Putins Nachfolgeproblem

Von Jens Siegert (Moskau)

Große Überraschung, Wladimir Putin kandidiert bei den kommenden Präsidentenwahlen erneut. Und noch größere Überraschung: Er wird gewinnen! Es trifft also ein, was alle angenommen haben, was so selbstverständlich ist, dass selbst die Idee, es hätte anders kommen können, nicht nur absurd, sondern schrecklich gewesen wäre. Hinter dieser Selbstverständlichkeit verbirgt sich aber ein großes Problem, für Putin wahrscheinlich das größte: Wladimir Putin kann gar nicht abtreten. Selbst wenn er nicht mehr kandidierte, müsste er trotzdem bleiben, wie 2008, als, nach zwei von der Verfassung erlaubten Amtszeiten, Dmitrij Medwedew für vier Jahre Präsident unter Premierminister Putin wurde.

Wladimir Putin ist so eng mit dem ja auch meist nach ihm benannten politischen System in Russland verbunden, dass es, jedenfalls ist das die Annahme vieler Beobachter, ohne ihn wohl zusammenbrechen würde. Anders und politologischer ausgedrückt, hat er es, so das stimmt, nicht geschafft, das Nachfolgeproblem zu lösen, also das Grundproblem jeder personalisierten autoritären politischen Herrschaft. Wie kann die Macht in solch einem System weitergegeben werden, ohne dessen Stabilität zu gefährden? In demokratischen politischen Systemen sind es die staatlichen Institutionen (sowie der Glaube an ihre Funktionsfähigkeit und dass sie richtig, beziehungsweise legitim sind), die das Nachfolgeproblem erst gar nicht entstehen lassen. Es gibt Wahlen und dann neue Staatsoberhäupter und Regierungschefs, die ihre Legitimität aus diesen anerkannten Verfahren ziehen.

Für autoritäre Systeme ist das Nachfolgeproblem auch nach dem Ende der meisten echten, also nicht konstitutionellen Monarchien weit schwieriger zu lösen. Auch wenn es, wie die Geschichte immer wieder zeigt, nicht unlösbar ist. Es geht zum Beispiel so, wie die Kommunistische Partei Chinas es bisher gemacht hat, mit ihren regelmäßigen Wechseln, im System vorgesehenen Wechseln an der Spitze (auch wenn sie sich jüngst mit der neuen Machtfülle von Xi Jinping auf möglicherweise gefährliche Abwege begeben hat). Beispiel par excellence außerhalb der kommunistischen Welt ist immer noch die mexikanische PRI (»Partei der Institutionalisierten Revolution«), die ebenfalls und noch vor den chinesischen Kommunisten die Präsidentenmacht auf streng eine Amtszeit begrenzt hatte und damit von 1929 bis 2000, also 71 Jahre an der Macht blieb. Bei den Chinesen funktioniert das (immer) noch. Die PRI musste freilich die Macht nach echten Wahlen abgeben.

Auch in Russland ist die Stabilisierung politischer Herrschaft im 20. Jahrhundert fast 70 Jahre lang gelungen. Hier bildete die Kommunistische Partei (KPdSU) mit ihrem System des sogenannten Demokratischen Zentralismus (an sich schon ein Oxymoron) das Rückgrat. Sie und nur sie bestimmte nach zwar internen aber einigermaßen festen Regeln, wer bis ganz nach oben aufrücken konnte. Zwar gab es keine zeitliche Begrenzung der Herrschaftszeiten (bis auf den abgesetzten Nikita Chruschtschow und Michail Gorbatschow ganz am Ende konnten die Herrscher zuerst sterben und erst danach wurde die Nachfolge geregelt), aber es gab mit der KPdSU eine Institution, der sie zumindest formal und öffentlich rechenschaftspflichtig blieben und die stark (und klug) genug war, die Nachfolge ohne allzu große und vor allem allzu blutige Machtkämpfe zu regeln.

Nichts von alledem hat Wladimir Putin zur Verfügung und ist daran selbst schuld. Als die ersten postsowjetischen Versuche, eine neue »Partei der Macht« aufzubauen Mitte der 1990er Jahre nicht so recht erfolgreich verliefen (sie hieß damals »Unser Haus Russland« und war der Vorvorläufer der gegenwärtigen Kremlpartei »Einiges Russland«), klagte der damalige Premierminister Wiktor Tschernomyrdin, ein Aphoristiker vor dem Herrn, zwar halb im Scherz: Wie man es auch versuche, immer käme die KPdSU dabei heraus. Aber das Problem war ja gerade, dass schon damals gar keine Partei dabei herauskam, sondern maximal ein Präsidenten-Wahlverein. So ähnlich geht es auch Wladimir Putin mit dem »Einigen Russland«. Das hat vor allem damit zu tun, dass es die ausschließliche Funktion der Partei ist, den Präsidenten Putin zu unterstützen. Politik (und damit auch Ideologie) wird ausschließlich in der Präsidentenadministration gemacht.

Die Lage ist also umgekehrt wie in der Sowjetunion. Sollte die Partei sterben, bleibt alles beim Alten. Sollte aber Putin gehen (müssen), stirbt sehr wahrscheinlich auch die Partei. Doch nicht nur das. Das gesamte politische System bezieht seine Legitimität inzwischen fast ausschließlich aus der Popularität Wladimir Putins. Als Putin nicht Präsident war, sondern als Premierminister das Land führte, baute er sich dazu mit der sogenannten »Volksfront« eine Parallelstruktur zum Einigen Russland auf, die noch stärker ihm und nur ihm ergeben ist. Bisher ist es gut gegangen, die Stabilität des politischen Systems, ja des ganzen Landes an eine Person zu binden. Es bleibt aber ein grundsätzliches und eben auch ein ganz praktisches Problem.

Um das zu verdeutlichen, hier ein kurzer Rückblick: 2000 ist Wladimir Putin mit drei Versprechen angetreten: die sogenannte Machtvertikale des Staates wiederherzustellen, einer Herrschaft des Rechts zum Durchbruch zu verhelfen und die territoriale Integrität des Landes (russisch: »zelostnost«) zu schützen. Mit den Zielen eins und drei reagierte Putin auf den in den 1990er Jahren seiner Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht nachkommenden Staat und die Furcht vor einem weiteren Zerfall Russlands nach dem Ende der Sowjetunion. Beide Ziele hat er in den Augen einer großen Mehrheit der Menschen im Land erreicht. Ziel zwei, die Herrschaft des Rechts ist dagegen nicht so recht vorangekommen. Man könnte sogar sagen, dass es statt der Herrschaft des Rechts heute eine Herrschaft über das Recht gibt.

Doch Letzteres hat sich als nicht sonderlich wichtig erwiesen. Der ohnehin auch in den 1990er Jahren nie sonderlich funktionierende und also auch nur wenig Legitimität generierende russische Rechtsstaat wurde durch das Wirtschaftswachstum der 2000er Jahre ersetzt. Aus diesem Gegensatz entstand der oft zitierte ungeschriebene Gesellschaftsvertrag, nach dem der Staat (also Putin) Politik monopolisiert und über den Reichtum des Landes nach seinem Gutdünken (auch dem Gutdünken, es ausgewählten sogenannten Oligarchen der 1990er Jahre zu nehmen und anderen zu lassen) verfügen kann, während er gleichzeitig dafür sorgt, dass es allen Menschen im Land (das allen ist wichtig) jedes Jahr wirtschaftlich ein wenig besser geht. Außerdem mischt er, der Staat, sich nicht in die privaten Angelegenheiten der Menschen ein. Putins Russland der 2000er Jahre war ein ausgesprochen unideologischer Staat, ein Staat, der von seinen Bürgern keine ideologische Gefolgschaft forderte, wohl aber politische Abstinenz.

Diese Konstruktion brach in Folge der Wirtschaftskrise ab 2009 zusammen. Immer weniger Menschen glauben seither an Putins wichtigstes Zukunftsversprechen, den stetigen wachsenden Wohlstand für alle. Sehr viele waren auch durch das nicht eingelöste Modernisierungsversprechen des Übergangspräsidenten Medwedew enttäuscht (Putin nahm das Wort »Modernisierung« in den Jahren des Medwedewschen Modernisierungsdiskurses kaum in den Mund). Der Rückwechsel von Medwedew zu Putin, die herrschaftliche Art seines Vollzugs und die dreisten Wahlfälschungen bei der Dumawahl am 4. Dezember 2011 brachten damals ein Fass zum Überlaufen. Die Proteste im Winter 2011/2012 waren die größten seit der Perestroika und machten den Machthabenden richtig Angst. Metaphorisch gesprochen kündigten beiden Seiten den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag. Die Protestierenden verlangten Beteiligung an der Politik. Der Staat antwortete mit einer Rückkehr von Ideologie und politischer Repression.

Das half zwar, die Macht zu sichern, aber der stetige, wenn auch langsame Rückgang der Zustimmung zu Wladimir Putin in Meinungsumfragen, der 2010/2011 begonnen hatte, setzte sich trotzdem fort und wurde erst mit der Annexion der Krim, dem Krieg in der Ostukraine und der offenen Konfrontation mit dem Westen gestoppt. Das allerdings spektakulär erfolgreich. Seither schwebt Putin in selbst vorher nie erreichten Höhen von 80-Prozent-plus-Zustimmung.

Nun kontrastiert diese zeitweise fast euphorische Zustimmung eigentümlich mit der politischen und wirtschaftlichen Situation im Lande. Einer kleinen wirtschaftlichen Erholung bis 2013 folgte eine Rezession bis 2016. Erst dieses Jahr wird es wieder ein kleines Wachstum von 1,6 bis 1,8 Prozent geben, für 2018 erwarten die einen ein Wachstum von 2 Prozent, andere warnen vor einer Rückkehr der gerade erst überwundenen Rezession. Die Wende nach Osten, nach China, direkt nach der Krimannexion 2014 verkündet und mit einem Dumpinggasdeal besiegelt, kommt nicht so recht voran. Die Chinesen haben sich nicht als die erhofften Partner erwiesen, sondern nutzen nüchtern und hart die russische Not. Zudem sind die Investitionen in den vergangenen drei Jahren um 30 Prozent gefallen (ich beziehe mich hier und im Folgenden auf einen Vortrag von Natalja Subarewitsch beim 12. Grünen Russlandforum Anfang Dezember in Moskau). Mehr noch: Während die Investitionen im ohnehin reichen und bevorzugten Moskau, in St. Petersburg und in den Öl- und Gasregionen in diesem Zeitraum leicht gestiegen sind, sanken sie in den klassischen Industrieregionen noch stärker als im Mittel. Entsprechend hängt das Staatsbudget erneut zu mehr als 60 Prozent von den Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport ab und weist zudem ein deutliches Sicherheitsungleichgewicht auf: 23 Prozent für das Militär und weitere 12 Prozent für andere Sicherheitsdienste. Das vom Staatshaushalt zu stopfende Loch in der Rentenkasse hat mittlerweile 50 Prozent erreicht und wird demographisch bedingt weiterwachsen.

Trotz alledem bleibt die Zustimmung zu Putin in Umfragen hoch. Lew Gudkow, Direktor des »Lewada-Zentrums«, hat dafür eine einfache, mir aber einleuchtende Erklärung. Putin sei schlicht der »Präsident der letzten Hoffnung«. Wobei sich diese Hoffnung, unter staatlicher Regie, immer mehr auf die Vergangenheit denn auf die Zukunft zu beziehen scheint. Fast alle ideologischen Anstrengungen sind rückwärtsgewandt. Das gilt für das Propagieren traditioneller Werte ebenso wie für die Geschichtserzählung eines angeblich seit 1.000 Jahren von außen bedrohten Russland, dass sich immer nur verteidigt und dann moralisch einwandfreie Siege errungen habe. Erst der Deutschritterorden, dann fast zeitgleich, nur länger, die Tataren, dann die Polen und Litauer, dann die Schweden, Napoléon und zum Schluss wieder die Deutschen, jedes Jahrhundert hat Eindringlinge gesehen, die nur mit der Einigkeit aller Russen abgewehrt werden konnte. Gudkow fasst zusammen, dass der Kreml unter Putin heute keine Utopie einer hellen Zukunft anbiete (wie noch die Bolschewiki), sondern nur noch die Utopie einer hellen Vergangenheit.

Was heißt das nun für die kommenden Wahlen? Die Zustimmung zu Wladimir Putin ist vor allem deshalb so hoch, weil viele Menschen in Russland es ihm zuschreiben, die (echten wie eingebildeten) Wunden der 1990er Jahre geheilt oder zumindest den von ihnen ausgehenden Schmerz mit dem Balsam angeblicher neuer russischer Größe gelindert zu haben. Putin ist also nicht nur, wie Gudkow sagt, ein »Präsident der letzten Hoffnung«, sondern zu einer Art Heilsbringer aufgestiegen. Genau so wird er von den staatlichen und den vom Staat kontrollierten Medien, also vor allem dem Fernsehen, präsentiert. Am vergangenen Wochenende fuhren die Fernsehmagazine zum Abschluss der politischen Woche groß auf: Ein Arzt, ein junger Freiwilliger, ein Arbeiter, ein Ingenieur, noch ein junger Freiwilliger, ein Offizier, eine Melkerin, noch ein Arbeiter, ein Traktorist, ein Wissenschaftler und wieder ein junger Freiwilliger, sie alle sangen das hohe Lied vom Präsidenten, der Russland wieder groß gemacht habe. Alles war schlecht, dann kam Putin und hat alles geheilt. Alles, was diese Leute geschafft und geschaffen haben, haben sie nur tun können, weil Putin ihnen zur Seite stand, ist die Botschaft. Sowjetischer geht es kaum. Und höher können die Latten auch kaum gelegt werden.

Denn das alles bedingt die Notwendigkeit, bei den kommenden Wahlen ein Ergebnis zu bekommen, das diesem fast schon Heiligen-Status Putins entspricht. Die 63 Prozent, die er vor knapp sechs Jahren im Frühjahr 2012 erhalten hat, waren damals, nach den Winterprotesten und in einer – gemessen an den zuvor die Proteste auslösenden Dumawahlen – maßvoll manipulierten Wahl, ein Sieg über die aufmüpfige Opposition. Ein ähnliches Ergebnis im kommenden März würde angesichts der Zustimmung von 80 Prozent und mehr dagegen weithin als Niederlage interpretiert werden, mindestens aber als Beginn des Abstiegs. Schon jetzt beginnen überall die Diskussionen darüber, dass das wohl die letzte Amtszeit Putins sein werde und man nun beginnen müsse, sich auf die Zeit nach ihm vorzubereiten.

Hinzu kommt, dass der Kreml offenbar fürchtet, die Wahlen könnten von vielen Menschen erneut, wie vor sechs Jahren, als nicht legitim genug bewertet werden. Anfang Dezember versammelte der stellvertretende Kreml-Administrationschef Sergej Kirijenko alle stellvertretenden Gouverneure im Kreml. Sie sind in den Regionen für die Durchführung der Wahlen verantwortlich. Kirijenko mahnte saubere Wahlen an. Wer Wahlfälschungen zulasse, werde bestraft. Der Pressedienst des Kremls will uns das ausdrücklich wissen lassen. Die Botschaft soll dann wohl sein, dass das erwartete sehr gute Ergebnis von Wladimir Putin bei den Wahlen auch tatsächlich dem Volkswillen entspricht.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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