Fans und Gewalt
Nach der deutlich sichtbaren Gewalt, die russische Fans bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich an den Tag legten, hat die Kultur der Gewalt im russischen Fußball viel Beachtung erfahren (Sarah Rainsford, 2016). Der Rassismus eines Teils der Fans ist eine weitere dunkle Seite im russischen Fußball. Während Rassismus und rassistische Einstellungen von den russischen Behörden in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts toleriert wurden (oder sogar aktiv gefördert, wie Richard Arnold und Andreas Umland 2017 ausführten), Hasskriminalität in jüngster Zeit stärker durch den Staat verfolgt, was zu einem merklichen Rückgang geführt hat. Gleichwohl bleiben Fußball und Fußballstadien Orte, an denen derartige Haltungen offen ihren Ausdruck finden. Rassistische Einstellungen werden in Stadien artikuliert, da dort der Raum für die Konstruktion alternativer sozialer Hierarchien besteht.
In diesem Beitrag soll aufgezeigt werden, dass die russische Fankultur als Bastion kulturellen Widerstandes gegen gesellschaftliche Modernisierung fungiert. Mit »kulturellem Widerstand« ist hier die Artikulierung von Ressentiments gemeint, wie auch der Versuch, auf einer alternativen sozialen Hierarchie zu beharren. Die abrupte Liberalisierung der Wirtschaft in den frühen 1990er Jahren hatte eine massenhafte Immigration aus ethnisch distinkten Teilen der ehemaligen Sowjetunion mit sich gebracht; Migrantenfeindlichkeit stand dabei stellvertretend für eine breitere Ablehnung sozialen Wandels. In diesem Zusammenhang erinnert die Kultur der russischen Fußball-Hooligans stark an die Skinhead-Bewegung. Auch Denis Dawydow stellte 2017 fest, dass »die Subkultur der [russischen] Fußball-Hooligans die gleichen Quellen [hat], wie die Skinheads, nämlich den Protest gegen [den Wandel der] traditionellen Gesellschaft« (s. Quelle unter Abb. 1). Da ethnische Diversifizierung Bestandteil von Modernisierung ist (insbesondere in Russland, wie ich 2015 dargelegt habe), repräsentiert Rassismus Widerstand gegen Reformen. Die Verbindungen zwischen Skinheads und Fußballfans reichen bis in 1990er Jahre zurück, in eine Zeit, von der einige Beobachter behaupten, dass »es beim Fußball mehr Rassismus, Neofaschismus uns Extremismus gab als eigentlichen Fußball«, wie es Jewgenij Salnikow 2016 formulierte.
Subkultur der russischen Fußballfans
Die Kultur der bolelschtschiki, der Fußballfans in Russland, trägt besondere Merkmale. Denis Dawydow hat 2017 die Kultur der Fußballfans in die der Skarfjory (»Schalträger«), der Kusmitschi [bed. in etwa: »inaktive, spießige Konsumenten«; d. Red.], der Ultras und der Hooligans unterteilt. Nur die zwei letzteren werden explizit mit Aggression in Verbindung gebracht; denn natürlich gibt es viele Fans, die nichts mit Gewalt und Aggression zu tun haben wollen und nur ins Stadion kommen, um das Spiel zu genießen. Die Ultras und Hooligans tragen gewöhnlich die inoffizielle Uniform der Skinhead-Bewegung: Kleidung britischer Marken, Union Jack, Mützen in »Burberry«-Karo, »Levi«- oder »Lee«-Jeans, »Adidas«-Schuhe und »Fred Perry«- oder »Lonsdale«-Polo-/T-Shirts. Die Identifizierung mit dem Vereinigten Königreich und der Hooligan-Kultur dort ist ein Unterscheidungsmerkmal der Ultras- und Hooligan-Kultur. Das wird von Einzelhändlern genutzt, die ihr Assortiment mit Blick auf jene abstimmen, die sich als Hooligans identifizieren, wobei in der Außenwerbung oft der Union Jack figuriert. Ich habe Läden dieser Art in Wolgograd und Nischnyj Nowgorod gesehen – Läden, die ihre Wurzeln letztendlich in gewalttätigen maskulinen Elementen der Arbeiterklasse, nämlich der britischen Skinhead-Kultur haben.
In gleicher Weise ähneln die Werte, die von diesen Ultras und Hooligans vertreten werden, jenen ihrer britischen Vorbilder: traditionelle Artikulation von Männlichkeit, Aggression, traditionelle Genderrollen und eine Ablehnung von LGBT-Gemeinschaften. Die Gewalt der russischen Fans bei der Europameisterschaft 2016, wobei anscheinend viele für diese Gewalt trainiert hatten, wie Sarah Rainsford 2016 im »Guardian« schrieb, belegt die Bedeutung, die Männlichkeit und Aggression für diese Gruppen haben. Wiktorija Dychor hat 2015 sozialen Konformismus sowohl bei männlichen, wie auch bei weiblichen Fans ausgemacht, wobei Männer durch die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen versuchten, mit einem Archetypus von Männlichkeit konform zu gehen, während Frauen einfach dabei seien, um einen Mann zu finden.
Ganz ähnlich argumentierte Wladimir Markin, seinerzeit Sprecher des Strafermittlungskomitees Russlands, als er das Verhalten der Fans bei der EM 2016 verteidigte: Er stellte virile russische Maskulinität ausdrücklich einer angeblich verweichlicht-schwulen europäischen Männlichkeit gegenüber, als er twitterte, dass »ein normaler Mann, so wie er sein soll, sorgt bei ihnen [den europäischen Beobachtern; S. Rainsford] für Verwunderung. Die sind es gewohnt, auf Schwulenparaden ›Männer‹ zu sehen« [zitiert nach nach Rainsford und Wladimir Markin; d. Übers.]. Durch das Zeigen aggressiver Formen von Maskulinität, durch Beibehaltung von genderspezifischen Zusammenschlüssen und durch die Ablehnung abweichender Sexualität verteidigen die Fußballfans traditionelle Werte.
Russische Ultras und Hooligans schließen sich in »Firmen« zusammen, die Gewalt praktizieren, manchmal in Kämpfen mit Fans anderer Mannschaften. Zu den »Firmen« des Moskauer Fußballclubs »Spartak« beispielsweise gehören unter vielen anderen »Flint’s Crew«, »Clock Work Orange«, »Banda Boksjora« (dt.: »Boxerbande«) und »Schturm«. Auf »Youtube« sind Videos von verabredeten Kämpfen zwischen solchen »Firmen« zu sehen. Die Firmen haben Ähnlichkeit mit den Gruppen, zu denen sich Skinheads zusammenschlossen, und repräsentieren ihren jeweiligen Verein in ähnlicher Weise, wie Skinheads ihren Stadtteil. Dabei gehen sie ebenfalls mit Gewalt vor, sowie mit Symbolen aggressiver Maskulinität, wie Abb. 1 veranschaulicht (Die als Runen stilisierte Inschrift über der Gestalt lautet: »Unser Hass ist eure Angst«; die Stilisierung ist womöglich ein Beispiel für Rückgriffe neorassistischer Organisationen auf keltische oder heidnische »Ursprünge«). Diese Merkmale entsprechen den Werten, die einst von der russischen Skinhead-Bewegung vertreten wurden.
Fans und Rassismus
Während diese Aggression oft die Fans anderer Vereine zum Ziel hat, mündet sie manchmal auch in rassistischen Aktionen. Aus Platzgründen hier und aufgrund der Datenlage allgemein ist eine systematische Auflistung aller rassistischen Vorfälle der jüngsten Geschichte Russlands leider nicht möglich. Es sollen hier die Daten genügen, die die Moskauer Organisation »Sowa« (dt.: »Eule«) gesammelt hat, die sich auf das Monitoring von Fremdenfeindlichkeit in Russland konzentriert. Die Methodologie von »Sowa« ist bereits diskutiert worden. Sowa nutzt regionale Presseberichte, um rassistische Straftaten aufzugreifen; allerdings kann nicht jeder einzelne Fall von Gewalt registriert werden: Opfer von Hasskriminalität trauen sich oft nicht, sich zu melden, weil sie fürchten, ihre Situation nur noch zu verschlimmern, und selbst ein noch so systematisches Monitoring der Berichte aus Russlands Regionen wird nicht alle Fälle erfassen können. Daher sollten wir umso alarmierter sein angesichts der bloßen Anzahl rassistischer Zwischenfälle: Tabelle 1 unten führt Daten aus der Zeit von Mai 2014 bis Mai 2015 auf.
Wie aus den Daten in Tabelle 1 ersichtlich wird, gibt es im russischen Fußball eine relativ große Anzahl rassistischer Zwischenfälle. Beunruhigender vielleicht als die Zahlen selbst ist die dreiste und vorsätzlich geplante Form, die die rassistischen Aktionen angenommen haben. So ist beispielsweise die häufigste Form von Rassismus das Zeigen rechtsextremer Flaggen mit Hakenkreuz oder dem keltischen Kreuz bei Spielen der russischen Premjer Liga – dazu müssen die Flaggen erst einmal vor dem Spiel ins Stadion mitgebracht werden. Jewgenij Salnikow hat 2016 argumentiert, dass das Zeigen rassistischer Attribute ein Mittel sei, um Aufmerksamkeit zu erlangen, doch verharmlost dies, wie ernst das Phänomen solcher Handlungen zu nehmen ist, und es entschuldigt jene, die solche Flaggen schwenken. Manchmal sind Fußballanhänger in Gewalt verwickelt und zahlreiche Fälle von Hasskriminalität erfolgen in Russland im Kontext von Fußballspielen oder werden von Fans begangen. So töteten zwei russische rassistische Studenten im März 2017 in Kasan einen 24-jährigen Studenten aus dem Tschad, wobei sie eine Gruppe von bolelschtschiki zu Hilfe holten, wie das Netzwerk »FARE« berichtete. Am 15. Mai 2014 kam es zu ethnisch motivierten Unruhen in der Stadt Puschkino (Gebiet Saratow), die ausgelöst wurden, weil ein Mann aus dem Kaukasus angeblich einen ethnisch russischen Fußballfan im Streit getötet hatte. Und es hat die berüchtigten ethnisch motivierten Unruhen vom 11. Dezember 2010 auf dem Manege-Platz in Moskau gegeben, mit geschätzten 5.000 Fußballfans und Rassisten (unter ihnen Alexej Nawalnyj, der Liebling der Oppositionsbewegung). Begonnen hatte es als Gedenkmarsch für einen Fan von »Spartak«, der im Streit mit einer Person aus dem Nordkaukasus getötet worden war.
Russische Fans haben oft versucht, auf die Spielerverpflichtungen ihrer Vereine Einfluss zu nehmen. »Landskrona«, einer der Fanclubs des Petersburger Clubs »Zenit«, veröffentlichte 2013 ein offenes Manifest, in dem versucht wurde, die Personalpolitik des Vereins dahingehend zu beeinflussen, dass die Verpflichtung zweier nichtweißer Spieler, nämlich des Afrobrasilianers Hulk und des belgischen Mittelfeldspielers Witsel, verhindert würde. Das Manifest behauptete: »wir sind keine Rassisten, aber wir betrachten das Fehlen schwarzer Spieler als wichtige Tradition. Es würde Zenit erlauben, die nationale Identität des Vereins zu wahren, der ein Symbol von St. Petersburg ist«. Auch wenn diese Spieler schließlich dennoch verpflichtet wurden, suchten russische Fans das zu bewahren, was sie als wichtige, traditionelle ethnische Zusammensetzung ihres Vereins betrachten. Später lehnten schwarze Spitzenspieler eine Verpflichtung in St. Petersburg ab, nachdem sie Drohungen von rassistischen Fans erhalten hatten (s. G. Fyodorov). Die Vereinsleitung versäumte es, die Veröffentlichung des Manifests zu verurteilen, wodurch sie stillschweigend den Fans ein Recht auf offen rassistische Statements zubilligte. Ein weiterer Zwischenfall erfolgte in Samara, wo Fans Affenstimmen imitierten und Bananen auf den Brasilianer Roberto Carlos warfen, der für den Verein »Anschi« aus der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala spielte (s. S. Borden). Dieser Rassismus ist Teil eines Protests gegen gesellschaftliche Modernisierung und alles, was diese mit sich bringt.
Weitere Fälle kulturellen Widerstands
In der Geschichte des europäischen Fußballs gibt es eine Vielzahl von Mannschaften, die als Basis für eine politisierte kollektive Identifizierung breiterer Bevölkerungsschichten gedient hat. In Spanien waren unter Franco beispielsweise nationalistische Bekundungen der Katalanen ausdrücklich verboten und konnten heftige Strafen nach sich ziehen. Unterstützung für das Team von Barcelona wurde zur Ersatzhandlung für katalanische nationalistische Stimmungen und sorgte dafür, dass antihegemoniale Narrative überlebten und reproduziert werden konnten. In einem ähnlichen Fall haben alle Bemühungen der schottischen Behörden es nicht vermocht, die konfessionelle Trennung zwischen den Glasgower Clubs »Celtic« (Katholiken) und »Rangers« (Protestanten) zu beseitigen: Die Derbys der beiden Teams gerieten zu einem fast ritualhaften Anlass, um alte Rivalitäten wieder aufleben zu lassen, wie Franklin Foer 2004 ausführte. In allen diesen Fällen diente Fußball als Instrument, das soziale Trennlinien und Identitäten aufrecht hielt – ungeachtet externer, »feindlicher« Narrative, die gleichzeitig bestanden.
Auch in der Sowjetunion, in der ebenfalls Nationalismus offiziell als gefährlich für die Integrität des Staates eingestuft wurde, fungierten Fußballvereine als Sammelpunkt nationalistischer Stimmungen. Karl Manuel Veth hat 2015 dokumentiert, wie die Unterstützung für die wichtigsten Mannschaften in den Unionsrepubliken als Ersatz für den Geist des Nationalismus fungierte. So wurde der Kiewer Verein »Dynamo« in den 1960er Jahren ein Wahrzeichen ukrainischer nationaler Identität, derer dann im Stadion gehuldigt wurde. Die Stadien stellten einen sicheren Raum dar, in dem Protonationalismus seinen Ausdruck finden konnte, da »in deren Rund regionale Identitäten ohne Furcht vor Repressionen gezeigt werden konnten« (s. i.d. Lesetipps Veth, S. 28). In Armenien integrierte der Erewaner Verein »Ararat« nationalistische Symbole in sein Wappen und diente somit ersatzweise der Repräsentation eines (verweigerten) Nationalstaates. Der frühere Generalsekretär des Armenische Fußballverbandes Pawel Chatschatrjan meinte: »nachdem Armenien 1992 die Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangt hatte, waren die Feiern zwar leidenschaftlich, allerdings nicht so leidenschaftlich wie 1973, als ›Ararat‹ sowjetischer Meister wurde« (S. 193). Ähnlich verhielt es sich mit »Dynamo« Tbilissi, einer georgischen Spitzenmannschaft der sowjetischen Liga. In den genannten Fällen dienten die Fußballmannschaften als Symbol für die jeweiligen Gemeinschaften und bildeten somit Bastionen kulturellen Widerstandes.
Die Skinhead-Bewegung in Großbritannien hatte sich zwar anfangs mit Einwanderern aus den früheren Kolonien identifiziert, doch wurde sie bald von rassistischen Elementen aus der »National Front« und anderen White Power-Organisationen unterwandert. Diese Gruppen versuchten in den 1980er und 1990er Jahren, neue Leute von den Fußballtribünen zu rekrutieren, und waren im Falle von »Chelsea« und einigen anderen Vereinen recht erfolgreich. Das üble Verhalten englischer Fans wurde in ganz Europa zur Legende und es gab eine Reihe von Momenten, in denen es durchaus möglich schien, dass die Nationalmannschaft Englands von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen wird. In dem Maße, in dem als Symbol für sozialen Wandel die zunehmend multikulturelle Gesellschaft stand, konnten migrantenfeindliche Aktionen englischer Fans als ein Vorgehen betrachtet werden, das mit dem Konzept kulturellen Widerstands im Einklang stand. Es könnte wohl ein in diesem Sinne verstandenes Bild der britischen Hooligan-Szene sein, mit dem sich russische Fans identifizieren, wenn sie britischer Kultur und Mode nacheifern. Zu erkennen ist dies an der Darstellung riesiger weißer Skinheads mit Schlagringen auf dem Union Jack, wie sie in der Werbung für Läden mit Ultras und Hooligans als Zielgruppe verwendet werden.
Schlussfolgerungen
Zur Erklärung der Verbindung zwischen Fußballfans und Skinheads in Russland muss recht weit in die Geschichte zurückgegriffen werden: Die abrupte Liberalisierung der Wirtschaft in Russland in den 1990er Jahren und die Aufhebung der Beschränkungen für Migration haben dazu geführt, dass Widerstandsbewegungen entstehen, und zwar in Form von entfremdeten Jugendgruppen wie den Skinheads, die sich einen großen Teil des Stils und Gebarens ihrer westlichen Entsprechungen zu eigen machten. Skinheads versuchten in Russland wie im Westen als Träger einer Kultur der Arbeiterklasse ihre Gemeinschaften gegenüber der Bedrohung durch Modernisierung zu verteidigen, die wiederum vermeintlich durch den eingewanderten Anderen symbolisiert wird. Wie übel uns auch diese Idee vorkommen mag: Die Skinheads sehen sich als Verteidiger traditioneller Kultur. Angesichts der staatlichen Repressionen gegen die russische Skinhead-Bewegung ist die Subkultur der Fußballfans zu einem der wichtigsten Räume geworden, in dem Widerstand gegen Multikulturalismus und den durch Migranten symbolisierten gesellschaftlichen Wandel Ausdruck verliehen werden kann.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder