Erinnern und Vergessen: Wie Russland heute der Oktoberrevolution gedenkt

Von Ekaterina Makhotina (Bonn)

Zusammenfassung
Die Russische Revolution ist im Jahr 2017 eher ein Objekt des Vergessens, als eines des Erinnerns. Auf der Ebene der Geschichtspolitik wird als Lehre der Revolution die Versöhnung und Einheit beschworen. In der Gesellschaft selbst gibt es kaum Interesse an den Ereignissen vor hundert Jahren. Lediglich die Kommunisten halten am Gründungsmythos des Sowjetstaates, dem »Roten Oktober« fest. Aber auch im kommunistischen Diskurs wird der Macher der Revolution, Wladimir Lenin, von seinem Nachfolger Josef Stalin in den Schatten gestellt.

Matrix der Verdrängung

Die Frage, wie an die Russische Revolution 1917 erinnert wird, müsste eigentlich lauten: »Wie wird die Revolution vergessen?« Für Erinnerungshistoriker sind Erinnern und Vergessen unauflöslich miteinander verbunden, es sind zwei Seiten einer Medaille: Der Raum für bewusste Erinnerung wird erst durch das Vergessen anderer Elemente geschaffen. Die Revolution 1917 stellt im heutigen Russland eher ein Objekt der Vergessensforschung und Verdrängungskultur dar, denn ein Bestandteil einer aktiven Erinnerungspolitik.

Das offizielle Beschweigen dieses Weltereignisses steht im deutlichen Gegensatz dazu, wie das Jahr 1917 von Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Von den einen wurde sie als verheißungsvoller Auftakt einer neuen Zeit, ein Aufbruch in eine bessere Zukunft aufgefasst, von anderen als fürchterliche Strafe Gottes, aber es war der zentrale Gegenstand intellektueller Bemühungen dieser Zeit.

Nichts davon ist heute wahrnehmbar. Die Revolution wird provinzialisiert und als Putsch einer fanatischen Minderheit, der Partei der Bolschewiki marginalisiert. Die gesamten revolutionären Prozesse im russischen Reich im letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts werden auf die bolschewistische Machtübernahme vom 25./26. Oktober 1917 (7./8. November nach gregorianischem Kalender) in Petrograd reduziert. Zumindest wird die Revolution in Russland nicht als globales Weltereignis erinnert, sondern als Chaos, das zum Zerfall des Kaiserreichs und Bürgerkrieg geführt hat.

In jeder anderen Großstadt Europas – von Amsterdam bis Zürich – sieht man im öffentlichen Raum mehr Spuren des 100. Jubiläums, als in Moskau oder St. Petersburg. Weder hier noch dort wurde die Revolution in die touristische Infrastruktur integriert. Zwar gibt es thematische Ausstellungen und wissenschaftliche Vortragsreihen, aber man vermisst – vor allem in St. Petersburg, der "Wiege der Revolutionen" – ein breit aufgestelltes, auf ein Laienpublikum gerichtetes Programm, welches von der Zentralität des Ereignisses für das gesellschaftliche Leben zeugen würde.

Die Beobachtung, dass die Revolution verdrängt und vergessen wird, berührt unmittelbar die Frage nach den Inhalten, an die man sich stattdessen "aktiv erinnert". Hier lohnt sich der Blick nicht nur auf die Geschichtspolitik (also staatliches Handeln, das bisweilen die Hegemonie einer bestimmten Interpretation der Vergangenheit anstrebt), sondern auch auf die verschiedenen gesellschaftlichen Interpretationen.

Russische Revolution im Schatten …

… militärischen Ruhmes

Die offizielle Haltung des Staates zum Jahr 1917 besteht in der Beteuerung von Versöhnung und nationaler Eintracht als wichtigster Lehre der Revolution. Für den Kreml war dieses Jubiläum zwar unbequem, ganz ausblenden könnte man es jedoch auch nicht. Erst sehr spät, Ende des Jahres 2016, begann der Kreml mit den Vorbereitungen zu Jubiläumsfeierlichkeiten und formulierte den Slogan des Gedenkjahres: "Die Revolution darf sich nicht wiederholen!".

So formulierte Wladimir Putin in seiner Rede vor der Föderalversammlung die Hauptlinie des Erinnerungsdiskurses für das Gedenkjahr 2017 – elf Monate vor dem Jahrestag der Oktoberrevolution und nur zwei Monate vor dem Tag der Februarrevolution. Der Vergleich mit den langfristigen Vorbereitungen für andere Feierlichkeiten, wie beispielsweise den "Tag des Sieges" (9. Mai 1945), macht den stiefmütterlichen Umgang des Kremls mit dem Thema Revolution deutlich. Mit der Umsetzung des Programms für die Gedenkfeiern betraute Putin die "Russische Historische Gesellschaft", eine semistaatliche Institution unter dem Vorsitz seines Vertrauten Sergej Naryschkin. Das Motiv der Versöhnung soll auch in Denkmalform verfestigt werden: Für den 4. November dieses Jahres ist die Eröffnung eines Versöhnungsdenkmals in Sewastopol auf der Krim geplant (Der 4. November war 2005 anstelle des "Tags der Oktoberrevolution" (7. November) als Tag der Einheit des Volkes zum Feiertag erklärt worden). Dieses Denkmal soll, so Kulturminister Wladimir Medinskij, an die Opfer beider Seiten im Bürgerkrieg erinnern und die Tragik der nationalen Spaltung im Jahr 1917 vermitteln. Die Revolutionsangst, die offiziell vermittelt wird, würde durch eine Fokussierung der Erinnerung auf die Folgen der Revolution – den Bürgerkrieg und den Zerfall der Staatlichkeit – verstärkt. Demgegenüber wird die "Stabilität" und ein starker Staat unter Putin gepriesen. Die offizielle Funktionalisierung der Revolutionserinnerung ist im Kontext der russischen Innenpolitik zu sehen. Es klingt wie eine verbale "Konterrevolution" in Bezug auf die Oktoberrevolution, wenn nicht soziale Gerechtigkeit und Demokratie als Ideale der Gegenwart hochgehalten werden, sondern Patriotismus und traditionelle Werte. Das Erinnern an das Jahr 1917 beschränkt sich auf die Dämonisierung der Revolution als politische Praxis, stattdessen werden das Mantra der "Evolution statt Revolution" und die Stabilität hochgehalten. Durch den Hinweis auf die "farbigen Revolutionen" in vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken sollen Schreckensszenarien von Chaos, Bürgerkrieg und Blutvergießen im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert werden. In dieser Deutung werden die Bolschewiki also nicht wegen ihres Kampfes für den Kommunismus kritisiert, sondern wegen ihres "Unpatriotismus" und des "nationalen Verrates". Mit Lenins Internationalismus, weit bekannt durch seinen Satz "Es geht nicht um Russland, darauf pfeife ich, meine Herrschaften", können weder Kreml noch die meisten Russen etwas anfangen. Populismus ist ein Stichwort, das fällt, wenn über die Funktionsweise der Geschichtspolitik gesprochen wird. Diese besteht, sehr allgemein gesprochen, aus einem selektiven Rückgriff auf die ruhmreichen Ereignisse der russischen "tausendjährigen Geschichte". Dieser Strategie folgend, werden Motive ausgewählt, die die aktuellen Machtverhältnisse legitimieren. Im Zentrum des Narrativs steht der Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" 1941-1945. Zugleich spielt auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Erinnerung eine große Rolle: Das Vermitteln des offiziellen Diskurses wäre dann erfolgreich, wenn es bei einem breiten gesellschaftlichen Spektrum – von Sowjetnostalgikern bis zu Liberalen – auf Zustimmung trifft. Die Entscheidung, am 7. November 2017 eine Militärparade zu Ehren der Revolutionsparade am 7. November 1941 in Moskau abzuhalten, weist unmissverständlich auf den Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz hin. Weder Kommunisten noch ihre Kritiker werden die Bedeutung der Abwehr der Wehrmacht von Moskau im Dezember 1941 in Zweifel ziehen (die Parade hatte hier eine wichtige Mobilisierungsfunktion). So wird am 7. November zwar gefeiert, aber es hängt mit der Revolution nur mittelbar zusammen. Eine weitere Taktik, die Erinnerung an die Revolution vereinbar zu halten, besteht in der Kompromissfindung bei der Begriffsfrage. Die zum Teil gegensätzlichen Begriffe (vom "Großen Oktober" bis zum "Putsch") sind von der Kommission, die sich mit der Ausarbeitung des einheitlichen Schulbuchs befasst, auf einen Nenner gebracht worden: "Große Russische Revolution". Mit diesem Begriff werden die Februarrevolution, die Oktoberrevolution und die Zeit dazwischen zusammengefasst. Das Kapitel, das die Jahre 1914 – 1922 behandelt, heißt "Große Erschütterungen". Die Revolution wird gleichsam von den beiden Kriegen, dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg, umrahmt, was ihren tragischen Charakter betonen soll.

… des Imperiums

In der national-konservativen Interpretation wird die Revolution als Katastrophe gedeutet, die von Feinden des russischen Volkes ausgetragen wurde. Die Bolschewiki erscheinen als Vertreter feindlicher, ausländischer Interessen, haben sie doch ein westliches, den Russen "wesensfremdes" Ideengebäude, den Kommunismus, etabliert und die Staatlichkeit (das Russische Kaiserreich) zerstört. Das "Desaster von 1917" war in diesem Modell die Folge subjektiver Faktoren und irrational handelnder Personen, wie der bolschewistischen "Fanatiker", der Freimaurer, der jüdischen Verschwörung oder ausländischer Agenten. Da die Größe des Staates als Bewertungsmaßstab dient, erscheint der Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" dann doch eher als etwas, was die Konservativen mit der sowjetischen Macht versöhnen könnte. Schließlich habe das sowjetische "Imperium" seine größte Ausdehnung als Folge des Zweiten Weltkrieges erfahren.

… des Jahres 1937

Während in der oben aufgeführten Interpretation die Revolution im Schatten von 1945 steht, steht sie in der liberalen Deutung im Schatten von 1937. Hier gibt es eine strikte Trennung zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution. Während die Februarrevolution als Reaktion auf eine tiefe Systemkrise des Zarenreiches interpretiert und somit als folgerichtig und unumgänglich gedeutet wird, erklärt es den Oktober zum gewaltsamen Umsturz einer Partei, die es lediglich im richtigen Moment verstanden hatte, das Volk zu mobilisieren. Die Februarrevolution erlebte als Durchbruch der Demokratie im Oktober 1917 ihr Scheitern und das Land erfuhr den Beginn einer totalitären und verbrecherischen Entwicklung. Bei der Betrachtung der Oktoberrevolution liegt der Fokus auf den Instrumenten der Gewalt und des Terrors, die seit der Machtübernahme der Bolschewiki geschaffen wurden. Das verbrecherische Morden Stalins im Großen Terror erscheint hier als logische Folge der Oktoberrevolution 1917.

… Stalins

Es sind lediglich die Kommunisten in Russland – die "Kommunistische Partei der Russischen Föderation" (KPRF) seit 1993 und die Partei "Kommunisten Russlands" (seit 2012) -, die die Oktoberrevolution, Kommunismus und Lenin als positive Erinnerung aufrechterhalten. Schließlich können die Kommunisten nicht zulassen, dass Wladimir Lenin, der Anführer der Sozialistischen Revolution, oder der Gründungsmythos des Sowjetstaates – der "Rote Oktober" – einer absoluten Verdammung anheimfällt. Lenin ist als "Anführer des Weltproletariats" bei Kommunisten ein unverzichtbares Symbol. Für die politische Praxis ziehen die Kommunisten jedoch Stalinsche politische Ideen vor. Es mag einen wundern, dass in Russland auf dem "linken" politischen Flügel Stalin und nicht Lenin populärer ist. Setzt man sich mit der Ideologie der Kommunisten von heute auseinander, wird die Ambivalenz deutlich: Ihre Ideologie ist sowjetnostalgisch und an national-konservative Positionen angelehnt. So ist es Stalin, der Lenin im Jahr 2017 in den Schatten stellt. Er tritt als Symbol der Kapitalismuskritik auf, als "großer Führer" und "gerechter Herrscher". Wenn Kommunisten auf ihren Antikorruptionsplakaten mit Stalin werben, dann setzen sie die "Ordnung" unter Stalin dem "entfesselten", "korrumpierten", vom Westen aufgenötigten Kapitalismus entgegen.

… des Liebeslebens des Zaren

Es ist paradox, dass die diesjährige Diskussion zum Gedenken an die Revolution einem sowjetischen Muster folgt, bei dem die Februarrevolution aus dem Blick fällt. Lediglich im März dieses Jahres, und vor allem von Seiten der Liberalen, wurde dem russischen Auf bruch Richtung Demokratie Aufmerksamkeit geschenkt. Danach verschwand der Februar wieder in den Historikerarchiven. Die mit ihm verbundenen demokratischen Freiheiten, die Meinungs- und Pressefreiheit verdienen offensichtlich keine geschichtspolitische Referenz. In diesem Kontext ist das Auftreten der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) und orthodoxer Aktivisten als Erinnerungsakteure in Bezug auf die Revolution von beträchtlicher Bedeutung. Es liefert auch die Erklärung dafür, warum die Diskussion um die Bedeutung und das Erbe der Revolution durch die Diskussion um den Film "Matilda" von Alexei Utschitel verdrängt wurde. Der Film, gedreht mit russischen und deutschen Schauspielern, erzählt die Geschichte der Liebesbeziehung von Nikolaj Romanow, dem späteren Zaren Nikolaj II., zu der Balletttänzerin Matilda Kschesinskaja vor der Hochzeit des Zaren mit Alexandra Fjodorowna. So harmlos und menschlich die auf wahre Gegebenheiten gestützte Geschichte auch erscheint, werden der Film und seine Produzenten von ROK-Aktivisten und der Duma-Abgeordneten Natalja Poklonskaja heftig angefeindet. Seit mehreren Wochen laufen in russischen Städten Protestaktionen gegen den Film. Die Erzählung über den heiliggesprochenen Zaren als Menschen wird als Entweihung, Verleumdung und Beschmutzung der Ehre Russlands gedeutet. Ein Nebeneffekt davon ist wiederum, dass von der Hundertjahrfeier abgelenkt wird. Die Verdrängungskultur existiert neben einer populären und konsumorientierten Exotisierung der Revolution. Rote Farbe und Revolution, Soc-Art samt Lenin- und Trotzki-Nippes sind hip und werden zu Konsum- und Unterhaltungszwecken auf bereitet. Dies heißt aber längst nicht, dass hinter dieser Vergegenwärtigung eine tiefere Reflexion steht. Jedenfalls ist es sinnfällig, dass ein Ereignis, das die Weltgeschichte entscheidend geprägt hat, im heutigen Russland als exotischer Kitsch und entfremdete Symbolik erscheint. Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit Russland mit seinem Unbehagen durch die Revolution etwas Einzigartiges darstellt. Es wird abzuwarten sein, wie Deutschland im nächsten Jahr das Jubiläum der Revolution von 1918 begehen wird. Der linke Intellektuelle Mikhail Iampolski hat jüngst den globalen Zeitgeist formuliert: "Das linke Erbe hat zugunsten des rechten Populismus ausgedient." Zum Teil gilt das auch für die Führung Russlands.

Lesetipps / Bibliographie

  • Schlögel, Karl: Das Sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt, München, 2017.
  • Makhotina, Ekaterina: Keine Experimente. Die Revolution 1917 in Russlands Geschichtspolitik. In: Revolution retour. Vorwärts, und stets vergessen, in: Osteuropa, 2017, Nr. 6–8, S. 211–232.

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