Einleitung
In dem bekannten Musical Anatevka nach dem Roman »Tevje, der Milchmann« von Scholem Alejchem fragt Tevje in einer der Episoden seine Frau Golde nach vielen Jahren Ehe plötzlich: »Liebst du mich?«. Verdutzt erwidert sie: »Ob ich dich liebe? Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich deine Kleider gewaschen, dir Essen gekocht, dein Haus geputzt, dir Kinder geschenkt, die Kuh gemolken. Warum redest du jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, von Liebe?«. Die russischen Präsidentschaftswahlen werden dieses Jahr am 18. März stattfinden, am Jahrestag der offiziellen Eingliederung der Krim und mit Präsident Putin seit fast 20 Jahren an der Macht. Rhetorisch – um die Metapher fortzuführen – fragen die Wahlen, ob die russischen Wähler den Präsidenten immer noch unterstützen, jetzt, da der Effekt des »Sich-um-die Flagge-scharen« abgeebbt ist.
Neben Wladimir Putin gehen altbekannte Gesichter ins Rennen (Wladimir Schirinowskij von der LDPR, Sergej Baburin, der die Kleinstpartei »Russische Union des ganzen Volkes« vertritt, und Grigorij Jawlinskij von »Jabloko«), aber es gibt auch neue Gesichter. Zum einen ist da Ksenija Sobtschak mit ihrer »Bürgerinitiative«. Sie ist die Tochter von Putins ehemaligen Chef Anatolij Sobtschak und hat sich als »Kandidatin gegen alle« präsentiert. Dann kandidieren Pawel Grudinin, der für die KPRF als Kandidat an die Stelle von Gennadij Sjuganow getreten ist, und eindeutige Spoiler-Kandidaten wie Boris Titov von der »Wachstumspartei« und Maxim Surajkin, ein weiterer Kommunist.
Die Frage ist deshalb rhetorisch, weil niemand Zweifel hat, dass der Wahlausgang von vornherein feststeht. Die Frage ist jedoch: Warum werden die Wahlen eigentlich abgehalten? Und worin liegt deren Zweck für die Machthaber?
Wahlen: Stütze oder Falle?
Es besteht die Ansicht, dass in autoritären Regimen Wahlen ein zweischneidiges Schwert sind, das einerseits der Aufrechterhaltung der autoritären Herrschaft dienen soll, das sich aber andererseits unter bestimmten Umständen gegen seinen Herren richten kann. Einige behaupten sogar, dass wiederholte Wahlen Politiker und Wähler allmählich sozialisieren und an einem bestimmten Punkt das Regime demokratisieren würden. Allerdings gibt es genügend Hinweise, die dieser Ansicht entgegenstehen. Wiederholte Wahlen in Russland (Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen) scheinen nicht zu einer Liberalisierung des Regimes zu führen. In autoritären Regimen bedeuten Wahlen auf vielfältige Weise eine Unterstützung: Sie verringern die Ungewissheit, die in allen nichtdemokratischen Regimen um sich greift, sie kooptieren Eliten und sie spalten die Opposition.
In dieser Hinsicht erfüllen die Parlamentswahlen in Russland eine Reihe von nützlichen Funktionen: Sie verteilen Macht, verteilen »Beute« und spalten die Opposition. 2003 absorbierte »Einiges Russland« eine große Zahl unabhängiger Mandatsträger sowie Abgeordneter anderer Parteien, 2007 implodierte die politische Bühne, die sich dabei auf vier »Systemparteien« reduzierte und die stärkeren Oppositionskräfte ausschaltete. 2011 liefen die Dumawahlen aus dem Ruder und führten zur massenhaften Protestbewegung »Für faire Wahlen«.
Neue Wahl- und Parteigesetze öffneten danach de jure die politische Bühne für andere Parteien. »Einiges Russland« kam bei den Dumawahlen im September 2016 mit 54 Prozent der Stimmen noch einmal mit einem blauen Auge davon, wobei es eine geringere Wahlbeteiligung, eine dürftige Berichterstattung in den Medien und in der Frühphase des Wahlgangs eine größere Anzahl von Spoiler-Parteien gab. Die Parlamentswahlen von 2003 waren auf Machtverteilung und weitreichende Kooptierung gerichtet. Die Wahlen von 2007, 2011 und 2016 sollten ein glaubwürdiges Signal der Stärke des Regimes senden. 2011 war die Regierung allerdings nicht in der Lage, dies zu erreichen.
Signal der Stärke
Die Rolle der Präsidentschaftswahlen bei der Aufrechterhaltung des autoritären Regimes unterscheidet sich von der Rolle der Parlamentswahlen und ist eng mit dem jeweils vorhandenen Ausmaß von präsidentieller Macht und Personalisierung verknüpft. In parteigestützten autoritären Regimen dienen Präsidentschaftswahlen vor allem zur internen Personalrotation und zur Informationsgewinnung, wie in Mexiko unter der »Partei der institutionalisierten Revolution« (PRI) oder in Tansania unter der »Chama-Cha Mapenduzi« (CCM; dt.: »Partei der Revolution«). Der Grad an Personalisierung ist in solchen Regimen begrenzt. Die Entwicklungsbahn des politischen Regimes in Russland hingegen verläuft in Richtung eines personalisierten autoritären Regimes, in dem Präsidentschaftswahlen darauf abzielen, dass das Regime seine Muskeln zeigt und die Unbesiegbarkeit des Regimes signalisiert.
Wladimir Putin kandidiert jetzt für seine letzte verfassungsgemäße Amtszeit als Präsident und versucht, mit erneuter Vehemenz seine politische Stärke zu signalisieren. Eine Kooptierung von Eliten spielt bei diesen Wahlen keine allzu große Rolle, da hier nur eine Person für das Amt kandidieren kann. Gleichwohl ist die Fähigkeit, ein starkes und überzeugendes Signal an die Eliten, die Wähler und die internationale Gemeinschaft zu senden, für Putins politisches Überleben und seine Pläne zur Machterhaltung von größter Bedeutung. Die verschiedenen Gruppen in der Elite sollen ein weiteres Mal verinnerlichen, dass der Amtsinhaber längst noch keine lahme Ente ist, dass er immer noch die Unterstützung der Bevölkerung besitzt und weiterhin als wichtigster Vermittler bei Verhandlungen und Konflikten innerhalb der Eliten fungiert.
Den Wählern soll vermittelt werden, dass es keine echte Alternative zu Putin gibt und die überwältigende Mehrheit der Mitbürger den Amtsinhaber begeistert unterstützt, selbst wenn einige (wenige) das nicht tun. Anhänger der Opposition würden die Botschaft empfangen, dass sie sich tief in Feindesland befinden und ihr Widerstand zwecklos ist. Schließlich würden die Entscheidungsträger im Ausland einen weiteren Beleg erhalten, dass Wladimir Putin ungeachtet seiner widersprüchlichen Außenpolitik massenhafte Unterstützung in der Bevölkerung genießt, sein wichtigstes politisches Kapital.
Die Frage der Wahlbeteiligung
Der Ausgang der anstehenden Wahlen im März lässt keine nennenswerte Spannung aufkommen. Die führenden Umfrageinstitute FOM und WZIOM veröffentlichen zu erwartende Stimmenanteile Putins von über 70 Prozent. Dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut »Lewada-Zentrum« ist es wegen seiner Einstufung als »ausländischer Agent« verboten, seine Umfrageergebnisse zu veröffentlichen. Das eigentlich Spannende entwickelt sich allerdings um die Frage der zu erwartenden Wahlbeteiligung, die ja das Ausmaß der massiven politischen Zustimmung demonstrieren soll, die der Präsident erfährt. Bei diesen Wahlen sind also die Zahlen zur Wahlbeteiligung verknüpft mit den Wahlergebnissen jene entscheidenden Parameter, die es zu maximieren gilt und die die Gouverneure der russischen Regionen sicherzustellen haben.
Laut den vorläufigen Berechnungen von FOM und WZIOM ist eine außerordentlich hohe Wahlbeteiligung zu erwarten, nämlich rund 80 Prozent. Wenn die tatsächlichen Zahlen dicht an diese Schätzungen herankommen, würde das Regime in Russland in dieser Hinsicht in die Nähe von Ländern rücken, in denen zur Wahl zu gehen kein Recht, sondern Pflicht ist, und wo das Nichterscheinen im Wahllokal empfindliche Strafen nach sich zieht. Die Zentrale Wahlkommission wie auch die Regional- und Kommunalverwaltungen legen sich mit allen Mitteln ins Zeug, um möglichst viele Wähler zu mobilisieren.
Im Januar und Februar dieses Jahres erhielten Tausende Wahlberechtigte persönliche E-Mails mit einer Erinnerung, dass sie ihren Stimmzettel abgeben können, auch wenn sie nicht dort wohnen, wo sie gemeldet sind. Oder sie erhielten Besuch von Mitarbeitern der Kommunalverwaltung oder Mitgliedern der Wahlkommission im Stimmbezirk. Die Zentrale Wahlkommission plant, 700 Millionen Rubel [umgerechnet knapp 10 Mio. Euro] auszugeben, um die Bevölkerung über die Möglichkeit der Stimmabgabe zu informieren. Die Zeitung »Wedomosti« berichtete, dass russische spin-doctors und Wahlfachleute beauftragt wurden, Vorschläge zu unterbreiten, wie die Wahlbeteiligung erhöht werden kann (<https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2018/02/15/751020-yavka-vibori>). Bei den anstehenden Wahlen sollen Wähler durch Unterhaltungsangebote mobilisiert werden, und durch ein breites Angebot an neuen Kandidaten, vor allem solchen mit widersprüchlichem politischen Hintergrund wie der TV-Prominenten Ksenija Sobtschak.
Die Frage des Boykotts
Der Wettbewerb bei den Wahlen erscheint unfair, wenn die Opposition an einer Teilnahme gehindert wird. Alexej Nawalnyj und seine Anhänger haben eine landesweite Kampagne zum Boykott der Wahlen gestartet, einen »Wählerstreik«, da Alexej Nawalnyj es nicht geschafft hatte, sich als Präsidentschaftskandidat registrieren zu lassen. Wenn eine hohe Wahlbeteiligung das Hauptziel des Kreml ist, dann trifft die Boykottkampagne den Plan, möglichst viele Wähler zu mobilisieren, in seinem Kern.
In dieser Hinsicht ist es keine Überraschung, dass die Anführer von »Jabloko« (einer der Parteien der Systemopposition, denen eine Teilnahme an der Wahl gestattet wurde) erklären, die Boykottaufrufe zielten in die falsche Richtung. Folgt man deren Logik, sind Wahlverweigerer nicht besser als jene, die eh nicht zur Wahl gehen. Boris Wischnewskij formuliert es in der Nowaja Gaseta so: »[…] wenn die oppositionellen Wähler nicht bei vielen Wahlen der letzten Jahre ›gestreikt‹ hätten, würden wir jetzt ein anderes Parlament haben, und vielleicht auch einen anderen Präsidenten« (<https://www.novayagazeta.ru/articles/2018/02/22/75592-privesti-svoih-ottolknut-chuzhih>).
»Bürgerinitiative«, die Partei von Ksenija Sobtschak, und Pawel Grudinin von der KPRF vertreten den gleichen Ansatz: Oppositionelle Wähler sollten trotzdem zur Urne gehen, um für ihre Sache einzustehen und ihre Bürgerpflicht zu erfüllen. Aussagen solcher Art zeigen deutlich, wie die Präsidentschaftswahlen die Opposition spalten, indem einigen eine Kandidatur erlaubt wird und man anderen eine Teilnahme verwehrt.
Boykotte verringern die Wahrscheinlichkeit, dass es nach den Wahlen zu Protesten kommt, da die Wähler ja bereits wissen, dass die Wahlen nicht internationalen Standards genügen. Ein Wahlboykott kann aber unter personalisierter Herrschaft und unter bestimmten Bedingungen die vom Regime angestrebte Signalfunktion stören und womöglich mit Blick auf die Wähler und die internationale Gemeinschaft in stärkerem Maße einen Ansehensverlust bedeuten. Da Alexej Nawalnyj über keine Alternative verfügt, erscheint seine Strategie rational.
Abgleiten in Personalismus
Die erheblichen präsidialen Machtbefugnisse und die Personalisierung, d. h. die Abhängigkeit der russischen Politik von der Person Putins, reduzieren das Demokratisierungspotential von Wahlen. Es sollte aber auch berücksichtigt werden, dass der Grad der Personalisierung in den vergangenen zwei Jahrzehnten zugenommen hat. Das politische Regime in Russland hat sich seit 2000 von fehlgeschlagenen Versuchen, eine funktionierende »Partei der Macht« aufzubauen, hin zu einem kaum gezügelten Personalismus entwickelt.
Dementsprechend hat sich die Rolle von Wahlen und Wahlbeteiligung verändert. So ist der Indikator der Beschränkungen und Kontrollen der höheren Ebenen der politischen Exekutive dem »Polity«-Projekt zufolge von fünf im Jahre 1992 (was auf erhebliche Beschränkungen für die Exekutive verweist) auf drei (geringe bis mittlere Beschränkung) in den Jahren 1993 bis 1999 zurückgegangen. Nach 2000 bewegte sich der »Polity«-Indikator wieder zurück auf »erhebliche Beschränkungen«. Nach 2007 wurden die Beschränkungen wieder schwächer. Die Grafik im Anschluss an diesen Text zeigt die Ausschläge des »Polity-IV«-Index für Demokratie, der von –10 bis +10 reicht und bei dem 10 für rundum vollwertige Demokratien steht. Die Beschränkungen für die Exekutive sind eine Komponente des »Polity-IV«-Index, bei der gemessen wird, inwieweit die Exekutive im Zuge der demokratischen Gewaltenteilung institutionell durch Judikative, Legislative und andere politische Akteure Beschränkungen unterworfen ist. Mit anderen Worten: Das politische Regime in Russland hat seit 2007 die Funktionalität (und Neutralität) seiner Institutionen wieder verloren.
Die Personalisierung und die Deinstitutionalisierung gingen nach 2007 weiter. Der Polity-Indikator erfasst nur institutionelle Dimensionen, die sich auch in Gesetzen widerspiegeln. Betrachten wir allerdings die Veränderungen, die es bei den Nominierungsverfahren für Präsidentschaftswahlen gegeben hat, so erkennen wir, dass Dmitrij Medwedew 2008 von »Einiges Russland« nominiert und von einer Reihe anderer Parteien unterstützt wurde. Wladimir Putin wurde 2011 von »Einiges Russland« nominiert. 2017/18 kandidiert er allerdings als Unabhängiger. Diese kleinen Änderungen spiegeln die anhaltende Deinstitutionalisierung und die Schwächung der übrigen Parteistrukturen wider. Eine weitere Personalisierung der Macht dürfte unweigerlich die signalgebende Rolle der Wahlbeteiligung und die Spaltung der oppositionellen Wählerschaft und Parteien verstärken. Gleiches gilt für die Rolle der russischen Präsidentschaftswahlen als Anlass, die Muskeln spielen zu lassen.
Angesichts der Signal- und Spaltfunktion dieser Wahlen haben wir bereits eine dramatische Ungleichheit hinsichtlich des Zugangs auf die Wahlbühne feststellen können, die sich in der selektiven Anwendung der Gesetzgebung widerspiegelt. Wir können im Zusammenhang mit der Wählermobilisierung eine Zunahme der Unregelmäßigkeiten erwarten, und zwar einen massiven Einsatz administrativer Ressourcen und der Mobilisierung am Arbeitsplatz. Falls die reale Wahlbeteiligung dennoch geringer ausfällt, dürften auch die nachträglichen Manipulationen zunehmen, etwa durch Fälschungen bei der Ermittlung des Wahlergebnisses oder der Erstellung der Wahlprotokolle.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder