Zwei für ein ganzes Land
Alexander Pluschtschew, Journalist (Moskau)
»In Russland gibt es im Grunde nur zwei Politiker von landesweiter Bedeutung, die ihre Präsidentschafts-Ambitionen angekündigt haben, und die in der Lage sind, auf ehrliche Weise Unterschriften für die Registrierung als Präsidentschaftskandidat zu sammeln. Ich müsste in diesem Text ihre Namen nicht nennen – Sie würden sie ohne großes Nachdenken kennen. Deswegen nenne ich sie erst aus praktischen Gründen: Wenn von Präsidentschaftskandidaten die Rede sein soll, die tatsächlich vom Volk unterstützt werden, so sind das Wladimir Putin, der bei den Wahlen, den Medien zufolge, als unabhängiger Kandidat antreten dürfte, und Alexej Nawlanyj, der seinen Wahlkampf schon ziemlich lange führt.
Und in der Tat, wer wäre da eigentlich sonst noch? Der selbst in der eigenen Partei wenig populäre Gennadij Sjuganow? Der greis und klapprig geworden Wladimir Schirinowskij? Sergej Mironow, der schon mal Arthritis und Street-Art verwechselt? […] Theoretisch könnten Ramsan Kadyrow oder Jewgenij Roisman mit einer Unterstützung aus dem Volk aufwarten – keiner der beiden hat aber bisher Ansprüche auf das höchste Staatsamt auch nur angedeutet. […]
Zwei echte Politiker – ist das viel oder wenig? Unter normalen Bedingungen eines politischen Raums mit Wettbewerb ist das in einem Land mit 140 Millionen Einwohnern inakzeptabel und beschämend wenig. In den Realitäten einer Autokratie, in der eine jede auch nur annähernd politische Aktivität mit dem Regime abgestimmt werden muss, ist das unglaublich viel. Es ist zumindest doppelt so viel wie das, was wir in den letzten Jahren zu sehen bekamen. So sehr man versucht hat, die politische Bühne plattzuwalzen– es sprießt Konkurrenz, und sei es nur mit Müh und Not und nur mit einem Trieb. […]«
Alexander Pljuschtschew am 6. Juli 2017 auf »DW.de«
Guter Nawalnyj, verschwundener Nawalnyj
Alexander Gornyj, Blogger (Krim)
»Möge Gott Alexej und seinen Angehörigen Gesundheit und viele Jahre schenken. Für etliche im Kreml aber, für die Mehrheit in der Duma, die Opposition und die Patrioten wäre es der Idealfall, wenn Nawalnyj plötzlich verschwände. Ganz gleich wohin, Hauptsache: wie vom Erdboden verschluckt.
Das Kräftegleichgewicht, das jahrelang geschmiedet wurde, ist gestört. Die permanent halbtote Opposition musste unerwartet erkennen, dass sie außen vor ist, während Nawlanyj mit dem Schwert zu Ross sitzt und lauthals durch das Sprachrohr Internet schreit. Er wird gehört, man hört ihm zu und die Jungen folgen ihm auf die Barrikaden – und ein Teil der kreativen Klasse, der Mittelschicht, die keinen Bock mehr auf totales »EinigRussland« haben und die es satt haben, bei den Wahlen keinen eigenen realen Kandidaten zu sehen.
Ich finde es sympathisch, wie Nawalnyj diesen dreist gewordenen Sumpf aufmischt. Er scheut nicht den Kampf, er schreit laut und trifft ins Ziel, etwas aber fehlt noch. Was, bitte schön, ist er für ein Präsidentschaftskandidat? Ihm fehlt der Glanz, die Erfahrung, das politische Gewicht (das man auf den Barrikaden allein nicht gewinnen kann). Er ist aber in viel besserer Form als unsere verkrachte Opposition mit ihren ewig nölenden und nörgelnden vorgeblichen Oppositionellen. Das ist keine Opposition, sondern ein Klub zur Selbstbefriedigung je nach Interessen.
Der Olymp aber hat Angst vor ihm; er geht den Göttern auf die Nerven, er hat sie gezwungen, ihre grauen Zellen anzustrengen. Sie würden ihn gern ignorieren, aber das gelingt nicht. Er soll kaltgestellt werden; man versucht, ihn als Kleinkriminellen hinzustellen – als Dummschwätzer, der die Leute nur über den Tisch zieht. Sein Name darf nicht laut genannt werden und wird in hohen Machtetagen, zumindest offiziell, demonstrativ geschmäht. Gegen ihn werden wildgewordene Weiber und Rentner aufgehetzt, seine Wahlstäbe werden hopps genommen; und Hunderte seiner Anhänger werden festgenommen und verhört, um merkwürdige Aussagen und Geständnisse aus ihnen herauszuholen. […]
Vor wenigen Tagen habe ich mit einigen Leuten aus verschiedensten föderalen Einrichtungen gesprochen. Die finden ihn also ganz normal. Es gibt natürlich Meinungen, dass er ein gekaufter amerikanischer Spion sei, aber die meisten sind sich einig, dass es an der Zeit ist, den dummdreisten vollgefressenen Katern mal in den Arsch zu treten. Es sieht also so aus, dass alle sehr wohl verstehen, worum es bei Nawalnyj geht, aber sie sind genötigt, schön ins Horn zu blasen und können nur die Stirn runzeln… Interessant ist, dass meine hochrangige Gesprächspartner regelmäßig in die liberalen Medien schauen und nur sehr selten in die offiziellen. Zum Fernsehen sag ich lieber nichts. […]
Ob ich bereit bin, Nawlanyj zu unterstützen? Ja, weil er einen sehr mächtigen Katalysator für Veränderungen darstellt, ohne die Mütterchen Russland wieder in dem Sumpf versinken könnte, der uns schon von allen Seiten bis zum Hals steht. Zum Präsidenten hat Alexej längst noch nicht das Format, zum Staatsanwalt aber durchaus.«
Alexander Gornyj am 14. Juli 2017 bei »Echo Moskwy«
Was Putin mit Nawalnyj machen wird?
Kirill Rogow, Publizist (Moskau)
»[…] Ein Szenario, bei dem Nawalnyj zu den Wahlen zugelassen wird, ist höchst unwahrscheinlich. Sollte man denken. Denn Meinungsumfragen zufolge erscheint die Führerschaft Putins in der öffentlichen Meinung absolut felsenfest. Ihn hatten noch im Januar 2017 mehr als 60 % wählen wollen, im Juni wollten ihn 66 % als Präsidenten sehen. Warum denn nicht die medial-soziologische Dominanz in politische Wirklichkeit konvertieren, indem Putin gegen Nawalnyj bei Wahlen gewinnt (die auf keinen Fall fair sein werden, dafür aber wenigstens eine gewisse Spannung bieten würden?
Die Antwort auf diese Frage ist wichtig, um die Mechanismen autoritärer Dominanz zu verstehen. Die medial-soziologische Überlegenheit Putins spiegelt eigentlich weniger eine reale Unterstützung, sondern vielmehr eine Art Lähmung des gesellschaftlichen und politischen Willens wider. Wenn die politische Lage aus irgendeinem Grund in den Konkurrenzmodus wechselt, kann es zu ziemlich unabsehbaren Folgen führen. Es geht nicht darum, dass Nawalnyj gewinnen könnte. Der Prozess eines Wettbewerbs würde jenes Bild eines konsensgetragenen, alternativlosen, die politische Landschaft dominierenden »Vater des Vaterlandes« untergraben, das heute das Kapital des Politikers Putin darstellt.
Die Hauptgefahr, die von Nawanlnyj ausgeht, ist seine elektorale Unberechenbarkeit. Diese Fähigkeit hat Nawalnyj während der [Moskauer] Bürgermeisterwahlen 2013 demonstriert, als er (trotz der beschnittenen Wahlkampagne) ein Ergebnis erzielte, das mindestens um zweifache die Prognosen der Umfrageinstitute überstieg. Dieses Ergebnis war wie ein Schlag ins Kontor für das gewohnte trostlose Bild der medial-soziologischen Dominanz des Regimes. Putin selbst musste damals diesen Effekt damit erklären, dass Sobjanin in der öffentlichen Politik unerfahren sei. Wie soll er dann einen solchen Fall erklären, wenn es um ihn selbst geht? […]«
Kirill Rogow am 17. Juli 2017 bei »Republic«
Gibt es ein Szenario von Präsidentschaftswahlen, in dem Nawalnyj einen Platz fände?
Alexander Kynew, Politologe (Moskau)
»Hypothetisch ja, in der Realität ist es aber kaum denkbar. Ich denke, Nawalnyj geht hier mit Blick auf die entferntere Zukunft vor – es geht um die Jahre 2021, 2024 usw. Das heißt, es geht um den Wunsch, sich im politischen Bewusstsein, in der politischen Elite auf eine Art festzusetzen, dass man ihn nicht mehr ignorieren kann. Denn weil das politische System, die politischen Parteien zum Großteil künstlich aufrechterhalten werden, wird das Regime unweigerlich die Frage eines Resets des Parteiensystems angehen und muss dann früher oder später die Stimmungen in der Gesellschaft berücksichtigen. Ich denke, das ist das, womit Nawalnyj rechnet: dass er in absehbarer Zeit die Führung in einer der wichtigen Partei beanspruchen kann. […]«
Alexander Kynew am 6. Juli 2017 im Interview mit »Radio Swoboda«
Angst vor den Neunzigern
Boris Akunin, Schriftsteller (Paris)
»Gestern habe ich Vertreter der »86 %« gebeten, deutlich zu erklären, warum ihnen das herrschende Regime gefällt. […]
Die angeführten Argumente kann man grob zu zwei Hauptpunkten zusammenfassen:
Unter Putin leben wir viel besser als in den 1990er Jahren unter den Liberalen.Wenn Putin geht, kommen die Liberalen wieder an die Macht und es wird wieder wie in den Neunzigern.
Am meisten hat mich überrascht, dass die am ehesten zu erwartende Antwort (»Ja, uns geht es beschissen, dafür fühlen wir uns dank Putin wieder als Bürger einer Großmacht«) selten abgegeben wurde.
Vorgestern erklärte Michail Zygar auf einer gemeinsamen Veranstaltung in der Britischen Bibliothek den Engländern das »Phänomen 86 %« folgenderweise: Die Unterstützung Putins basiert darauf, dass er der Bevölkerung zunächst eine Erhöhung des Wohlstands im Tausch gegen einen Verzicht auf bürgerliche Freiheiten vorschlug, und als der Lebensstandard dann zu sinken begann, schlug er etwas neues, sehr viel wirksameres zum Tausch vor – Nationalstolz.
Unseren Kommentaren zufolge ist das nicht gelungen, und das ist wohl ein erfreuliches Ergebnis. Die Argumentation »Aber dafür ist die Krim unser« und »Aber dafür haben alle Angst vor uns« blitzten ab und zu auf, waren aber nicht wetterentscheidend. Das Bild, dass die Russen flächendeckend von einem Großmacht-Syndrom erfasst sind, ist wohl übertrieben.
Boris Akunin am 15. Juli 2017 auf Facebook
Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin
(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)