Einleitung
Entgegen den traditionellen Ansichten liberaler Experten, dass es ernstzunehmende Reformen in Russland Anfang der 2000er Jahre im Rahmen des »Gref-Programms« gegeben, die allein durch die schnell wieder abgebrochene »Monetarisierung sozialer Vergünstigungen« in Erinnerung bleiben, und danach ein Jahrzehnt der »Stagnation« eingesetzt habe, ist festzuhalten, dass in Russland stets Reformen unternommen wurden und werden. Erinnert sei an die Reformen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Gesundheit, an die Pflicht für anderthalb Millionen Staatsbedienstete, ihre Einkommen und Aufwendungen zu deklarieren, an den WTO-Beitritt, an die Regulierungsfolgenabschätzung usw. Die Ergebnisse dieser Reformen fielen in der Tat unterschiedlich aus und man sollte sich klar werden, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind.
Erfolgreiche Reformen
Meiner Ansicht nach haben in Russland Reformen im Bereich der Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen größeren Erfolg gehabt. Die erfolgreichste Reform war wohl die Steuerreform von 2001/2002. Der Erfolg ergab sich nicht nur aus dem festen Einkommensteuersatz, sondern vor allem aus den regressiven Sätzen der einheitlichen Sozialsteuer und aus der allgemeinen Vereinfachung der Unternehmenssteuern, was zu einer erheblichen Legalisierung der Geschäftstätigkeit führte und zu einem Wachstumsfaktor für Investitionen wurde. Aus Sicht der Unternehmer war dies somit eine sehr wirksame Reform, die die Belastungen für die Unternehmen erheblich reduzierte. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ein Gewinn für Unternehmer nicht unbedingt einen Gewinn für die Gesamtgesellschaft bedeutet. Und tatsächlich ist durch eine Reihe ernstzunehmender empirischer Arbeiten belegt worden, dass die Steuerreform Anfang der 2000er Jahre keine wesentlichen Auswirkungen auf den Wohlstand der Gesellschaft hatte.
Ein weiteres Beispiel vom Anfang der 2000er Jahre ist die Reform der Unternehmensgesetzgebung. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre waren Manipulationen mit den Bestimmungen des Gesetzes »Über Aktionärsgesellschaften« und des Gesetzes »Über den Bankrott« charakteristisch, als der Buchstabe dieser Gesetze – ganz entgegen ihrem Geist – massenhaft genutzt wurde, um die Rechte der Minderheitsaktionäre zu verletzen und zahlungsfähige Unternehmen zu kapern. Die veränderten Makrobedingungen (Rubelabwertung und ein schwindender Markt für kurzfristige Staatsanleihen, der bis zum August 1998 wie eine Pumpe Mittel aus der Realwirtschaft abgeschöpft hatte) führten dazu, dass eine Produktion in privatisierten Unternehmen gewinnbringend wurde und Anreize für Investitionen entstanden. Für eine Umsetzung dieser Anreize mussten aber erst die Lücken in der Unternehmensgesetzgebung beseitigt werden. Und dies wurde auf der Grundlage eines Konsenses zwischen den wichtigsten Akteuren auf Seite der Unternehmen und den Vertretern des Staates mit der Logik »wir alle haben das ausgenutzt oder die Augen davor geschlossen, jetzt aber werden wir damit aufhören«.
Man einigte sich unter anderem auf eine »Übergangszeit«, in der neun Monate nach Inkrafttreten der Änderungen zum Aktiengesellschaften-Gesetz einer der Paragraphen des alten Gesetzes weitergelten sollte, der es ermöglichte, auf legale Weise Minderheitsaktionäre aus dem Kreis der Eigentümer »herauszuwerfen«. Es wurde also bewusst allen, die das wollten, die Möglichkeit gegeben, diesen Paragraphen zu nutzen; dann wurde ein Schlusspunkt gesetzt. Dadurch wurde im Bereich der Unternehmensbeziehungen ein Interessenausgleich zwischen den wichtigsten Stakeholdern erreicht, was wiederum die Voraussetzungen für eine Reihe erfolgreicher Börsengänge (IPOs) und die Akquise von Kapital auf dem russischen Wertpapiermarkt ab Mitte der 2000er Jahre schuf.
Die spezifische »Industrie« jedoch, die bereits in den 1990er Jahren entstanden war und sich mit Unternehmenskaperungen befasste, war keineswegs verschwunden. Diese »Spezialisten« suchten jetzt nach einer neuen Betätigung und fanden sie, indem sie nach der JUKOS-Affäre auf neue Methoden der »räuberischen Übernahme« unter Einsatz der Strafgesetzgebung umschalteten (s. Firestone, T.: Armed Injustice…; Rochlitz et al.: Unter Räubern… i. d. Lesetipps). In vollem Maße wurde man sich dieses Problems ab 2009/2010 bewusst, allerdings lässt sich kaum behaupten, dass es bis heute gelöst wäre.
Ein weiteres, in jeder Hinsicht anschauliches Beispiel ist die »Nationale Unternehmerinitiative« (russ.: NPI) mit ihrer Idee einer radikalen Reduzierung der administrativen Hürden für Unternehmen im Sinne des Doing Business-Projektes, das von der Weltbank betrieben wird. Es sei daran erinnert, dass Russland sich zum Zeitpunkt des Beginns der NPI im Frühling 2012 auf Platz 120 der weltweiten Rangliste der Weltbank befand – hinter China, Kasachstan, Belarus und ganz zu schweigen von den Ländern Osteuropas. Bis zum Frühjahr 2017 haben wir es bis auf den durchaus respektablen 40. Platz geschafft. Bei aller Formalität der Indikatoren der Doing-Business-Rangliste ist das ein wirklicher Fortschritt, unter anderem bei der Ankurbelung eines »Wettbewerbs« zwischen den Regionen, um die technischen Bedingungen zur Führung eines Unternehmens zu verbessern.
Am Beispiel der NPI wird die tatsächliche Rolle und die Position deutlich, die Experten bei der Ausarbeitung und dem Start von Reformen spielen. Bereits seit Mitte der 2000er Jahre haben viele russische Experten von einem eindeutigen Verfall des Investitionsklimas in Russland gesprochen, wie auch von der Notwendigkeit spezieller Maßnahmen zu dessen Verbesserung (etwa in der Logik der Reformen, die durch den mittlerweile verstorbenen Kacha Bendukidse in Georgien eingeleitet wurden), die sich dabei auf die Doing-Business-Rangliste und die BEEPS-Umfragen stützten.
Die russischen Unternehmen waren jedoch nicht bereit, eine Nachfrage nach solchen Reformen geltend zu machen, weil dies gemeinsame Anstrengungen erfordert hätte. Zudem wurden die hohen Kosten der Unternehmensführung in Russland durch die überaus hohen Gewinnmargen, die für den russischen Markt damals charakteristisch waren, vollauf kompensiert. Zur gleichen Zeit winkten hochgestellte Vertreter der Bürokratie bei diesen Vorschlägen der Experten ab und verwiesen auf die hohen Wachstumsraten und den Zustrom von Investitionen. Erst nach der Krise von 2008/09 änderte sich die Situation. Durch schwindende Erträge und eine zunehmende Ungewissheit für Unternehmen veränderte sich die Bilanz von Kosten und Gewinnen und es ergaben sich Anreize, gemeinsam für eine Verbesserung des Geschäftsklimas vorzugehen. Gleichzeitig war die Regierung, die sich sinkenden Wachstumsraten, schrumpfenden Haushaltseinnahmen und zunehmenden Sozialausgaben gegenübersah, nun eher zu einem Dialog mit den Unternehmen bereit.
Anders ausgedrückt: In allen drei Fällen (der Steuerreform, der Reform der Unternehmensgesetzgebung und der Verbesserung der technischen Voraussetzungen zur Führung eines Unternehmens) gab es einen entscheidenden Faktor für den Erfolg dieser Reformen: Die Unternehmen wurden sich ihrer gemeinsamen Interessen bewusst und traten als ein aktiver Stakeholder auf, der in den Prozess der Ausarbeitung der Reformen einbezogen wurde, und der sich über seine Ziele im Klaren und auch bereit war, diese in Verhandlungen mit dem Staat zu verfolgen. In den ersten beiden Fällen trat der »Russische Verband der Industrieunternehmer« (RSPP), ein Zusammenschluss großer Unternehmen, als Stakeholder auf. Im letzteren Fall wurde diese Rolle vom Verband »Delowaja Rossija« (in etwa: »Unternehmerisches Russland«) übernommen, der die Interessen der erfolgreichen mittelgroßen Unternehmen vertritt.
Wenn also die Idee zu einer bestimmten Reform lediglich von Experten mit Verweis auf ein abstraktes »gesellschaftliches Wohl« vorgebracht wird, scheitert diese Idee aller Wahrscheinlichkeit nach, oder sie wird im Zuge der Umsetzung radikal entstellt. Wenn aber hinter einer Reformidee organisierte Interessengruppen stehen, hat sie sehr viel höhere Chancen auf eine erfolgreiche Umsetzung. Das führt allerdings längst nicht immer zu einem Wachstum des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes.
Welche Reformen scheiterten – und warum?
Meiner Ansicht sind es die Reformen des Haushaltsbereichs im weitesten Sinne, die scheitern. Ich möchte mich hier nicht in eine Diskussion über das Einheitliche Staatliche Examen, die Reform des Gesundheitswesens oder die Reform der Russischen Akademie der Wissenschaften vertiefen – zu diesen Themen sind höchst unterschiedliche Kommentare möglich. Doch war meiner Einschätzung nach allen diesen Reformen gemein, dass eine Zusammenarbeit der Experten und des Staates mit den Stakeholdern in den betroffenen Bereichen fehlte. Das bedeutet, dass bestimmte Personen, die womöglich mit besten Absichten handelten, bestimmte Ideen vorlegten und Vertreter des Staates von der Zweckmäßigkeit dieser Ideen überzeugen konnten. Daraufhin wurden diese Ideen von oben herab »in die Tat umgesetzt«. Und da stellte sich heraus, dass es im öffentlichen Sektor bei uns keine Stakeholder gibt, die in der Lage wären, im Namen ihrer Branchen zu sprechen und ihre korporativen Interessen (auch öffentlich) zu vertreten.
In Unternehmerkreisen gab es bei allen Widersprüchen und der heftigen internen Konkurrenz im Russischen Verband der Industrieunternehmer RSPP, der sich bereits Anfang der 2000er Jahre deutlich zum Thema Steuern, wie auch zum WTO-Beitritt sowie zur Reform der Unternehmensgesetzgebung geäußert und – was äußerst wichtig war – seine Lösungsvarianten unterbreitet hatte. Seit Ende der 2000er Jahre übernahm auch »Delowaja Rossija« eine aktivere Rolle, wobei sie Ideen zur Verbesserung des Geschäftsklimas vorlegte, zur Reform der Strafgesetzgebung und zu einer veränderten Praxis der Rechtsanwendung gegenüber Unternehmen. Auf Seiten des öffentlichen Sektors gibt es vereinzelte Organisationen, die die Regierung kritisieren können, doch schlagen sie nur äußerst selten konstruktive Alternativen vor (die über Vorschläge à la »Gebt mehr Geld!« hinausgingen) und haben dadurch nur geringe Chancen, Gehör zu finden. Alles, was wir als Resultat sehen können, sind die Folgen davon. Die Erfahrung in vielen Ländern, nicht nur in Russland, zeigt: Wenn unter den wichtigsten Akteuren in den entsprechenden Sektoren kein Konsens darüber hergestellt wird, was getan werden muss und wie, und wohin die Entwicklung geht, kommt für gewöhnlich nichts Gutes heraus.
Nun zu dem, was jetzt für die wirtschaftliche Entwicklung am wichtigsten ist, und wie das zu bewerkstelligen wäre. An dieser Stelle lohnt sich ein Rückblick auf die Verbesserung der russischen Platzierung auf der Doing-Business-Rangliste und auf die Agentur Strategischer Initiativen (ASI), die die Umsetzung der »Nationalen Unternehmer-Initiative« verwaltet. Sie war praktisch ein Versuch, der Regierung einen neuen Deal mit den Unternehmen anzubieten, und zwar mit folgender Logik: Neben den Oligarchen gibt es erfolgreiche mittelgroße Unternehmen, die in den fetten 2000er Jahren aufgestiegen waren und in der Lage sind, zu Stützen für ein neues Wachstumsmodell zu werden (s. Yasin et al.: Is the new model…; i. d. Lesetipps). Angesichts übermäßiger administrativer Barrieren, deren Kosten nicht durch hohe Gewinne kompensiert werden, können sich diese Unternehmen jedoch nicht entwickeln. Wenn man diesen Unternehmen normale Bedingungen gewährt, werden sie auch ihre Investitionen hochfahren und für wirtschaftliches Wachstum sorgen. Zu diesen Zwecken wurden Änderungen des Strafgesetzbuches unternommen, wurde die ASI geschaffen und die NPI gestartet.
Es ist zu unterstreichen, dass es sich hier im Vergleich mit den Reformen, die Anfang der 2000er Jahre umgesetzt wurden, um eine schwierigere und komplexere Reform handelt, da hier objektiv ein breiterer Kreis von Stakeholdern aktiviert werden sollte, der nicht nur Unternehmen umfasste, sondern auch die Regionalregierungen wie auch föderale Behörden. Am Beispiel dieser Reform wird ersichtlich, wie die Interessen des Bürokratieapparats über die inhaltlichen Ziele der Reform die Oberhand gewinnen können.
Stellen wir uns nur eine einfache Frage: Geht es bei der »Nationalen Unternehmer Initiative« um den Platz Russlands auf der Doing-Business-Rangliste oder um Investitionssteigerungen und eine Entwicklung der Unternehmen? Allen ist klar, dass es eher um letzteres geht. Aber die Logik, mit der unser Bürokratieapparat funktioniert, ist derart, dass erstere Aufgabe einfacher und klarer erscheint. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, im Alltagsbetrieb die unteren Ebenen der administrativen Hierarchie zu kontrollieren, so zu sagen »die Fäden in der Hand zu halten«.
Was ist schließlich aus Gesprächen mit Vizegouverneuren zu erfahren, die in den Regionen für diese Prozesse verantwortlich sind? Von denen wird vor allem eine Gewährleistung der technischen Parameter erwartet, die in den Road Maps der ASI niedergelegt sind. Ob es aber in der Region eine Zunahme der Investitionen gibt oder nicht, das ist eine gesonderte Frage, die nicht in die Leistungskennziffern für die ASI einfließt. Als ich dieses Thema mit Kollegen aus der ASI erörterte, wurde mir folgendes Argument entgegengebracht: »Es gibt grundlegende Elemente der Umwelt. Zum Beispiel die Qualität der Toiletten. Wenn sie sauber sind, bemerkt das niemand; wenn sie aber schmutzig sind, fällt das jedem auf. Also zwingen wir die Regionen, die grundlegenden Standards zur Unternehmensführung sicherzustellen«.
Das ist so, aber es ist auch daran zu erinnern, dass dieser ganze Prozess mit den »regionalen Standards« der Best Practice zur Verbesserung des Investitionsklimas begonnen hatte, die von »Delowaja Rossija« 2010 erstellt worden waren – der Verband hatte daraus eine Art »Menü« hergestellt, aus dem mitdenkende Regionschefs das, was ihnen am meisten passte, auswählen und an die örtlichen Gegebenheiten anpassen konnten. Allerdings wurde, um die Prozesse »unten« leichter steuern und kontrollieren zu können, dieser »regionale Standard« verpflichtend, und er wurde noch zwei, drei Mal erweitert. Dadurch haben wir ein weiteres Mal ein einheitliches, maximal unifiziertes Modell, damit die Zentralregierung leichter steuern kann. Und gleichzeitig verbessern wir noch irgendwo irgendwas in der globalen Doing-Business-Rangliste, doch kann man nicht sagen, dass all diese Anstrengungen im Landesdurchschnitt zu einem wesentlichen Investitionszuwachs geführt hätten. Gleichwohl steigen die Investitionen, allerdings eher in jenen Regionen, die außer einer Sicherstellung, dass die Kriterien des Doing Business und der NPI eingehalten werden, etwas Bewusstes unternehmen. Allerdings haben sie hierfür mitunter nicht ausreichend Zeit.
Was behindert heute die Möglichkeiten zur Reform?
Wir kommen nun zu dem, was heute das zentrale Problem darstellt. Es ist das Problem der Anreize im System der staatlichen Verwaltung. In den 2000er Jahren, als noch viel Geld da war, galt der informelle Vertrag »politische Loyalität im Austausch gegen relative Autonomie«. Die Einen nutzten diese Autonomie zum Diebstahl, Andere widmeten sich ihrer Sache, da es aber für alle reichte, funktionierte das System irgendwie.
Als das Geld weniger wurde – zunächst nach der Krise von 2008/09, dann nach den Protesten von 2011/12, die für die Regierung eine ernste Herausforderung darstellten – begann sich die Zentralregierung um das Problem der Korruption zu kümmern, in erster Linie auf den unteren Ebenen der staatlichen Verwaltung. Allerdings erfolgte die Beschneidung der Korruptionsmöglichkeiten in der Logik einer verstärkten zentralisierten Kontrolle und eines Entzuges jener Autonomie, die Bestandteil des informellen Vertrags der 2000er Jahre gewesen war. Einen Angehörigen der Bürokratie bei der Entgegennahme von Bestechungsgeldern zu erwischen ist schwierig, daher wird in erster Linie die Einhaltung aller möglichen formalen Vorschriften kontrolliert; eine jede Abweichung vom Reglement wird als Grundlage für einen Korruptionsverdacht betrachtet.
Was sind die Folgen? Das in Russland bestehende Regulierungssystem, das in den 2000er Jahren entstanden ist, ist überzogen (und darin sind sich alle einig), doch ist es zudem widersprüchlich. Das bedeutet: Wenn ein Staatsbediensteter etwas unternimmt, das über das einfache Weiterleiten von Papieren aus einem Amtszimmer ins nächste hinausgeht, dann ist fast schon garantiert, dass er gegen irgendetwas verstößt. Diese Verstöße sind mit Risiken verknüpft. Für korrupte Staatsbedienstete werden diese Risiken durch die Ausmaße der zu erwartenden »materiellen Entschädigungen« ausgeglichen (das wird durch empirische Studien belegt). Doch wenn sich ein Verwaltungsbeamter seiner Sache widmen will (und von solchen gibt es im Staatsdienst recht viele), so ist im Rahmen des heutigen Systems nicht klar, wodurch für ihn die Risiken der »Abweichung vom Reglement« kompensiert werden. Somit läuft das rationale Verhalten eines gewissenhaften Staatsbediensteten darauf hinaus, dass er entweder nichts tut, oder nur das unternimmt, wozu er aus dem Zentralapparat angewiesen wurde. Wen gesagt wurde: »Toiletten säubern!«, heißt das: Wir säubern die Toiletten.
Meiner Ansicht nach ist das eines der zentralen Probleme, wegen derer ohne bestimmte, durchdachte Impulse, die vom Staat ausgehen, und ohne Koordinierung durch den Staat eine normale wirtschaftliche Entwicklung nicht möglich ist. Etwas ganz Einfaches lässt sich an einer Werkbank in der Werkstatt oder der Garage herstellen. Aber die Einführung neuer Technologien, eine effiziente Eingliederung in die globalen Wertschöpfungsketten, das sind komplexe Prozesse, die eine Koordinierung des Vorgehens zwischen den unterschiedlichen Kontrahenten erfordert. Eine Beteiligung des Staates bei diesen Prozessen und richtige Impulse, die vom Staat ausgehen und die Verunsicherung und die Risiken für die übrigen Beteiligten reduzieren, stellen hier ein ganz wesentliches Element dar. Die Art der Impulse wird je nach Branche oder Region unterschiedlich sein, da letztere den »lokalen Kontext« zu berücksichtigen haben. Und das ist auch der Grund, warum sie nicht im Zentralapparat generiert werden sollten, der in den Schablonen eines »Einheitsmodells« denkt.
Zugegebenermaßen gibt es Regionen, in denen aufgrund der persönlichen Qualitäten konkreter Gouverneure sich Verwaltungsteams gebildet haben, in denen es Kommunikationsmechanismen innerhalb der regionalen Elite gibt, und in denen etwas unternommen wird. Doch erfolgt all dies eher trotz der Anreize, die vom Zentrum ausgehen.
Mögliche Lösungsvarianten
Wie wäre dieses Problem zu lösen? Eine Analyse der Erfahrungen des Auslands könnte hier von Nutzen sein, und zwar nicht nur die der entwickelten, sondern auch die der »Entwicklungsländer«. So wurde die Erfahrung der Behörde PEMANDU in Malaysia in Vielem durch die ASI kopiert. Die PEMANDU (Performance Management and Delivery Unit) wurde 2009 geschaffen. Malaysia hatte ebenfalls schwer unter der Krise von 2008/09 zu leiden gehabt, es bestehen dort spezifische politische Probleme, und dennoch wies das Land nach 2008/09 Wachstumsraten von jährlich fünf bis sechs Prozent auf. Gleichzeitig beträgt das BIP pro Kopf rund das Vierfache des chinesischen. Damit liegt das Land hinsichtlich des Einkommensniveaus beim Vierfachen des Wohlstands in China, also über dem Durchschnitt, wie er durch die Weltbank definiert wird. Solche Wachstumsraten sind in dieser Entwicklungsphase sehr viel wert.
Wodurch hat Malaysia das erreichen können? Unter anderem durch die Arbeit der PEMANDU. Diese Behörde, die unmittelbar dem Premierminister unterstellt ist, hatte zu Beginn ihrer Tätigkeit sogenannte Laboratorien gebildet, zu denen Stakeholder aus bestimmten Wirtschaftsbranchen hinzugezogen wurden, und zwar sowohl von Seiten der Unternehmen, als auch von Seiten des Staates (Sabel & Jordan, 2015). Sie waren aufgefordert, gemeinsam die wichtigsten Probleme ihrer Branche zu benennen, mögliche Lösungsvarianten vorzuschlagen, den Umfang der Ressourcen festzulegen, die hierzu notwendig sind, und Indikatoren zu formulieren, die den Bewegungsprozess aufzeigen. Auf dieser Grundlage wurden prioritäre Projekte gebildet, für deren Umsetzung bestimmte Ministerien und Behörden zuständig sind, während PEMANDU sie mit einem quartalsweisen Monitoring überwacht und alle Stakeholder über den Verlauf der Umsetzung der Projekte informiert. Falls Probleme auftauchen, schlägt PEMANDU den betroffenen Stakeholdern vor, sich umgehend zu treffen und zu identifizieren, was die Umsetzung des Projektes behindert und was zu unternehmen oder zu ändern wäre (bis hin zu einer Korrektur der finalen Kennziffern, falls sich beispielsweise die äußeren Bedingungen wesentlich verändert haben und ein Erreichen der Leistungskennziffern nicht unmöglich wurde). Die Lösungen müssen dabei im Konsens vorgeschlagen werden.
Falls die Stakeholder nicht selbst zu einer annehmbaren Lösung gelangen, wird die Frage zur Erörterung auf die Ebene des zuständigen Ministeriums weitergeleitet und kann dann auf die Tagesordnung einer Beratung beim Premierminister gesetzt werden. Eine solche Entwicklung der Dinge wäre aber mit Sanktionen für die Projektteilnehmer verbunden – mit einer Ablösung von Beamten auf ihrem Posten und einer Beendigung der Teilnahme am Projekt für die Unternehmensseite. Das heißt, es besteht eine ständige Rückkopplung mit den Stakeholdern sowie die notwendige Flexibilität bei der politischen Umsetzung – mit einer Orientierung nicht auf Platz 40 oder 20 auf der Doing-Business-Rangliste, sondern auf die Ergebnisse der Projekte, die zu ihrem logischen Ziel gebracht werden sollen: zur Schaffung eines Express-U-Bahn-Systems im Großraum Kuala Lumpur, zur Inbetriebnahme von Hafen- und Logistikstrukturen, zu einer Verbesserung des Ausbildungsstandes des Personals usw.
Es ist zu betonen, dass es in Malaysia eine Opposition gibt, die Bersih-Bewegung, die das Regime regelmäßig der Korruption bezichtigt, und ethnische Konflikte vorhanden sind (da 60 Prozent der Wirtschaft von Chinesen kontrolliert werden). Das hindert die Regierung jedoch nicht daran, über Projekte konkrete pragmatische Reformen umzusetzen, die das Wirtschaftswachstum fördern und die Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität gewährleisten. Meiner Ansicht nach besteht eine der Voraussetzungen hierfür darin, dass die nationale Elite über einen »weiten Horizont« verfügt, der bereits 1990/91 durch den damaligen charismatischen Premierminister Mahathir bin Mohamad im Rahmen der Ausarbeitung einer langfristigen Strategie für Malaysia angelegt wurde (Projekt »Vision 2000«). Der Umstand, dass der Elite in Russland eine untereinander abgestimmte, allgemeine Zukunftsvision fehlt, stellt ein Hindernis für die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb der Elite dar und behindert die wirksame Umsetzung konkreter Reformen.
Fazit
Es lassen sich zwei wesentliche Faktoren ausmachen, die Reformen selbst angesichts mangelhafter Institutionen, schwach ausgebildeter Demokratie und starker Korruption möglich machen. Zum einen ist das die Einbeziehung eines breiten Kreises von Stakeholdern in den Prozess der Ausarbeitung der Reformen sowie deren Einbeziehung in das Monitoring bei der Umsetzung der geplanten Änderungsmaßnahmen. Zum anderen würde eine gemeinsame Zukunftsvision der Eliten den Interessenausgleich zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen erleichtern.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder