Die politischen Ergebnisse der Kommunalwahlen in Moskau

Von Andrey Buzin (Moskau)

Zusammenfassung
Die Kommunalwahlen in Moskau vom 10. September endeten erwartungsgemäß mit einem überwältigenden Sieg der Partei »Einiges Russland«. Drei von vier zukünftigen Abgeordneten in den Kommunalvertretungen gehören der Regierungspartei an. Und dennoch waren die Wahlen ein Erfolg für die Opposition: Weit über 200 oppositionell gesinnten Kandidaten gelang der Einzug in die Kommunalvertretungen. Ein großer Teil von ihnen hat sich zu einer informellen Koalition um den ehemaligen Duma-Abgeordneten Dmitrij Gudkow zusammengeschlossen. Ob sie diesem allerdings zu einer Kandidatur bei der Bürgermeisterwahl in Moskau 2018 verhelfen können, ist fraglich. Denn zur Überwindung des »kommunalen Filters« – einem administrativen Instrument zur Einschränkung von Kandidaturen – wäre der Einzug in noch mehr Kommunalräte notwendig gewesen. Daher bleibt nur die Hoffnung auf eine Wahlrechtsreform – und darauf, dass die partizipatorische Arbeit in der lokalen Selbstverwaltung Moskaus zum Vorbild im ganzen Land wird.

Die Bedeutung der Kommunalwahlen in Moskau

Die Kommunalwahlen, die am 10. September dieses Jahres in Moskau stattfanden, könnten erhebliche Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes haben – oder auch nicht.

Einerseits sind nach 15 depressiven Jahren für die Selbstverwaltung in Moskau relativ viele frische Leute in die lokalen Selbstverwaltungsorgane eingezogen, Leute, die nicht in Abhängigkeit von der gegenwärtigen Regierung stehen. Die Selbstverwaltung in Moskau ist im Laufe der letzten 20 Jahren praktisch beseitigt worden, vor allem aufgrund von Gesetzen, die die Befugnisse der Kommunalräte beschnitten haben, und durch den Aufbau einer erdrückenden staatlichen Hierarchie der Exekutive (Bürgermeisterkanzlei – Präfekturen der Stadtbezirke – Kommunalverwaltungen). Natürlich trug auch der Umstand, dass auf kommunaler Ebene nur Pseudowahlen abgehalten wurden, das Seine dazu bei: Was sich bei den Kommunalwahlen der Jahre 2004 und 2008 in einigen Teilen Moskaus abgespielt hat, lässt sich nur in strafrechtlichen Kategorien fassen (bei jenen Wahlen hatte es massenhaft unmittelbare Wahlfälschungen gegeben). Diese kriminellen Umstände und die gleichwohl ausgebliebenen Strafen (niemand, auch nicht der Vorsitzende der städtischen Wahlkommission Moskau, Valentin Gorbunow, ein Urgestein des russischen Wahlsystems, hat sich wegen der flächendeckenden Unregelmäßigkeiten bei Wahlen in Moskau verantworten müssen) hatten zur Folge, dass vollkommen hilflose, von der Exekutive gelenkte und ausgehaltene, scheinbare Kommunalvertretungen »gewählt« wurden.

Die 2012 erfolgten Veränderungen in der Präsidialadministration hatten dann auch Auswirkungen auf die Kommunalwahlen von 2012: In diesem Jahr gelang es einigen unabhängigen Kandidaten, in die Abgeordnetenversammlungen vorzudringen. 2017 hat sich diese Entwicklung verstärkt.

Die Wahlgesetze in Russland lassen es nicht zu, dass politische Kräfte bei Wahlen formale Koalitionen bilden. Bei den diesjährigen Wahlen erfolgte ein informeller Zusammenschluss einer recht großen Anzahl von Kandidaten, die selbständig (per Eigennominierung) antraten oder über Parteien nominiert wurden. Ein solcher Zusammenschluss war zu erwarten gewesen, da in Russland der Kampf um die Wählerschaft in Wirklichkeit nicht zwischen den politischen Parteien stattfindet, sondern zwischen den Regierungen und Verwaltungen einerseits und gesellschaftlichen Aktivisten andererseits. Dmitrij Gudkow, einem ehemaligen Abgeordneten der Staatsduma, war es gelungen, unter dem Schlagwort »unabhängige Kandidaten« eine große Zahl registrierter Kandidaten – nach unseren Berechnungen 1021 – hinter sich zu bringen, die von unterschiedlichen Parteien nominiert worden waren (s. Grafik 1 auf S. 5) und für die von der Exekutive unterstützten Kandidaten (von denen viele für »Einiges Russland« antraten) eine tatsächliche Konkurrenz sind. Es entstand eine informelle Koalition, die als »Liste Gudkow« bekannt und für die im Internet geworben wurde.

Insgesamt war auf den Stimmzetteln eine beispiellos große Anzahl Kandidaten zu finden, nämlich 7515 (bei den vorangegangenen Wahlen 2012 waren es lediglich 3996 gewesen). Die »Gudkow-Leute« machten 13,6 Prozent aller Kandidaten aus. Der Umstand, dass unter den insgesamt 1502 Abgeordneten, die am 10. September in die Kommunalvertretungen gewählt wurden, 262 (also 17,4 Prozent) von der »Liste Gudkow« sind, ist zweifellos ein Erfolg der »unabhängigen Kandidaten«. Derlei hatte bei den Moskauer Kommunalwahlen früherer Jahre nicht einmal annähernd erreicht werden können. Der Hauptgrund für diesen Erfolg ist darin zu sehen, dass eine totale »Säuberung« der Stimmzettel (wie es sie bei allen Moskauer Wahlen von 2004 bis 2011 gegeben hatte) und eine umfassende Verfälschung der Ergebnisse (wie 2007 bis 2011) diesmal ausblieben. Hinzu kam der Umstand, dass die Moskauer im Vergleich zum Rest des Landes politisch erheblich aktiver sind (was sich schlichtweg durch einen einfacheren Zugang zu Informationen erklären lässt). Das trat nun, da die erwähnten polittechnologischen Hebel nicht eingesetzt wurden, zum Vorschein.

Die jetzige Situation erinnert stark an das, was 1990 geschehen war. Seinerzeit waren wegen der veränderten politischen Lage und des neuen Wahlgesetzes zur Hälfte neue, regierungsunabhängige Leute in die Moskauer Bezirkssowjets und in den Stadtsowjet von Moskau eingezogen. Sie strampelten sich zweieinhalb Jahre ab und waren sich vollauf bewusst, dass sie überaus stark von dem abhingen, was insgesamt im Land vor sich ging. Gleichzeitig begannen die neuen Leute in der Moskauer Exekutive damit, eine neue Machtvertikale aufzubauen, und zwar nach alten Mustern – mit einer dominierenden politischen (also elektoral zu legitimierenden) Kraft. Hierin waren sie überaus erfolgreich, wobei in diese Vertikale die Gerichte, die Polizei- und Justizbehörden, die Medien, die Unternehmen und die Wahlkommissionen mit eingebunden wurden (Dieser Ansatz des damaligen Moskauer Bürgermeisters Jurij Luschkow wurde in den 2000er Jahren von der Zentralregierung übernommen)

Die ehemaligen unabhängigen Abgeordneten der 1990er Jahre verstreuten sich schließlich in unterschiedlichen Richtungen. Die einen gingen zur Machtvertikale, andere zu den Nationalisten, noch andere in die Wirtschaft (und damit zum Teil auch ins Ausland), und einige gerieten in Vergessenheit, verschwanden. So etwas könnte auch dem jetzt entstandenen demokratischen Teil der Abgeordneten widerfahren. Das Durchschnittsalter aller am 10. September gewählten Abgeordneten liegt bei 48 Jahren, unter den Gudkow-Leuten jedoch bei 41. Davon wurden 22 nach den erwähnten Wahlen von 1990 geboren, 69 nach Gorbatschows Machtantritt 1985, und 92 waren noch nicht auf der Welt, als Breschnew 1982 starb.

Über den »Kommunalfilter«

Dmitrij Gudkow hatte bei den Kommunalwahlen in Moskau selbst nicht kandidiert. Er führt diese informelle Koalition »unabhängiger Kandidaten« aus längerfristigen Überlegungen heraus. Sein Ziel sind die Moskauer Bürgermeisterwahlen 2018. Per Gesetz ist vorgeschrieben, dass ein Bürgermeisterkandidat von Abgeordneten der Kommunalvertretungen unterstützt werden muss.

Seit 2012 gibt es in Moskau 146 Verwaltungseinheiten mit jeweils eigenen Kommunalvertretungen. Darunter sind 125 »alte« Stadtteile (Rayons) sowie 21 »neue«, die nach Moskau eingemeindet wurden. Das bedeutet, dass nach geltender Gesetzeslage – die sich hoffentlich noch ändern wird – ein Bürgermeisterkandidat Unterstützerunterschriften von 110 kommunalen Abgeordneten (6 % aller Abgeordneten) einholen muss, die aus mindestens 110 Kommunalvertretungen (75 %) kommen.

Die erste Voraussetzung haben die Gudkow-Leute, so scheint es, mehr als erfüllt. Allerdings ist alles nicht ganz so einfach, weil von den gewählten 262 Abgeordneten der »Liste Gudkow« 169 von »Jabloko« nominiert worden waren. Die übrigen 93 reichen nicht für eine Registrierung als Bürgermeisterkandidat. Zudem unter diesen auch Abgeordnete sind, die formal von anderen Parteien aufgestellt worden waren (s. Grafik 1 auf S. 5).

Deshalb wird sich Gudkow für eine erfolgreiche Nominierung als Bürgermeisterkandidat zumindest mit einem Teil der Abgeordneten von »Jabloko« einigen müssen (die dann wohl anschließend »wegen parteischädigenden Verhaltens« aus »Jabloko« ausgeschlossen werden dürften). Natürlich wäre es vernünftig, sich mit der Führung von »Jabloko« zu einigen, doch ist deren Verhandlungsfähigkeit zu bezweifeln, wie sich schon bei den schicksalhaften Dumawahlen von 2003 gezeigt hatte. Grigorij Jawlinskij wird lieber Sergej Mitrochin auf dem Bürgermeistersessel sehen wollen.

Aber selbst wenn es Gudkow gelänge, ausreichend Abgeordnete zusammenzubekommen, bleibt die zweite Voraussetzung (nämlich, dass die Abgeordneten aus mindestens 110 Kommunalvertretungen kommen müssen), die sehr viel schwieriger zu erfüllen sein wird. Schließlich gibt es insgesamt nur 62 Kommunalvertretungen, in denen wenigstens ein Abgeordneter von der »Liste Gudkow« vertreten ist (hinzu zu zählen ist natürlich noch die Kommunalvertretung in Schtschukino, die bereits 2016 gewählt wurde, mit einem Sieg der unabhängigen Kandidaten). Ohne die von »Jabloko« aufgestellten Abgeordneten sind es sogar nur 32 Kommunalräte. Allerdings ist auch »Jabloko« lediglich in 51 Kommunalvertretungen vertreten.

Wenn Gudkow ohne Hilfe von »Einiges Russland« (also ohne Hilfe der Kanzlei des Bürgermeisters) kandidieren will, muss er Wege in weitere 47 Moskauer Kommunalräte finden.

Die politische Zusammensetzung der Kommunalräte

Die politische Zusammensetzung der Moskauer Kommunalräte ist in Grafik 2 auf S. 5 und Tabelle 1 auf S. 6 dargestellt.

Auffällig ist zunächst der Unterschied zur Zusammensetzung der Moskauer Stadtduma, die 2014 gewählt wurde. Dort sind formal Abgeordnete folgender Parteien vertreten: 62 Prozent von »Einiges Russland«, 11 Prozent von der KPRF, je zwei Prozent von der LDPR und von »Rodina« sowie 22 Prozent Abgeordnete, die sich eigenständig nominiert hatten. In Wirklichkeit stellt sich das Kräfteverhältnis einfacher dar: 89 Prozent für die »Partei« der Stadtregierung und 11 Prozent Kommunisten (KPRF).

Deutlich ist die sehr geringe Unterstützung der Wähler für die »Systemparteien« KPRF, LDPR und »Gerechtes Russland« zu erkennen. Und es überrascht die große Zahl der Kandidaten der »Kommunisten Russlands« und von »Rodina«, die allesamt kein einziges Mandat erringen konnten.

Betrachten wir nun die Zusammensetzung der 2017 gewählten Kommunalräte – siehe Tabelle 2 auf S. 6.

In über der Hälfte der Kommunalräte (in 63, also in 50,4 % aller neugewählten Räte) sitzt kein einziger Vertreter der »Liste Gudkow«, in 101 Räten (80,8 %) stellen sie weniger als die Hälfte oder keinen der Abgeordneten, in 13 Vertretungen (10,4 %) haben sie zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Sitze inne und in 13 Räten (8,8 %) sind es über zwei Drittel. Es gibt sogar einen Kommunalrat, in dem ausschließlich Gudkow-Leute sitzen (im Gagarinskij-Rayon).

Die größte Zahl an Kommunalvertretungen, in denen die »Liste Gudkow« die Mehrheit stellt, entfällt auf die Moskauer Verwaltungsbezirke Mitte, West und Südwest. In allen zehn zentralen Kommunen ist die »Liste Gudkow« vertreten. Die Stadtteile in den Verwaltungsbezirken Südwest und West sind in dieser Hinsicht grob zweigeteilt. In den Verwaltungsbezirken Süd, Südost und Ost überwiegen ganz eindeutig Kommunalvertretungen, die durchweg aus »Administrations-Abgeordneten« bestehen (diese vertreten nicht unbedingt die Bezirks- oder Kommunalverwaltungen, sind durch diese aber leicht zu lenken).

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Ergebnisse dieser Wahlen sehr viel besser das politische Spektrum der Moskauer wiedergeben, als alle bisherigen Moskauer Wahlen. In 24 Kommunalräten stellen Vertreter der »Liste Gudkow« die Mehrheit.

Ausblick

Werden sich die »Unabhängigen« untereinander einigen können? Werden sie eine irgendwie geartete wesentliche Ausweitung ihre Befugnisse erreichen? Oder wird eine gewiefte Administration mit ihrem erheblichen Potential an erfahrenen Bürokraten erneut unerfahrene, aber aufgebrachte Aktivisten ausspielen? Wird sie einen Teil von ihnen »verführen« und in die eigenen Reihen locken können? Oder im Gegenteil: Werden vielleicht die von der Administration ernannten Abgeordneten, denen das gesellschaftliche Wohl gleichgültig ist, vom Elan begeisterter Neueinsteiger Bürger angesteckt?

Die Erfahrung der 1990er Jahre stimmt wenig hoffnungsvoll. In Russland aber kehrt die Hoffnung immer wieder zurück. Gesamtrussische Reformen haben stets in der Hauptstadt ihren Anfang genommen. Könnten nicht Wahlen mit Wettbewerb und ohne totale Fälschung allmählich auch im übrigen Russland in Mode kommen?

Die Kommunalvertretungen in den Moskauer Verwaltungseinheiten haben keinerlei reale Macht, ihre Zuständigkeiten sind zu dürftig und sie verfügen praktisch über keinerlei Finanzen. Andererseits haben sie traditionell einen leichteren Zugang zu den Medien und den Prozessen der Gesetzgebung. Eine Partizipation auf der untersten Ebene der Macht bietet aber die Möglichkeit, Erfahrungen in parlamentarischer Arbeit zu sammeln. Hoffen wir also, dass die Möglichkeiten dieses Mal effektiver genutzt werden, als in den 1990er Jahren.

Der Dank des Autors gilt Sergej Schpilkin für dessen unermüdliche Sammlung und Aufarbeitung der auf einer Vielzahl von Internetseiten veröffentlichten Daten zu den Wahlen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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