Ihr möglicher gemeinsamer Erfolg kann die Grundlage für ähnliche Bündnisse in der Zukunft und an anderem Ort werden.
Der Protest gegen die Renowazija trägt diese Möglichkeit auch in sich, nicht zuletzt, weil er gegenwärtig nicht allein steht. An vielen Stellen im Land regt sich seit einiger Zeit wieder mehr Protest. Ich habe das jüngst in meinem Blog ein wenig aufgeschrieben (<http://russland.boellblog.org/2017/04/25/proteste-in-russland-eintagsfliegen-oder-tendenz/>). Ob diese hier angedeutete Möglichkeit sich entfaltet, muss abgewartet werden.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.