Neues politisches Regime
Das heutige politische Regime in Russland, das sich als »sultanistisch« bezeichnen lässt, unterscheidet sich wesentlich von jenem, das noch vor fünf Jahren, zu Beginn der derzeitigen Präsidentschaft Putins Bestand hatte. Die markante Transformation des Regimes, die sich allmählich angebahnt hatte, erfolgte im Jahr 2014 mit der Einnahme der Krim und dem Übergang zu einer heftigen Konfrontation mit dem Westen. Der Wechsel zu einer neuen, nicht mehr elektoralen, sondern nun militärisch und durch die Führerpersönlichkeit begründeten Legitimation, hat Wladimir Putin einen steilen Anstieg der Umfragewerte bis auf 86 Prozent und allen Institutionen (dem Parlament, der Regierung usw.) einen Vertrauensgewinn eingetragen. Während das Vertrauen letzterer wieder auf das Niveau »vor der Krim« abgesunken ist, bleibt die Unterstützung für Putins seit 2014 nahezu unverändert (s. Grafiken 2 und 3 auf S. 15). Angesichts dieser neuen Legitimität, die nun vom (An)Führer (russ.: »lider«) auf alle übrigen politischen Akteure ausstrahlt, ist die Abhängigkeit der politischen Eliten von Putin erheblich gestiegen. Dessen Abhängigkeit von den Eliten wiederum hat sich drastisch verringert. Der lider braucht die Eliten nicht mehr, um bei Wahlen die nötigen Stimmen zu erhalten, während die Gouverneure heute nicht deshalb Legitimität genießen, weil die Bürger ihnen ihre Stimme geben, sondern weil Putin sie zuvor ernannt und anschließend unterstützt hat. Das Regime braucht also keine Wahlen, um seine Legitimität aufrecht zu erhalten. Es gibt seit dem Herbst 2014 immer weniger Wahlen (so gibt es praktisch keine direkten Bürgermeisterwahlen mehr), und die Wahlen, die noch stattfinden, erfolgen ohne viel Aufmerksamkeit und bei schwacher Konkurrenz und niedriger Wahlbeteiligung. Das gilt auch für die jüngsten Dumawahlen 2016. Angesichts des zunehmend personalistischen Regimes erfolgte eine weitere Schwächung der ohnehin schwachen Institutionen – der Judikative, der lokalen Selbstverwaltung, der Wahlen. Durch die zunehmende Zentralisierung reduziert sich die Anzahl relativ unabhängiger Einflusszentren. Wenn Russland, das einst eine Föderation seiner Regionen gewesen ist, unlängst noch als Föderation der Korporationen (von FSB bis Gazprom) bezeichnet werden konnte, so stellt es jetzt einen überzentralisierten Staat mit einem einzigen Mittelpunkt in Gestalt des Präsidenten und (An)Führers dar.
Das Land ist jetzt Gefangener des Regimes, das Regime ist ein Gefangener Putins und Putin ist ein Gefangener seiner 2014 getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen. In diesem Sinne hat Wjatscheslaw Wolodin, bis vor Kurzem Erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration und seit September 2016 Vorsitzender der Staatsduma, absolut Recht: »gibt es Putin, gibt es auch Russland; gibt es keinen Putin, gibt es auch kein Russland« (23.10.2014).
Legitimitätskrise und mögliche Auswege
Es wird angenommen, dass der wichtigste Anstoß zur Transformation des politischen Regimes durch die massiven Proteste am 6. Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz erfolgte. Sie hatten gezeigt, dass die mit großer Anstrengung gewonnenen Präsidentschaftswahlen vom März 2012 die Legitimitätskrise, die im September 2011 mit der Ankündigung einer Rückkehr Putins auf den Präsidentenposten akut geworden war, nicht hatten beseitigen können (s. Grafiken 2 und 3 auf S. 15). Das war die Zeit, als der Kreml Kurs auf eine Konfrontation mit dem Westen und eine gewisse Selbstisolierung nahm. Dieser Kurs erforderte eine gewisse Vorbereitung, vor allem in Form einer »Nationalisierung« und verstärkten Kontrolle über die Eliten, um deren Spaltung und einen »Verrat« ihrerseits zu verhindern. Zugleich wurde damit begonnen, eine mächtige Propagandamaschine aufzubauen und Teile der organisierten Zivilgesellschaft, die dem Regime nicht vollständig loyal gegenüberstehen, zu unterdrücken. Obgleich der Übergang zu einer Konfrontation mit dem Westen ab Mitte 2012 praktisch unausweichlich war, hätte er andere Formen annehmen können – ohne die Ukraine und die Krim.
Das Problem der führerbasierten Legitimität besteht darin, dass für deren Aufrechterhaltung sowohl die Wahrnehmung einer äußeren Bedrohung und die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses um den Anführer erforderlich ist. Zudem muss der Anführer seine Effizienz demonstrieren. Eine einfache Rückkehr zu einer elektoralen Legitimität, indem er etwa 2018 mit dem gleichen Ergebnis wie 2012 gewänne (mit 63,6 Prozent bei 65 Prozent Wahlbeteiligung) kann Putin nicht unternehmen, da er dann nicht als starker Führer wahrgenommen würde, sondern als ein schwacher lider. Mehr noch: Für ihn wäre schon eine bei den Wahlen mögliche öffentliche Kritik an ihm selbst und seinem Kurs verheerend. Einen Wahlsieg wie in Zentralasien zu organisieren, ist der Kreml bei allen Anstrengungen nicht in der Lage, außer vielleicht in einigen Regionen, in denen die politischen Maschinen noch intakt sind. Es ergibt sich eine Legitimitätsfalle: Zur Aufrechterhaltung einer führerbasierten Legitimität fehlen die Kräfte, eine einfache Rückkehr zu einer elektoralen Legitimität dürfte ebenfalls kaum gelingen, weil eine Führer-Legitimität stets stärker ist, als eine elektorale. Hier sind zwei Auswege möglich: Putin könnte nicht selbst bei den Wahlen antreten, sondern jemand anderes aufstellen und selbst die Rolle eines informellen Führers nach dem Vorbild Deng Xiao Ping übernehmen. Oder er verwandelt die Wahlen in ein Plebiszit, zu dem er ein starkes, attraktives Programm vorlegt und für das er in der Gesellschaft die Wahrnehmung einer fürchterlichen Gefahr erzeugt oder aber – andersherum – das Bild eines Retters in dieser Gefahr einsetzt. Die erste Variante ist problematisch, weil hierzu Erfahrung und Tradition fehlen. Es bleiben zwei plebiszitäre Grundmodelle: Ein Ende der Konfrontation mit dem Westen und die Umsetzung wirksamer Wirtschaftsreformen, oder aber ein verstärkter Einsatz der Rhetorik von einer »belagerten Festung«, was heute realistischer erscheint.
Eliten – Erneuerung und Neukonfigurierung
In den vergangenen zwei Jahren hat es eine erhebliche Erneuerung und Verjüngung der herrschenden Eliten gegeben, einen Generationswechsel. Dabei geht es weniger um die Leute an der Spitze, als um einen Wechsel der Teams. Auch die allgemeine Konstellation hat sich verändert: Wenn früher von einem »Sonnensystem«, einem »Putinschen Politbüro« oder von »Russland als Korporation« gesprochen werden konnte, so haben wir es jetzt mit dem Modell eines Zarenhofes zu tun. Gleichzeitig erfolgte nach der Schwächung der Regionen auch eine Schwächung oder gar Zerstörung der politischen Maschinen der Korporationen.
Gegenwärtig erfolgt gleichsam eine Rückwende: Die Schwergewichte der Korporationen, hinter denen jeweils ein eigenes Netz von Verbündeten und Klientelen steht, treten ab. Sie werden von einer stärker atomisierten Menge von Verwaltungsfachleuten abgelöst. Dadurch ändert sich nicht nur die personelle Zusammensetzung der Eliten, sondern auch die gesamte Konstellation dort. Gleichzeitig forciert die Regimespitze den Generationswechsel in den Eliten.
Das unter Putin entstandene staatliche Verwaltungssystem lässt sich als Nomenklatursystem bezeichnen: Im Unterschied zum sowjetischen System, bei dem die Organisationsabteilung des ZK der KPdSU die Hauptrolle bei der Personalbildung inne hatte, spielen in Putins System die Tschekisten die größte Rolle. Dieses System verfügt über raffinierte Kontrollpraktiken, allerdings ohne das Personal massenhaft auszusieben und aufzubauen. Es ist durch eine geringer formalisierte Institutionalisierung und das Fehlen einer »kollektiven Führung« gekennzeichnet. Es ist dadurch nicht zur Reproduktion fähig und wird den eigenen Anführer nicht überleben können, ohne einen umfassenden Wandel zu durchlaufen.
Die Personalrevolution von 2016 zeigt, dass Putin zwar in der Lage ist, die Probleme des Systems anzugehen, dass er jedoch kein System aufbauen kann, das die Probleme selbst lösen würde. Die Verjüngung der Elite wurde jedoch mit dem Einsatz von Zusatzkräften vollzogen, und nicht durch Nachwuchsarbeit. Dadurch bietet diese Ressource des Systems mehr Rückhalt, allerdings nur auf begrenzte Zeit.
Die gesamte institutionelle Gestaltung des Systems ist auf einen Zustand der Ruhe zugeschnitten, nicht auf Bewegung. Für Bewegung fehlt es an Repräsentationsformaten und an einem Interessensausgleich, sowohl hinsichtlich der Regionen wie auch der Korporationen. Kein politisches System kann lange ohne tragende Elemente in Form von formalen und informellen Institutionen – auch Spielregeln – bestehen. Es ist zu erwarten, dass Russland in der näheren Zukunft eine Re-Institutionalisierung bevorsteht – und die Etablierung neuer Spielregeln.
Ein solche Re-Institutionalisierung könnte zur Stärkung des derzeitigen Neo-Nomenklatursystems führen (mit einer größeren Annäherung an das sowjetische Modell, einschließlich Repressionen, um die Reproduktion des Personals zu gewährleisten), aber auch zu dessen Zerfall. Im ersten Fall wäre eine striktere Besetzung der Nomenklaturposten mit Leuten vonnöten, die zur »Präsidentenvertikale« gehören (einschließlich der Präsidialadministration, der Präsidialbevollmächtigten in den Föderalbezirken und der Kollegien der Föderalbehörden in den Regionen). Darüber hinaus wäre der Aufbau eines effizienten Systems zur Auswahl und Ausbildung des Personals erforderlich, etwa auf Basis von parteiinternen Wahlen auf den unterschiedlichen Ebenen von »Einiges Russland«.
In den Jahren 2015 und 2016 hat ein drastischer Wechsel der Figuren stattgefunden, bei dem eine Reihe wichtiger (Sub-)Patrone und zentraler Vertreter Putins in der staatlichen Pyramide abgesetzt oder versetzt wurden (z. B. W. Koschin, W. Jakunin, A. Beljaninow, Je. Murow, V. Iwanow, S. Iwanow, W. Wolodin, S. Naryschkin). Auf deren Posten rückten nun meist Figuren anderen Kalibers nach – Außenstehende, Leute von zwei, drei Ebenen niedriger –, die somit über wenig Einfluss und keine eigenen Klientele verfügen. Im Grunde wurde die zweite Etage der Pyramide aufgelöst und deren Monozentriertheit verstärkt.
Schwächung der Institutionen
Die Verstärkung des personalistischen Charakters des Regimes ging mit einer weiteren Schwächung der ohnehin schwachen Institutionen und der Schaffung von Substituten einher, von funktional analogen Institutionen, die in der Regel über keine eigenständige Legitimität und keine unmittelbaren Wirkungsmöglichkeiten verfügen. Betroffen waren – neben der Judikative – vor allem die lokale Selbstverwaltung, die Wahlen und die politischen Parteien. Auch die Rolle der Regierung, eine demonstrativ technische, ist geschrumpft. Das wurde beispielsweise durch die Verhaftung des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung A. Uljukajew im November 2016 deutlich, der in der Konfrontation mit Rosneft unter I. Setschin glatt unterlegen war.
Lokale Selbstverwaltung
Durch eine Reihe von administrativen Umgestaltungen in letzter Zeit und besonders die Gegenreform von 2014/15 ist die lokale Selbstverwaltung praktisch demontiert worden. Als die Zentralregierung das Beziehungsgleichgewicht mit den Regionen zu ihren Gunsten verschob, ließ sie letzteren freie Hand gegenüber der lokalen Selbstverwaltung. Die Möglichkeiten der Regionalregierungen, die Struktur und die Wahl der Kommunalräte und -verwaltungen ohne deren Zustimmung festzulegen, haben sich erweitert und werden von den Gouverneuren immer stärker genutzt. Durch die Regionen schwappte eine ganze Welle von Fällen, in denen die Satzungen der Kommunen verändert und die durch Gouverneurskommissionen ernannten City-Manager zu alleinigen Oberhäupter der Kommunen gemacht wurden. Mitte 2017 gab es in nur acht regionalen Hauptstädten noch eine Direktwahl des Bürgermeisters (in 8 weiteren wird es nur noch für die aktuelle Amtszeit einen direkt gewählten Bürgermeister geben). In den letzten Jahren waren die Bürgermeister einem heftigen Druck von Seiten der Silowiki (FSB, Polizei, Justiz) ausgesetzt. In einer der erwähnten acht Regionen sitzt der Bürgermeister in Untersuchungshaft (Wladiwostok), in einer anderen wurde er vor kurzem zu 12,5 Jahren Freiheitsentzug verurteilt (Jaroslawl). Darüber hinaus läuft derzeit ein intensiver Prozess, bei dem die Kommunen vergrößert und zunehmend in die Vertikale der staatlichen Verwaltung eingegliedert werden.
Wahlen und politische Parteien
Die Besetzung der Wahlkommissionen befindet sich nahezu vollständig unter der Kontrolle der Exekutive; seit 2014 verfügen die Regionalregierungen über fast uneingeschränkte Möglichkeiten, den Zugang möglicher Kandidaten zu Wahlen zu regulieren, sowohl bei regionalen Parlamentswahlen, wie auch bei Wahlen der Kommunalräte.
Von den nach der politischen Reform von 2012 bestehenden 85 registrierten Parteien sind nur ein Dutzend bei Wahlen aktiv. Die Partei der Macht »Einiges Russland« braucht derzeit keine der drei Duma-Parteien der »Systemopposition« als Juniorpartner für eine qualifizierte Mehrheit. Nicht »Einiges Russland« bildet das Regime, sondern das Regime nutzt die Partei als eine Art Vehikel, als Schnittstelle. Bei Wahlen wird auf allen Ebenen zunehmend das Mehrheitswahlrecht zugelassen und angewandt, was den Einfluss der Administrationen auf die Zusammensetzung der entsprechenden Parlamente und Räte erhöht. Die Tätigkeit »nichtsystemischer« Parteien und der Opposition ist praktisch verboten oder höchst eingeschränkt. Angesichts der drastisch beschnittenen Räume für öffentliche Politik werden politische Parteiprojekte wieder aufgelöst, Gleichzeitig erfolgt ein Verfall ausnahmslos aller Parteien, die auf der politischen Bühne verblieben sind. Das Paradoxe besteht darin, dass der Kreml, obwohl er den Druck auf die legalen Parteien verstärkte und der Partei Alexej Nawalnyjs die offizielle Registrierung verweigerte, nichts dagegen ausrichten konnte, dass Nawalnyj in den Regionen ohne offizielle Gründung einer Partei eine beträchtliche Infrastruktur aufbauen konnte (Bis zum 27. 06. 2017 sind in 52 (von 77 geplanten) Städten Wahlkampfstäbe für Nawalnyj geschaffen worden; es gibt über 50.000 freiwillige Aktivisten und über eine halbe Million Unterschriften für eine Präsidentschaftskandidatur Nawalnyjs; <https://navalny.com/p/5442/>).
Als ein gutes Beispiel für institutionelle Substitute kann die Art und Weise dienen, in der Kandidaten bei der Welle der Ernennung neuer geschäftsführender Gouverneure Anfang 2017 auf der Basis des Profils eines »idealen Gouverneurs« und eines Bedarfsmodells der Region ausgewählt wurden: Der innenpolitische Block im Kreml hatte zunächst das allgemeine Profil eines »idealen Gouverneurs« erstellt; als Basis dienten die Profile der Oberhäupter der Gebiete Kaluga, Tjumen und Belgorod sowie der Stadt Moskau und der Republik Tatarstan. Anschließend wurden die besonderen Präferenzen in der jeweiligen Region ermittelt (z. B., ob man dort einen Auswärtigen – einen »Waräger« – akzeptieren würde, oder einen Silowik). Dann wurden über ein kompliziertes Testverfahren potentielle Kandidaten aus der Personalreserve ausgewählt und dem Präsidenten 5–7 Kandidaten pro Region vorgeschlagen, unter denen dieser dann abschließend den passenden zu bestimmen hatte (<http://www.rbc.ru/politics/17/02/2017/58a6ea529a79477d23669cfe>).
Praktiken
Die politische Situation in Russland und deren Entwicklungsperspektiven sind nur schwer zu verstehen, wenn allein die Institutionen (Exekutive, Judikative, Vertretungsorgane, Parteien, Wahlsystem usw.) betrachtet werden. Die Art, wie diese Institutionen funktionieren, und wer oder war an ihrer Stelle tätig wird, wenn sie schlecht funktionieren, lässt sich anhand einer Analyse der herrschenden Praktiken nachvollziehen.
Konflikte und Entscheidungen
Das politische System in Russland ist höchst konfliktreich – und das seit jüngster Zeit in zunehmendem Maße. Es bestehen Konflikte in der Horizontalen und entlang der Vertikale (einschließlich der lokalen Selbstverwaltung).
Da der zu verteilende Renten-Kuchen immer kleiner wird, werden die Konflikte innerhalb der Elite intensiver. Das bestehende System, das auf einem ständigen Zuwachs dieses Kuchens beruht, verfügt über keine integralen Mechanismen zur Verteilung des Eigentums und der Einnahmen; verteilt wird derzeit initiativ und per Handsteuerung. Der Zwang zum schnellen Reagieren und zu Entscheidungen, wenn Mechanismen zum Interessenausgleich zwischen den Elitegruppen fehlen, führt immer häufiger zu einem einseitigen Vorgehen der einzelnen Clans in der Elite. Die innerelitären Konflikte geraten außerdem immer öfter zu öffentlichen Auseinandersetzungen, wie etwa dem heftigen Konflikt im März und April 2015 zwischen der FSB-Führung und dem Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow. Dieser stellt im Grunde eine eigenständige Sicherheits- und Machtstruktur dar. Zu nennen sind auch die Attacken der Silowiki gegen regionale Eliten (siehe die oben erwähnten sowie andere Verhaftungen).
Auch zwischen den einzelnen Silowiki-Korporationen werden die Konflikte schärfer (etwa zwischen FSB und Strafermittlungskomitee SKR einerseits und dem Innenministerium andererseits sowie zwischen SKR und der Generalstaatsanwaltschaft). Die Expansion des FSB und des Föderalen Wachdienstes (FSO) ist ebenfalls auf eine Reihe von Konflikten zurückzuführen.
Entscheidungen
Alle irgendwie bedeutsamen Entscheidungen werden entweder persönlich von Wladimir Putin oder in Abstimmung mit ihm getroffen. Weder das Eine, noch das Andere bedeutet im Übrigen eine Leichtigkeit oder Eindeutigkeit. Es fehlen Formate zum zeitnahen Ausgleich der Interessen zwischen den Elitegruppen. Daher gibt es praktisch kaum Fälle, in denen wichtige Entscheidungen, die die Interessen unterschiedlicher Elitegruppen oder -clans berühren, ein für alle Mal getroffen werden. Entscheidungen werden verkündet, werden revidiert, werden wieder aufgehoben, und es werden die Fristen zur Umsetzung verschoben. Personal- und Strukturentscheidungen hingegen können im Modus von »Spezialoperationen« getroffen und umgesetzt werden. Als Nutznießer können unterschiedliche Korporationen und Elitengruppen in Erscheinung treten, dies allerdings immer der Reihe nach, sonst würde sich das allgemeine Kräftegleichgewicht verändern.
Es gibt zwei Ausnahmen: Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt der Republik Tschetschenien, und Igor Setschin, Vorsitzender des Direktorenrates von »Rosneft«, die systematisch gewinnen.
Repressionen
Repressionen werden nicht mehr nur punktuell eingesetzt, sondern immer breiter. Anfänglich richteten sie sich gegen Teilnehmer der Proteste 2012 auf dem Bolotnaja-Platz, später wurden sie dann auch gegen Eliten eingesetzt. Die Repressionen nehmen in ihrer Breite und Tiefe zu; es sind immer höhere Ränge betroffen. Solche »Geiselnahmen« hatte es bereits 2007 gegeben, als der stellvertretende Finanzminister Stortschak und der General der Drogenaufsicht »Gosnarkokontrol«, Bulbow, verhaftet wurden. Zur Risikogruppe gehörten zunächst die Bürgermeister, dann die Vizegouverneure und (seit 2015) auch Gouverneure.
Im Grunde genommen lassen sich die Eliten in eine Opritschnina und eine Semschtschina teilen. <Opritschnina und Semschtschina waren, als sie unter Iwan dem Schrecklichen eingeführt wurden, zwei Teile des integralen Territoriums. Die Erstere, zu dem die strategisch und wirtschaftlich besten Ländereien gehörten, unterstand ausschließlich dem Herrscher. Die Opritschniki setzten die Politik Iwans um: Sie zogen Steuern ein und hüteten die Ordnung. In der Semschtschina fungierten noch die Bojarnduma und die Prikasy (Ämter).> Die Repressionen durch die Opritschnina erfüllen eine Reihe Funktionen: Einschüchterung, Kontrolle über die Elite und Gewährleistung der vertikalen Mobilität. Der repressive Charakter des Regimes wird stärker, wobei das Drehen an der Repressionsspirale automatisch, intuitiv erfolgt, ohne zusätzliche Anweisungen oder Anstrengungen (ganz wie bei den Wahlmanipulationen).
Balance innerhalb der Eliten
Das von institutionellen Checks and Balances befreite System hat sich mit quasi-Checks and Balances ausgestattet, die auch aktiv eingesetzt werden.
Alle gravierenden Änderungen, auch Personaländerungen, müssen in ihrer Gesamtheit sowie mit ihrer Vorgeschichte und den Folgen betrachtet werden. Gelenkte Konflikte gibt es nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Korporationen (zw. Leiter und erstem Stellvertreter), und das von der Präsidialadministration über den FSB bis hin zur letzten Staatskorporation. Zunächst bestehen, grob gefasst, zwei Megakorporationen, die »Silowiki« und die »Liberalen«, dann gibt es die Behörden innerhalb der Korporation namens »Silowiki« mit ihrer Konkurrenz untereinander: FSB und »Gosnarkokontrol«, FSB und Innenministerium, Strafermittlungskomitee und Generalstaatsanwaltschaft usw. Die Silowiki, die 2014/15 eine extreme Stärkung erfuhren, erlebten 2016 eine umfassende Neuformatierung, die wieder zu einer Schwächung der Korporation insgesamt wie auch jeder einzelnen ihrer Teilstrukturen führte. Dabei wurde ein Teil der Behörden (Gosnarkokontrol und der Föderale Migrationsdienst FMS) schlichtweg aufgelöst. Bei anderen Behörden wie dem Föderalen Wachdienst FSO und dem Föderalen Zolldienst FTS wurde die Leitung radikal ausgetauscht, in anderen wie dem FSB, dem Strafermittlungskomitee und der Generalstaatsanwalt erfolgte eine Säuberung auf der Ebene der Stellvertreter. Das Innenministerium, aus dem die Inlandstruppen und die Spezialeinheiten ausgegliedert wurden, verlor praktisch seinen Status als »Machtministerium« und ist nun eine reine Polizeibehörde. Seit der Kreml 2006 den Generalstaatsanwalt, der auf die Rolle des Obersten Silowik Ansprüche erhob, abgesetzt und im Bereich der Staatsanwaltschaft das Strafermittlungskomitee als eigenständige Behörde geschaffen hatte, fördert er den mal schwelenden, mal mit voller Kraft aufflammenden Konflikt zwischen den beiden Behörden, verkörpert durch den Generalstaatsanwalt Jurij Tschaika und Chef des SKR, Alexandr Bastrykin.
Besetzung der Gouverneursposten
Seit 2012, als das seit 2005 bestehende System der »Hinführung der Gouverneure auf ihren Posten« abgeschafft und die Gouverneurswahlen wiedereingeführt wurden (letztere allerdings mit »kommunalen Filtern«), hat es 42 neu ernannte und 51 wiederernannte Regionsoberhäupter gegeben. Somit wurde die Gouverneursriege im Laufe der derzeitigen Präsidentschaft Putins zur Hälfte erneuert. Sie ist jünger geworden und hat sich qualitativ verändert. Ein erheblicher Teil besteht aus »Warägern«, kommt also aus anderen Regionen, aus föderalen Behörden oder aus Korporationen und hatte bisher keine Bindungen zur betreffenden Region und keine Erfahrung in öffentlicher Politik. Wichtigste Qualitäten sind Loyalität gegenüber der Zentralmacht und administrative Effektivität im technischen Sinne. Dabei geht es eher um Effektivität bei der Herstellung von Kontrolle und nicht der Gewährleistung von Entwicklung. Die Gouverneure der neuen Generation sind in die föderalen Klientelnetzwerke gut integriert und verkörpern das System der informellen »Hoheit« oder Verfügungsgewalt der Korporationen und Clans in den Eliten über die Regionen.
Seit 2014 erhalten die Gouverneure ihre Legitimität in erster Linie durch den Präsidenten, der sie bestimmt, bevor sie eine zusätzliche Bestätigung durch Wahlen erhalten. Der Kreml ernennt bewusst keine einflussreichen und bekannten Angehörigen der regionalen Eliten in der eigenen Region. Wenn jemand dieses Kalibers ernannt wird, dann höchstens in einer anderen Region (siehe Tabelle 1 auf S. 8).
Gesellschaft
Es wäre falsch, das »schlechte« autoritäre Regime einer »guten«, demokratischen Gesellschaft gegenüberzustellen. Die russische Gesellschaft befindet sich nicht in der besten Verfassung und dürfte in nächster Zeit kaum zum Motor von Veränderungen werden. Der Gesellschaft ist ein geringes Vertrauen gegenüber Institutionen wie auch in ihr selbst eigen, und ein Paternalismus in Bezug auf die Staatsmacht. Während die Gesellschaft demokratische Werte verbal unterstützt, ist sie nicht bereit, diese a) zu verteidigen und b) eine Demokratie der alltäglichen Partizipation zu praktizieren und eben nicht nur von Zeit zu Zeit den Austausch eines schlechten Vorgesetzten gegen einen guten zu verlangen, dem dann die Sorge um die Förderung der Demokratie übertragen wird. Ungeachtet einer Reihe von krisenhaften Umständen besteht in der Gesellschaft ein starkes Bedürfnis nach status quo. So wollen laut einer Umfrage des »Lewada-Zentrums« vom Juni 2017 zwei Drittel der Befragten Wladimir Putin nach den Wahlen auf dem Posten des Präsidenten sehen. Drei Viertel wünschen sich, dass sowohl in der Innen- wie auch der Außenpolitik die gleiche, wenn nicht gar eine härtere Linie verfolgt werde. Lediglich 12–13 Prozent der Befragten bevorzugten eine liberalere Innenpolitik und eine Verringerung der Konfrontation mit dem Westen (s. Grafiken 7 und 8 auf S. 17).
Es gibt zunehmend Spannungen in der Gesellschaft, weil eine wirtschaftliche Entwicklung ausbleibt und auch in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten ist. Festzustellen sind ebenso stetig zunehmende Proteste vor Ort, die sowohl in die Breite gehen und in vielen Regionen stattfinden, aber auch in die Tiefe – sie erfassen nicht nur die größten Städte, sondern finden in ganz verschiedenen Orten statt (<https://komitetgi.ru/analytics/3154/>). Allerdings stellen die Proteste, wie sich denken lässt, keine direkte Bedrohung für das System dar, sondern belegen eher die sich allmählich verschlechternde Lage. Der neue Gesellschaftsvertrag, den Alexandr Ausan als »Loyalität und sogar Bereitschaft zu Einkommensverlusten im Tausch gegen das Gefühl, einer Großmacht anzugehören« definiert, hat sich noch längst nicht erschöpft. Zudem verfügt das Regime über die notwendigen Ressourcen und Fähigkeiten, um im Handbetrieb soziale Explosionen (die aus unterschiedlichen Anlässen erfolgen könnten) zu vermeiden und die Situation nicht kritisch werden zu lassen.
Transformation
Das derzeitige politische System in Russland ist nicht nur ein neues, sondern auch ein Übergangssystem, das sich noch nicht verfestigt hat. Es ist unterwegs und bedeutet nicht einen neuen Gleichgewichtszustand, sondern den Übergang von einem relativen Gleichgewicht zu einem anderen. Dieser Übergang des Regimes zu einem neuen, stabileren Zustand dürfte sich in den kommenden ein bis zwei Jahren vollziehen.
Das Regime hat aus mehreren Gründen gravierende Transformationsprozesse zu erwarten: Zum einen stehen die politischen Ressourcen (siehe Legitimitätsfalle) und die finanziellen Ressourcen, ohne die ein Status Quo nicht aufrechtzuerhalten ist, kurz vor der Erschöpfung. Wirtschaftsexperten geben zwar unterschiedliche Einschätzungen ab, wie lang das Regime ohne ernstliche Änderungen in der Wirtschaftspolitik wird überleben können. Doch allzu lange dürfte dies kaum möglich sein, wenn das dünner werdende Finanzpolster aufgezehrt wird und hinsichtlich der Haushaltsausgaben sämtliche drei »heiligen Kühe« weiterbestehen, nämlich die sozialen Verpflichtungen, das Defizit des Rentensystems und die Ausgaben für den militärisch-industriellen Komplex.
Als zweites erfolgt bereits jetzt ein Wechsel der Spielregeln hinsichtlich der Eliten. Das Regime hat den früheren institutionellen Rahmen aufgegeben, aber noch keinen neuen errichtet. Es gleicht jetzt einer Krabbe während der Häutung: Die alte Schale ist schon abgeworfen und die neue noch nicht gehärtet. Das erhöht die Flexibilität und Lenkbarkeit, bedeutet aber auch erhöhte Risiken. Daher ist eine neue Institutionalisierung bereits in allernächster Zukunft unausweichlich.
Schließlich steht dem Regime und dem Land bevor, dass es den Ruhezustand, in dem man sich seit 2005 befand und wo nach den Massenprotesten auf Wirtschaftsreformen verzichtet wurde, verlässt und in einen dynamischen Zustand wechselt. Und ganz unabhängig von der Richtung, die diese Bewegung nimmt – sei es à la Kudrin, oder à la Glasjew oder à la jemand anderes –, schon der Versuch, sich von der Stelle zu bewegen wird zu vielen Krisen führen – und durch diese zu einer Modernisierung des überaus archaischen und statischen Systems, für das eine reaktive Modernisierung die einzige Möglichkeit ist, zu überleben.
Derzeit allerdings ist das System nicht in der Lage, auf äußere Veränderungen zu reagieren; es vermag nicht einmal, kluge Entscheidungen unter Beachtung der Positionen der wichtigsten Interessensgruppen zu treffen. Das System ist durch strenge Unterordnung gekennzeichnet. Es fehlt an Subsidiarität, bei der Entscheidungen nicht »ganz oben« getroffen werden, sondern auf möglichst niederer Ebene. Insgesamt ist es auf Handsteuerung ausgerichtet, und zwar auf eine von ganz oben. Es benötigt jetzt eine grundlegende »Umrüstung«. Die Risiken durch eine verschleppte Transformation oder aber durch Fehler aufgrund hastigen Vorgehens sind sehr groß. Noch größer aber sind die Risiken, wenn das Land ohne Institutionen in unvollendeter Transformation verharrt.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder