Warum Russland bei der Bekämpfung von HIV und Aids scheitert

Von Ulla Pape (Institut für Europastudien, Universität Bremen)

Zusammenfassung
Während der Kampf gegen HIV und Aids weltweit große Fortschritte erzielt, steigt im Gegensatz dazu die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Russland stetig an. Mit über einer Million HIV-Kranken hat Russland einen bedauernswerten Höchststand erreicht. Durch politische Versäumnisse, eine mangelnde medizinische Versorgung und Negierung der Problematik sind die Aussichten düster, trotz international bewährter Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie.

Einführung

Russlands Aids-Epidemie ist in den vergangenen 15 Jahren beängstigend schnell vorangeschritten. Während es bis Mitte der 1990er Jahre kaum HIV-Infektionen in Russland gab, ist die Zahl der Infizierten in den letzten Jahren rasant gestiegen. Nach den Zahlen des Föderalen Aids-Zentrums vom September 2017 hat insgesamt die Anzahl der Menschen mit HIV in Russland im vergangenen Jahr die Millionen-Marke überschritten. In einigen Regionen, besonders im Wolgagebiet und in Sibirien, wird die Aids-Epidemie inzwischen als »allgemein« bezeichnet. Dies bedeutet, dass sich das Virus nicht mehr allein auf Hochrisikogruppen, wie zum Beispiel Drogenabhängige, SexarbeiterInnen oder Männer, die Sex mit Männer haben, beschränkt, sondern auf die allgemeine Bevölkerung erstreckt. Immer häufiger wird HIV bei jungen Russen diagnostiziert, die sich in keinerlei Weise darüber bewusst waren, dass die Epidemie sie selbst betreffen könnte.

Die wichtigste Ursache für die starke Verbreitung von HIV in Russland ist politischer Art. Seit Jahren hat es die russische Regierung versäumt, systematische und umfangreiche Präventionsarbeit zu leisten. Nichtregierungsorganisationen im Bereich von HIV und Aids werden im besten Falle toleriert, häufig jedoch von staatlichen Stellen behindert oder ausgegrenzt. Nichtstaatliche Aids-Organisationen haben so gut wie keine Chance, staatliche Förderung für ihre Sozialprogramme zu erhalten, und sind aufgrund ihrer internationalen Kontakte und Finanzierung zudem der Gefahr ausgesetzt, unter das »Ausländische-Agenten«-Gesetz zu fallen. Obwohl die Organisationen häufig gute Arbeit auf lokaler Ebene leisten, gelingt es ihnen aufgrund von Finanzierungsproblemen meist nicht, Präventionsprogramme in größerem Maßstab anzubieten. Präventionsarbeit in Russland bleibt daher häufig lückenhaft und ist darum zumeist nur der bekannte »Tropfen auf den heißen Stein«.

Für eine wirkungsvolle Bekämpfung von HIV/Aids in Russland fehlt es besonders an Programmen für Drogenabhängige und SexarbeiterInnen sowie andere Bevölkerungsgruppen, die besonders von der Epidemie betroffen sind. Hier könnte durch gute Gesundheitsarbeit, wie zum Beispiel durch sogenannte Spritzentauschprogramme, viel erreicht werden. Aber auch allgemeine Öffentlichkeitskampagnen zum Thema HIV/Aids und Aufklärungsprogramme für junge Menschen gibt es kaum. Ein besonderes Problem stellt die Prävention und Behandlung von HIV innerhalb der schwulen Gemeinschaft dar, da diese Gruppe in Russland von einer doppelten Diskriminierung als Homosexuelle und potentiell HIV-Infizierte betroffen ist.

Da es jedoch in Russland bislang an dem politischen Willen fehlt, die Empfehlungen internationaler Gesundheitsorganisationen aufzugreifen und wirkungsvolle Präventionsprogramme umzusetzen, wird sich die Aids-Epidemie vermutlich auch in Zukunft ungehindert in Russland ausbreiten. Dies ist umso bedauerlicher, als dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt viele Ansätze in der HIV-Prävention gibt, deren Wirksamkeit sich in langjähriger Praxis erwiesen hat. Obwohl wir mit den Worten von Peter Piot, des früheren UNAIDS-Direktors, »wissen, was wirkt«, entzieht sich Russland der Erfahrung internationaler Gesundheitspolitik und nimmt damit eine weitere Ausbreitung der Epidemie in Kauf.

Russlands HIV- und Aids-Epidemie

Schaut man sich die Entwicklung der russischen HIV- und Aids-Epidemie an, so fällt auf, dass die Epidemie das Land bzw. die Gesamtregion wesentlich später erreichte als die USA und Westeuropa, wo die ersten Fälle von HIV-Infektionen in den frühen 1980er Jahren festgestellt wurden. In der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten blieben die Infektionsraten bis Mitte der 1990er Jahre auf äußerst niedrigem Niveau. Der dann einsetzende rasante Anstieg der Infektionsraten in der Region ist eng mit den sozialökonomischen Schwierigkeiten der post-sowjetischen Transformation verbunden. Auf der einen Seite führten die Umbrüche zu einem Anstieg risikoreichen Verhaltens in der Bevölkerung, wie zum Beispiel Drogengebrauch, ungeschützte Sexualkontakte, Prostitution, Alkohol und Gewalt. Zum anderen nahm die staatliche Steuerungsfähigkeit mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Gesundheitssystems stark ab, was zur Folge hatte, dass staatliche Präventions- und Behandlungsprogramme für Menschen mit HIV nur auf äußerst dürftigen Niveau eingerichtet wurden.

Auch pfadabhängige Faktoren waren für den Anstieg der Epidemie im post-sowjetischen Raum verantwortlich. Das sowjetische Gesundheitssystem basierte im Wesentlichen auf Verboten und Kontrolle und kannte keinen Raum für gesundheitliche Aufklärung, Eigenverantwortung und ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Durch die patriarchale Prägung der Gesundheitspolitik war die Bevölkerung in Russland und anderen Staaten der früheren Sowjetunion nur schlecht auf den Umgang mit neuen Risiken wie zum Beispiel Drogen oder sexuell übertragbaren Krankheiten vorbereitet.

Seit dem Beginn der 2000er Jahre ist die Verbreitung von HIV im post-sowjetischen Raum eng mit intravenösem Drogengebrauch verbunden. Innerhalb der Region verzeichnet Russland die höchste Anzahl von Menschen, die intravenös Drogen konsumieren. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) betrug ihre Anzahl 2015 insgesamt 1,8 Millionen Menschen, was einem Anteil von 2,3 Prozent der russischen Bevölkerung im Erwachsenenalter entspricht. Durch die enge Verbindung zum intravenösen Drogengebrauch betraf HIV in Russland zunächst Männer im jungen bis mittlerem Alter. In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Bild der Epidemie jedoch verändert. Es lässt sich eine Zunahme der Übertragung durch sexuelle Kontakte feststellen, wodurch auch der Anteil der Frauen innerhalb der Gruppe von Menschen mit HIV ansteigt und staatlichen Angaben zufolge 2015 insgesamt 38 Prozent der Neuinfektionen ausmachte.

Mit dem Fortschreiten der Epidemie und der Unterversorgung in der medizinischen Behandlung ist in den letzten Jahren auch die Anzahl der Menschen gestiegen, die an den Folgen einer HIV-Infektion sterben. 2014 starben in Russland 24,000 Menschen an Aids. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Ko-Infektionen mit Tuberkulose sowie Todesfälle von Menschen mit HIV, die auf Drogengebrauch zurückzuführen sind, nicht eingerechnet sind.

Das Versagen der staatlichen Aids-Politik in Russland

Die Ausbreitung von HIV in Russland ist das Ergebnis einer verfehlten Politik. Dies ist erstaunlich, da das Problem seit langem bekannt ist. 2006 bezeichnete Präsident Putin den Kampf gegen die Aids-Epidemie in einer Rede vor dem Sicherheitsrat Russlands als eine Priorität für Russland. Diesen Worten sind jedoch keine Taten gefolgt. Das Problem wird weiterhin von den politischen Entscheidungsträgern in Russland vernachlässigt.

Die wesentlichen Schwachstellen der staatlichen Aids-Politik in Russland umfassen drei Bereiche. Zum einen fehlt es an allgemeinen Informations- und Präventionskampagnen, vor allem für junge Menschen. Internationale Gesundheitsorganisationen wie die WHO und UNAIDS befürworten eine kulturell angepasste Aufnahme von Aufklärungsprogrammen in das Curriculum weiterführender Schulen, da diese es ermöglichen, wichtige Informationen einem breiten Kreis von Heranwachsenden zur Verfügung zu stellen und die allgemeine Sensibilisierung in Bezug auf Sexualität und Gesundheit zu stärken. Auch in Russland gab es in den 1990er Jahren Bestrebungen, Sexualkundeunterricht in den Schulen einen festen Platz zu geben. Russische Wissenschaftler, unter anderem der bekannte Sexualwissenschaftler und Soziologe Igor Kon, setzten sich für die Entwicklung von russischen Programmen zur Sexualaufklärung ein. Ihre Anstrengungen scheiterten jedoch am Widerstand der Russischen Orthodoxen Kirche und anderer konservativer Akteure. Bis heute gibt es keinen Sexualkundeunterricht an russischen Schulen, obwohl die Programme eine vergleichsweise kostengünstige Möglichkeit bieten könnten, Heranwachsende über Gesundheit und sexuell übertragbare Infektionen zu informieren. Auch allgemeine Medien- und Aufklärungskampagnen in Bezug auf HIV und Aids finden nur im begrenzten Umfang statt. Der allgemeine Informationsstand der russischen Bevölkerung in Bezug auf HIV und Aids ist daher niedrig. Viele Menschen nehmen HIV als ein Randgruppenproblem wahr.

Eine zweite wichtige Schwachstelle in der staatlichen Aids-Politik ist das Fehlen von Präventionsprogrammen für besonders betroffene Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel Drogennutzer und SexarbeiterInnen. Spritzentauschprogramme und andere spezielle Präventionsprogramme für diese Zielgruppen werden in Russland entweder nicht angeboten oder finden nur auf lokaler Ebene in einem sehr begrenzten Umfang statt, der es nicht ermöglicht, einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Epidemie zu leisten. Sogenannte Substitutionsprogramme, die einen Ausstieg aus der Drogenabhängigkeit oder zumindest eine Stärkung der Gesundheitssituation der Betroffenen ermöglichen sollen, sind in Russland im Gegensatz zu anderen Ländern des postsowjetischen Raums rechtlich untersagt. Dies führt zu einer gesundheitlichen Unterversorgung von Drogennutzern, welche die russische HIV- und Aids-Epidemie weiterhin in Gang hält.

In einem Interview anlässlich des Welt-Aids-Tages 2017 argumentierte der Direktor der gemeinnützigen Organisation »SPID-Zentr« (Aids-Zentrum) Anton Krasowskij, dass die russische Aids-Politik gescheitert sei, da die Regierung nicht bereit sei, die der Epidemie zugrundeliegenden Ursachen vollständig anzuerkennen. Krasowskij benennt vor allem das Fehlen von Gesundheits- und Präventionsprogrammen für Drogennutzer als Hauptproblem in der Bekämpfung der HIV- und Aids-Epidemie in Russland.

Es ist auffällig, dass Russland auch im Vergleich mit den Nachbarländern Belarus und Ukraine im Kampf gegen die Epidemie zurückfällt, obwohl die finanzielle Ausstattung seines Gesundheitssystems einen größeren Handlungsspielraum erlaubt. Dieser Umstand wird von Kraswskij und anderen Gesundheitsexperten auf die Ablehnung von evidenzbasierten Gesundheits- und Präventionsprogrammen zurückgeführt. Andere Länder der Region, wie zum Beispiel Belarus und die Ukraine, haben sich für eine pragmatischere Politik im Umgang mit HIV entschieden und können, besonders was die Bekämpfung von HIV in der Zielgruppe von Drogennutzern betrifft, erste Erfolge vorweisen.

Das dritte Hindernis im Umgang mit HIV und Aids in Russland betrifft den Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen, die mit HIV leben. Durch die sogenannte antiretrovirale Therapie kann das Fortschreiten einer HIV-Infektion aufgehalten werden, was sowohl die Überlebensdauer des betroffenen Patienten erhöht als auch das Übertragungsrisiko bei konsequenter Behandlung auf Null senkt. Internationale Gesundheitsorganisationen empfehlen daher die sogenannte 90-90-90-Strategie: 90 Prozent aller HIV-Infizierten sollten ihren Status kennen, 90 Prozent aller Diagnostizierten sollten Zugang zu Behandlung haben, und bei 90 Prozent der Behandelten sollte kein Virus mehr nachweisbar sein.

Russland kann dieser Empfehlung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einmal annährend entsprechen. Nach Einschätzungen von Gesundheitsexperten liegt der Anteil der Menschen mit HIV, die in Russland Zugang zur antiretroviralen Therapie haben, zwischen 17 und 26 Prozent, was sogar deutlich geringer als der weltweite Durchschnitt von 46 Prozent ist. Besonders Drogennutzer und andere Randgruppen der Gesellschaft haben es schwer, einen Platz in einem staatlichen Behandlungsprogramm zu erhalten, obwohl die kostenlose Behandlung von HIV in Russland gesetzlich festgeschrieben ist. Hinzu kommen logistische Probleme in der Versorgung mit HIV-Medikamenten. In vielen russischen Regionen kommt es regelmäßig zu Versorgungsengpässen in staatlichen Behandlungszentren, die dazu führen, dass Betroffene ihre Behandlung aussetzen oder abbrechen müssen.

Folge dieser staatlich verursachten Engpässe ist eine »Privatisierung« bei der Behandlung von HIV. Betroffene mit den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten nehmen ihre Behandlung (mit Hilfe von behandelnden Ärzten) selbst in die Hand und kaufen die nötigen Medikamente in Europa oder Indien. Darüber hinaus sind im Internet Tauschbörsen entstanden, auf denen HIV-Medikamente bei Bedarf zwischen Regionen getauscht werden können. Diese privaten Initiativen stärken das Solidaritätsgefühl in der Gruppe der Betroffenen, können jedoch das grundsätzliche Gerechtigkeitsproblem in Bezug auf den Zugang zu der lebensverlängernden Behandlung nicht beheben. Aufgrund der steigenden Infektionszahlen wird die Anzahl der Menschen in Russland, die auf antiretrovirale Therapie angewiesen sind, in Zukunft weiter steigen. Obwohl die russische Regierung den Zugang zur Behandlung als Priorität erkannt hat, ist die Finanzierung der staatlichen Behandlungsprogramme nicht erhöht worden, was dazu führt, dass sich die Schere zwischen Behandlungsbedarf und den Kapazitäten weiter vergrößern wird. Durch den geringen Zugang zur Behandlung steigt auch die Sterblichkeitsrate durch HIV und Aids in Russland.

Stigma und Diskriminierung

Die Verbreitung von HIV und Aids in Russland ist eng mit dem Problem der Stigmatisierung und Diskriminierung verbunden. Menschen mit HIV sind in Russland auf zweierlei Weise von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen. Zum einen bezieht sich das Stigma auf die HIV-Infektion als solche, zum anderen auf die sozialen Gruppen, die mit der Infektion in Verbindung gebracht werden. Menschen mit HIV sind daher vielen Einschränkungen unterworfen. Viele Betroffene in Russland berichten von Kündigungen, Problemen mit Vermietern oder Nachbarn, Diskriminierung in gesundheitlichen Institutionen sowie anderen rechtlichen und sozialen Problemen. Bevölkerungsgruppen, die als soziale Randgruppen wahrgenommen werden, erhalten nur erschwert Zugang zu medizinischer und sozialer Hilfe.

Die LGBT-Bewegung in Russland hat es besonders schwer in Bezug auf HIV und Aids. Obwohl aus anderen Ländern allgemein bekannt ist, dass homo- und bisexuelle Männer besonders von HIV und Aids betroffen sind, gibt es in Russland kaum Präventions- und Gesundheitsprogramme für diese Zielgruppe. In der staatlichen Aids-Statistik wird die Gruppe von Männern, die Sex mit Männern haben, nicht als gesonderte Kategorie aufgeführt, was bedeutet, dass es keine verlässlichen Daten über die Infektionsraten in dieser Zielgruppe gibt. Durch das Stigma, mit dem Homosexualität verbunden ist, vermeiden es Betroffene in staatlichen Behandlungszentren, ihre Homo- oder Bisexualität zu erwähnen, was erheblich zur Untererfassung der Zielgruppe beiträgt. Die Arbeit von nichtstaatlichen Organisationen, die sich auf Präventions- und Gesundheitsprogramme für homo- und bisexuelle Männer richten, wird durch die russische Gesetzeslage und durch die allgemeine Homophobie in der russischen Gesellschaft erschwert.

Fazit: Russlands Aids-Epidemie wird weiter fortschreiten

Der entscheidende Faktor für die stetig zunehmende Ausbreitung von HIV in Russland ist der fehlende politische Wille, die Epidemie mit evidenzbasierten Präventions- und Gesundheitsprogrammen zu bekämpfen. Die Selbstisolierung Russlands führt auch zu einer Abwendung von internationalen Empfehlungen und Programmen zur Bekämpfung von HIV und Aids. Die Prognosen für die Zukunft sind daher düster. Bereits heute ist Russland weltweit eines der wenigen Länder, in dem die Aids-Epidemie nicht unter Kontrolle ist, sondern weiterhin fortschreitet. Bei einer fortgesetzten Weigerung, Präventionsprogramme einzuführen, muss auch in der Zukunft mit einem weiteren Anstieg der HIV-Infektionszahlen in Russland gerechnet werden.

Lesetipps / Bibliographie


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