Staatliche Jugendpolitik in Russland zwischen regierungstreuem Protest und konservativer Erneuerung

Von Anna Schwenk (Berlin)

Zusammenfassung
Staatliche Jugendpolitik hat in Russland nicht nur die Funktion, politische Herrschaft unmittelbar zu sichern – durch Protestaktionen zur Unterstützung der Regierung. Sie dient auch der Verbreitung konservativer Denkmuster. Mit Hilfe aktivierender Techniken des »Selbst-Unternehmertums« soll eine Sphäre moralisch-konservativen und unternehmerischen Engagements geschaffen werden. Die Zukunft der Jugendpolitik wird eher im Ausbau dieser Sphäre liegen als in Versuchen, regierungstreue Aktivistinnengruppen wiederzubeleben.

Einleitung

Die diesjährigen Antikorruptionsproteste in Russland stellen Sinn und Zweck der bisherigen staatlichen Jugendpolitik in Frage. Eine aktive Jugendpolitik der Regierung war während des Wahlzyklus 2007/2008 vor allem als Mittel zum Machterhalt entstanden: Die Schaffung und Finanzierung von Jugendorganisationen wie »Naschi« (dt.: »Unsere«) sollte eine russische Version der Orangen Revolution in der Ukraine verhindern. Schon die regierungskritischen Proteste des Winters 2011/2012 waren daher von vielen Beobachtern auch als ein »Versagen« der jugendpolitischen Strategie der Regierung gedeutet worden, da regierungsfinanzierte Jugendorganisationen nur wenige regierungstreue Demonstrierenden mobilisieren konnten. Allerdings hatte Jugendpolitik schon seit Anfang der 2000er auf eine moralisch konservative Erneuerung des Landes abgezielt – als Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Liberalisierung der 1990er.

Der folgende Überblick über die jugendpolitische Entwicklung seit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 soll das Wechselspiel zwischen zwei Logiken verdeutlichen, nämlich regierungstreue Mobilisierung gegen äußere und innere Feinde einerseits und konservative Erneuerung für ein – im Verständnis der Regierung – starkes Russland andererseits. Diese Entwicklung lässt sich in vier Phasen unterteilen. Auf eine latente Phase, in der jugendpolitische Konzeptionen vor allem die als soziale Auflösungserscheinungen wahrgenommene Entwicklung der 1990er Jahre umkehren sollten, aber kaum konkret umgesetzt wurden, folgte ab 2005 eine Phase der Mobilisierung regierungstreuer Jugendorganisationen wie »Naschi«. Diese Jugendorganisationen sollten die angeblich durch internationale zivilgesellschaftliche Förderung bedrohte »Souveränität der Russländischen Föderation« verteidigen. Konkret bedeutete dies, die Machtposition der Regierung im Wahlzyklus 2007/2008 zu sichern. Nachdem dies gelungen war, wurden die regierungstreuen Jugendorganisationen demobilisiert. Nun setzte eine Phase jugendpolitischer Institutionalisierung ein, während derer jugendpolitische Programme allmählich allen jungen Erwachsenen zugänglich gemacht und der inhaltliche Fokus auf die Förderung von Unternehmertum gelenkt wurde. Bis heute versucht Jugendpolitik mit Techniken des Selbst-Unternehmertums junge Erwachsene im Sinne der Regierung zu aktivieren. Zum Einen soll die »talentierte Jugend« motiviert werden, vermarktbare Innovationen zu schaffen, um die Modernisierung der Volkswirtschaft voranzutreiben. Zum Anderen ermöglichen diese Techniken, junge Erwachsene aktiv am Aufbau einer Sphäre moralisch-konservativen gesellschaftlichen Engagements zu beteiligen.

Die Phase jugendpolitischer Institutionalisierung endete spätestens mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine 2014. Während der Schutz der »Souveränität Russlands« vor inneren und äußeren Bedrohungen seitdem wieder verstärkt die inhaltliche Ausrichtung der Jugendpolitik bestimmt, gibt es allerdings keine nennenswerten Versuche, regierungstreue Jugendorganisationen wie »Naschi« wiederzubeleben.

Jugendpolitik als Reaktion auf eine wahrgenommene »Verwahrlosung der Jugend«

Schon wenige Monate nachdem Putin im Januar 2000 in seiner Funktion als Premierminister verfassungsgemäß die Regierungsgeschäfte des aus dem Amt scheidenden Boris Jelzin übernommen hatte, folgten erste Versuche der Regierung, kremltreue Jugendorganisationen zu schaffen. Diese Organisationen sollten außerhalb der politischen Institutionen den neuen politischen Kurs unterstützen. Es entstand – wohl mit aktiver Unterstützung des stellvertretenden Leiters der Präsidialadministration, Wladislaw Surkow – die Jugendorganisation der »Gemeinsam Gehenden« (russ.: »Iduschtschije Wmeste«). Chef der Jugendorganisation wurde die spätere »Naschi«-Ikone Wassilij Jakemenko. Die »Gemeinsam Gehenden« sorgten vor allem mit medienwirksamen Aktionen für Furore, etwa mit dem Versenken von Büchern »moralisch verwerflichen Inhalts« in einer riesigen Toilette aus Pappmaché im Jahr 2002 (betroffen waren unter anderem Werke von Karl Marx, Wiktor Pelewin und Wladimir Sorokin). Solche Polit-Spektakel stießen in der Bevölkerung oft auf Ablehnung. Die kleinformatigen Freiwilligen-Aktionen der im gleichen Jahr gegründeten Organisation »Jugendliche Einigkeit« (russ.: »Molodjoschnoje Jedinstwo«) trafen den konservativen Zeitgeist weiter Bevölkerungsteile weitaus besser. Als Jugendorganisation jener Partei, die die Präsidentschaft Putins im Parlament stützte, setzten die Mitglieder auf konventionelle Formen gesellschaftlichen Engagements. Regionalgruppen der Organisation besuchten Waisenhäuser, engagierten sich in »Nein zu Drogen«-Kampagnen oder entsandten 2002 Arbeitsbrigaden Freiwilliger in die von Überschwemmungen betroffenen Regionen. Ein solches Engagement stellte ein positives Gegenprogramm zur in gesellschaftspolitischen Debatten thematisierten »Verwahrlosung der Jugend« dar. Neben dem Rückzug des Staates wurden in den Medien auch gesellschaftliche Apathie, die Verbreitung von Drogenkonsum und liberale Sexualaufklärung als Gründe für die wahrgenommene Verwahrlosung diskutiert. Das kleinformatige Engagement der Mitglieder der »Jugendliche Einigkeit« antwortete also moralisch konservativ auf grassierende Sorgen um die Jugend .

Diese Sorgen spiegelten sich auch im jugendpolitischen Programm des Jahres 2001 wider, das – neben dem Niedergang der physischen und psychischen Gesundheit der jungen Generation – die Zunahme von Kriminalität, Drogenhandel und Drogenabhängigkeit, aber auch die »Aufweichung moralisch-geistiger Werte« und Orientierungen beklagte. Dass der Wertekatalog, auf den das Programm referierte, weitgehend dem sowjetischen Moral-Kanon entsprach, wird anhand des ersten Programms für patriotische Erziehung (ebenfalls aus dem Jahr 2001) deutlich: In den 1990er Jahren hätten Gleichgültigkeit, Egoismus, Individualismus, Zynismus, und eine respektlose Einstellung zum Staat zugenommen, während ein »traditionelles russisches [auf den Staat bezogen; d. Red.] patriotisches Bewusstsein« verlorengegangen sei. Dementsprechend drangen die Autoren darauf, positive Identifikationen mit Russland und Loyalität gegenüber dem Vaterland zu fördern. Diese Konzeptionen wurden aber kaum in jugendpolitische Programme umgesetzt.

Erst im Zuge der Orangen Revolution in der Ukraine wurde »Jugend« zur politischen Schlüsselkategorie für die russische Regierung, da ein Großteil der orange gekleideten Protestierenden auf dem Kiewer Maidan junge Erwachsene waren. Ein durch Demonstrationen errungener Regierungswechsel, wie er 2005 in der Ukraine stattfand, wurde von der russischen Regierung gefürchtet und als »orange Bedrohung« gerahmt. Neben den Ereignissen in der Ukraine führten auch die Ausschreitungen in den Pariser Vororten desselben Jahres die potentielle Schlagkraft der Jugend vor Augen. Die »staatliche Jugendpolitik« wurde vor allem im Zuge dieser Ereignisse, die nicht nur die Sorge um die Jugend, sondern auch Angst vor ihr hervorriefen, zu einem eigenständigen Politikfeld föderalen und regionalen Regierens entwickelt. Vorrangiges Ziel staatlicher Jugendpolitik wurde die Leitung und Kanalisierung jugendlichen Elans und Engagements in »sozial nützliche« Initiativen und Jugendorganisationen, deren Ziele mit den Regierungsinteressen im Einklang stehen.

Regierungstreuer Protest zur Abwendung einer »Orangen Bedrohung« Russlands

Als Reaktion auf die Orange Revolution in der Ukraine setzte 2005 eine Phase der Politisierung und Mobilisierung junger Erwachsener ein. Vor allem in Moskau und St. Petersburg protestierten von der Regierung initiierte sowie »zivilisatorisch-nationalistische« Jugendorganisationen (die Russland als eine eigenständige, unvergleichbare Zivilisation betrachten, beispielsweise die »Eurasische Jugendunion«,) gegen die »orange Bedrohung« Russlands – mit finanzieller Unterstützung aus dem Regierungshaushalt. Konkretes Ziel war es, den Rückhalt für die Partei der Macht »Einiges Russland« und den Präsidenten unter jungen Russen zu symbolisieren und regierungskritischen Protest durch die zahlenmäßige Überlegenheit regierungstreuer Aktivisten (die mehrheitlich äußerst lose organisiert waren) zu marginalisieren. Dieses Ziel erlangte seine Dringlichkeit vor dem Hintergrund einer Behauptung, die damals vor allem durch völkische und zivilisatorisch-nationalistische Autoren verbreitet wurde: Bei der Orangen Revolution habe es sich um ein Komplott der radikalen ukrainischen Rechten (die in der Tat klassisch rassistische Positionen vertritt, aber nur eine kleine Minderheit der Protestierenden ausmachte), einer angeblich antirussischen »Orangen Koalition« sowie westlicher Stiftungen gehandelt. Letztere hätten im Namen der zivilgesellschaftlichen Förderung mit so genannten sanften Steuerungsmethoden junge Menschen in der Ukraine zum Protest verleitet.

Die bekannteste der damals entstandenen »antiorangen« Jugendorganisationen in Russland ist sicherlich »Naschi«, an deren »Branding« Wladislaw Surkow federführend beteiligt war. Von den 2000 gegründeten »Gemeinsam Gehenden« übernahmen »Naschi« nicht nur deren Chef Wassilij Jakemenko, sondern auch deren Faible für kontroverse Aktionen, die allerdings bei vielen Bürgern auch Ablehnung hervorriefen. Neu war hingegen der stark antifaschistische Anstrich, der der Organisation verpasst wurde. Der Beiname »Demokratische Antifaschistische Jugendbewegung« verweist auf die ideologische Nähe von »Naschi« zu zivilisatorisch-nationalistischen Vereinigungen und deren These eines konzertierten neofaschistischen Coups in der Ukraine. Die Bezeichnung »Naschi« eröffnete ein Freund-Feind-Schema, das an den »Großen Vaterländischen Krieg« (1941–45) erinnerte: Die Soldaten der Roten Armee wurden informell »naschi« genannt. Auch der Organisation »Jugendliche Einigkeit« wurde 2005 einer Neuprofilierung unterzogen, die auf den sowjetischen Kampf gegen den Faschismus rekurrierte. Ihre Umbenennung in »Junge Garde des Einigen Russland« (»Molodaja Gwardija Jedinoj Rossii«) erinnert an eine Komsomol-Untergrundorganisation, die während des Zweiten Weltkriegs im heutigen Gebiet Luhansk der deutschen Besatzung Widerstand leistete. Ein Großteil ihrer Mitglieder war von den Nazis exekutiert worden. Die Geschichte dieser »Jungen Garde« wurde zum sowjetischen Jugendbuchklassiker, dessen Verfilmung von 1948 in den folgenden Jahren mehr als 40 Millionen Zuschauer erreichte. Die »Junge Garde des Einigen Russland« und »Naschi« versuchten an diese Heroisierung des Kampfs gegen den Faschismus anzuknüpfen. Sie gingen in erster Linie gegen jene, vor allem junge, Russen vor, die eine Wiederwahl Putins – aus unterschiedlichen ideologischen Gründen – befürchteten.

Institutionalisierung der Jugendpolitik: Förderung von »Selbst-Unternehmertum« und moralisch konservative Erneuerung

Nach der Abwendung der »orangen Bedrohung« Russlands wurden einerseits regierungsfinanzierte Gruppen wie Naschi ab 2008 wieder demobilisiert; andererseits wurden jugendpolitische Programme allmählich allen jungen Erwachsenen zugänglich gemacht. Die Jugendpolitik förderte in dieser Phase Unternehmergeist mit dem unmittelbaren Ziel, möglichst viele junge Erwachsene zu einer Unternehmensgründung zu bewegen. Vor allem Fortbildungen in Projektmanagement und die Verbreitung selbst-unternehmerischen Denkens sollten junge Erwachsene zu aktiven Mitgestalterinnen einer neuen Sphäre moralisch konservativen Engagements machen. Der Begriff des Selbst-Unternehmertums meint, sich als Unternehmerin des eigenen Lebens zu begreifen, seine Fähigkeiten und sein Kapital – im Sinne einer Ich-AG – möglichst gewinnbringend zu nutzen.

Während Naschi offiziell erst im Frühjahr 2013 aufgelöst wurde, hatte der schleichende Niedergang der Organisation schon nach den Parlamentswahlen 2007 mit der Beförderung führender Aktivisten in den Regierungsapparat begonnen. Vor allem die neu gegründete Jugendbehörde Rosmolodjosch – Wassilij Jakemenko wurde zu ihrem Leiter ernannt – wurde zum Sammelbecken für Naschi-Aktivisten. Die Öffnung jugendpolitischer Programme, in den ersten Jahren noch von ehemaligen Naschi Mitgliedern konzipiert, allen voran das Sommercamp von Naschi am Seliger-See, standen seitdem unter dem Vorzeichen ökonomischer Modernisierung. Vor allem seit 2009 traten die Teilnehmer am Seliger-Sommercamp immer weniger als Naschi-Aktivistinnen auf. Stattdessen wurde die Förderung aller talentierter Erwachsener, ihres Selbst-Managements, unternehmerischen Handelns und ihrer Leadership-Kompetenzen (»liderstwo«) betont. Dieser Imagewechsel fand auch in der neuen Bezeichnung des Sommercamps seinen Ausdruck – »Allrussländisches Jugend-Bildungs-Forum«. »Forum« rekurriert auf das Weltwirtschaftsforum und die Gipfeltreffen der wachstumsstärksten Industrienationen. Für das Ziel der Regierung, Teil eines Clubs von wenigen führenden Industrienationen zu werden, war der kreative Input vieler junger Erwachsener gefragt – nicht nur der einer kleinen, fahnenschwenkenden kremltreuen Avantgarde.

Schon 2007, also noch während Putins Präsidentschaft, konzipierte das Wirtschaftsministerium den ersten Langzeitplan zur sozio-ökonomischen Entwicklung der Russischen Föderation, besser bekannt als »Strategie 2020«. Diese Strategie sah, im Einklang mit den von der Weltbank formulierten Empfehlungen für Wachstumsökonomien, eine innovationsgeleitete Entwicklung der Wirtschaft vor, mit Investitionen in Humankapital statt in Rohstoffabbau. Vor allem im Nachgang der Weltwirtschaftskrise erlangte der Grundgedanke der (mittlerweile von akademischen Experten überarbeiteten, aber nicht grundlegend veränderten) »Strategie 2020« weitreichende Bedeutung: Keine andere Volkswirtschaft der G20 hatte einen stärkeren Rückgang des BIP oder eine höhere Inflationsrate zu verzeichnen gehabt. Die Entkopplung der russischen Wirtschaftsleistung von Rohstoffexporten und der Aufbau alternativer Wirtschaftszweige wurden, besonders während der Präsidentschaft Medwedews, zu zentralen Anliegen der Regierung. Da man vor allem im Bereich der neuen Medien Chancen sah, russische Innovationen international zu vermarkten, wurden junge Erwachsene zu einer Schlüsselgruppe der Modernisierungspolitik. Ab 2008/ 2009 wurden jugendpolitische Strukturen institutionalisiert, um breiten Teilen der jungen Bevölkerung ein Könnensbewusstsein und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit zu vermitteln. Auch auf regionaler Ebene entstanden in dieser Zeit vor allem regierungsfinanzierte Jugend-Bildungs-Foren, deren Trainings talentierten jungen Erwachsenen Kompetenzen in Projekt- und Selbstmanagement vermitteln sollen (heute existieren über 30 davon in verschiedenen Föderationssubjekten). Methoden aus dem Neuro-Linguistischen Programmieren kommen bei diesen Trainings genauso zum Einsatz wie Spiele zur Stärkung des Selbstwertgefühls.

Die starke Bezugnahme auf den antifaschistischen Kampf »Russlands« zu Sowjetzeiten verblasste fast völlig hinter der neuen jugendpolitischen Botschaft: »Erfinde dich selbst (und deinen Job), verwirkliche dein Potential.« Diese inhaltliche Verschiebung spiegelte sich auch in der Bezeichnung der ab 2009 von der Jugendbehörde Rosmolodjosch geförderten Projekte wider, die junge Erwachsene direkt ansprechen und aktivieren sollten: »Du bist ein Unternehmer – starte deine Firma!«, »Sworykin-Projekt – Erfinde und Verkaufe!« (Wladimir Sworykin war Physiker und Erfinder), »Technologien des Guten – Sei menschlich!« oder »Komm, lauf mit mir! – Gesunder Lebensstil«.

Der Einzug aktivierender Techniken des Selbst-Unternehmertums in die Jugendpolitik bedeutete aber keinesfalls eine Abwendung vom moralisch konservativen Regierungsdiskurs. Selbstverwirklichung und unternehmerische Selbständigkeit wurden weniger als Werte an sich gefördert. Vielmehr wurden unternehmerisches Handeln und wirtschaftlicher Erfolg als ein Beitrag zum nationalen Gemeinwohl gerahmt, als Ausdruck eines »praktischen Patriotismus«. Wie es ein hochrangiger Mitarbeiter der Jugendbehörde Rosmolodjosch in einem Interview gegenüber der Autorin ausdrückte:

»Es gibt diesen Begriff des ›Progressors‹ [Entwicklers], desjenigen, der ein Gebiet entwickelt, der eine Gesellschaft nach vorn bewegt. Mir schien schon immer, dass eine unternehmerische Einstellung ideal ist für einen praktischen Patriotismus. Es ist eine Sache, im Stadion eine Flagge für die Heimat zu schwenken, aber eine andere, etwas Produktives zu tun und damit auch noch Geld zu verdienen.«

Mit ähnlichen Techniken aktivierenden Regierens und sanfter Steuerung, wie sie westliche Geldgeber bei der Förderung zivilgesellschaftlicher Entwicklung anwenden, wurde (und wird immer noch) versucht Engagement im Sinne der Regierung anzuregen. Beispielsweise können individuelle Antragssteller jugendpolitische Fördermittel für ihre spezifische Projektidee bekommen – auf regionaler und föderaler Ebene. Ganz im Sinne eines »gelenkten Pluralismus« kann man zwar als Antragsstellerin wählen, ob man eine Projektidee in den Bereichen gesunder Lebenswandel, Soziales, Design, Patriotismus, Nachbarschaft oder Wirtschaft realisieren möchte. Eine Förderung erhalten aber nur jene Projekte, die eine Veränderung anstreben, die der Regierungsideologie nicht zuwiderläuft, die also Herrschaftsverhältnisse (Mitbestimmungsrechte, Rassismus, Geschlechterverhältnisse) weitgehend ausblenden.

Vor allem auf regionaler Ebene trieb die Jugendpolitik in dieser Phase der Institutionalisierung auch die Etablierung von Freiwilligenarbeit voran. Regionale Jugendbehörden förderten nun vor allem jenes kleinformatige, ehrenamtliche Engagement, das schon Anfang der 2000er Jahre von der »Jugendlichen Einigkeit« favorisiert wurde und an sowjetische Vorbilder anknüpfte. Solche Freiwilligeninitiativen (die teils durch regionale Jugendbehörden gegründet wurden, teils schon bestanden und nun vermehrt Förderung erhielten) engagieren sich bis heute für die Unterstützung von Kriegsveteranen, besuchen Waisenhäuser, führen Aufräumaktionen in der Nachbarschaft durch oder propagieren einen gesunden Lebenswandel. So genannte studentische Brigaden unterstützen den Bau und die Durchführung von Großprojekten wie den Olympischen Spielen in Sotschi. Freiwilligeninitiativen für junge Erwachsene werden vor allem an Hochschulen und kommunalen Einrichtungen beworben und organisiert. Diese Verschränkung von jugendpolitischen Programmen und dem studentischen Leben an Hochschulen wird seit 2012 auch auf föderaler Ebene gefördert: Das Bildungsministerium schreibt jährlich Fördermittel zur Entwicklung studentischer Initiativen aus. Die Hochschulen erhalten also finanzielle Anreize, um Studierende zu aktivieren, sie also an gesellschaftliches Engagement heranzuführen und ihr (Selbst-)Unternehmertum zu fördern.

In derselben Phase entstanden aber auch kleine Freiwilligen-Patrouillen (beispielsweise von »StopCham« – »StoppRowdies«, »Lew Protiw« – »Der Löwe ist dagegen«, oder auch von »Mestnyje« – »die Hiesigen«), die, sowjetischen Komsomol-Patrouillen ähnlich, gegen Falschparker, Raucher oder als »illegal« gebrandmarkte Arbeitsmigrantinnen vorgehen. Diese Patrouillen werden aber, anders als die Freiwilligenarbeit, nicht direkt durch jugendpolitische Programme auf regionaler Ebene gefördert. Meist erhalten diese Gruppierungen Haushaltsmittel durch informelle Netzwerke ehemaliger Naschi-Aktivistinnen. Auch wenn das Aktionsrepertoire dieser Patrouillen ein ganz anderes ist als das der Freiwilligen (und mitunter auch den Regierenden missfällt – »StopCham« wurde aufgrund »grober Gesetzesverstöße« mittlerweile die Registrierung als nichtkommerzielle Organisation entzogen), ist ihre Vision einer »ordentlichen Gesellschaft« derjenigen der Freiwilligen nicht unähnlich. Denn auch die »guten Taten« der Freiwilligenorganisationen zielen auf eine moralisch konservative und eben keine emanzipatorische oder liberal-demokratische Erneuerung der Gesellschaft.

Nach der Abwendung der »Orangen Bedrohung« Russlands wurde Jugendpolitik also vor allem zum Förderinstrument (selbst-)unternehmerischen Handelns. Jugendpolitik sollte einerseits ganz direkt die Modernisierung der Volkswirtschaft vorantreiben, andererseits aber auch ermöglichen, junge Erwachsene aktiv am Aufbau einer Sphäre moralisch-konservativen gesellschaftlichen Engagements zu beteiligen.

Krieg in der Ostukraine: Jugendpolitische Strukturen als Kommunikationskanäle

Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine begann 2014 eine Phase erneuter jugendpolitischer Mobilisierung. Projektmanagement und die Förderung von Selbst-Unternehmertum blieben zwar weiterhin das zentrale Standbein der Jugendpolitik, doch die institutionalisierten jugendpolitischen Strukturen wurden nun als Kommunikationskanäle genutzt, um die Behauptung eines neofaschistischen Coups in der Ukraine zu verbreiten. Im Unterschied zur Orangen Revolution unterstützten nun auch Regierungsmitglieder öffentlich diese Behauptung. Vor allem auf den regierungsfinanzierten Jugendforen wird seitdem eine staatlich-völkische russische Mission für eine multipolare Weltordnung und das Recht auf traditionelle Lebensführung in allgemeinen Ansprachen betont. Im Jahr 2014 wurde beispielsweise Conchita Wursts Sieg beim »Eurovision Song Contest« auf verschiedenen regionalen Jugendforen als Beleg für den Niedergang Europas angeführt. In Seminaren über Geschichtsfälschungen versuchte man zu zeigen, dass die unipolare Weltordnung nach 1989 zu mehr Kriegen geführt habe, als die bipolare des Kalten Kriegs, oder dass die Russische Föderation allein aufgrund ihrer Größe einer Machtvertikale bedürfe. Während ab 2014 also die Mobilisierung gegen vermeintliche innere und äußere Bedrohungen erneut die inhaltliche Ausrichtung der Jugendpolitik bestimmt, hat es allerdings keine nennenswerten Versuche gegeben, eine neue kremltreue Avantgarde zu schaffen.

Auch die jüngsten Proteste scheinen daran nichts geändert zu haben. Statt der Wiederbelebung regierungsfinanzierter Jugendorganisationen wie »Naschi« wird die Verschränkung jugendpolitischer Programme mit öffentlichen Bildungsinstitutionen, halbstaatlichen Einrichtungen wie Gesellschaftskammern und gewerkschaftsähnlichen Berufsverbänden weiter ausgebaut. Beispielsweise soll die Freiwilligenarbeit, bisher vor allem durch die Jugendbehörde Rosmolodjosch koordiniert, zukünftig ressortübergreifend organisiert werden. Noch dieses Jahr ist geplant, ein seit 2013 diskutiertes, umstrittenes Gesetz für Freiwilligenarbeit zu verabschieden. Es sieht, ähnlich der NGO-Gesetzgebung, den Aufbau eines staatlichen Systems des Freiwilligenengagements sowie eine Registration aller Freiwilligen vor.

Fazit

Die zukünftige Entwicklung der Jugendpolitik scheint weniger auf eine direkte Verhinderung von regierungskritischem Protest zu zielen – hier dienen mittlerweile als Instrument vor allem die NGO- und Demonstrationsgesetzgebung sowie die Gesetze zur Extremismusbekämpfung. Jugendpolitik dürfte sich eher an der partizipativen Einbindung weiter Bevölkerungsteile in eine moralisch-konservative Sphäre gesellschaftlichen Engagements und unternehmerischen Wirkens versuchen.

Lesetipps / Bibliographie

  • Hemment, Julie: Youth Politics in Putin’s Russia: Producing Patriots and Entrepreneurs. Bloomington: Indiana University Press 2015.
  • Bikbov, Aleksandr: Offizieller Traditionalismus und Protestalternativen in Russland, in: Religion und Gesellschaft in Ost und West, 43.2015, Nr. 4–5, S. 20–22.
  • Bröckling, Ulrich: Das Unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.

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