Die Rolle der russischen Systemopposition bei den Präsidentschaftswahlen: Antreten für den Status Quo

Von Paul Bochtler (Humboldt-Universität zu Berlin), Theresa Lütkefend (Humboldt-Universität zu Berlin)

Zusammenfassung
Nach sechs Jahren im Amt hofft Wladimir Putin, nach den Präsidentschaftswahlen 2018 eine neue Amtszeit antreten zu können. Alles sieht danach aus, als ob ihm dies auch gelingen würde. Die parlamentarischen Oppositionsparteien zeigen sich auch dieses Jahr nicht willens, Putin in seiner Position ernsthaft herauszufordern. Als Akteure in einem autoritären System könnte es für die Parteien jedoch interessant sein, in einem gemeinsamen präelektoralen Bündnis für eine demokratische Transition einzutreten. Was sind die Abwägungen, die hier stattfinden und wieso entscheiden sich die Parteien gegen eine solche Strategie? Mögliche Antworten lassen sich in den vielfältigen Strategien zur Kooptierung oppositioneller Eliten, in dem Klima des Misstrauens, den Mechanismen, Akteure bei Wahlen auszuschließen, den starken präsidentiellen Befugnissen und der hohen Stabilität des Regimes finden. Russland ist auch 2018 ein exzellentes Beispiel für die erfolgreiche Pervertierung von Wahlen zur Stabilisierung eines autoritären politischen Systems.

Einleitung

Eines der Definitionsmerkmale von freien und fairen Wahlen sollte die vorherige Ungewissheit über den Ausgang sein – ein Merkmal, das bei den russischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012 nicht gegeben war. Wirft man einen Blick auf die Wahlergebnisse, kann man sich fragen, warum Putins Konkurrenten nicht eine Koalition gebildet haben, um wenigsten den Ansatz einer Chance im Rennen um das Amt des Staatsoberhaupts zu haben. Stattdessen waren 2012 insgesamt fünf Kandidaten angetreten: Wladimir Putin für »Einiges Russland«, Gennadij Sjuganow für die KPRF, Wladimir Schirinowskij für die LDPR, Sergej Mironow für »Gerechtes Russland« sowie Michail Prochorow als parteiunabhängiger Kandidat. Putin gewann die Wahlen mit 64 Prozent der Stimmen. Keiner der anderen vier Kandidaten hatte eine ernsthafte Chance Präsident zu werden. Sjuganow kam immerhin auf 17 Prozent der Stimmen, die restlichen Kandidaten waren weit abgeschlagen (Prochorow: 7,98 %; Schirinowski: 6,22 %; Mironow: 3, 85 %).

In solchen Kontexten ist es für die Opposition unter Umständen nur mithilfe einer starken präelektoralen Koalition möglich, eine echte Herausforderung darzustellen. Doch oft scheitern oppositionelle Bündnisse an den verschiedensten Hindernissen, bevor sie zu einer Gefahr für das bestehende Regime werden könnten. Wodurch könnte eine solche Kooperation ermöglicht werden und welche der Bedingungen hierfür sind in Russland gegeben? Woran ließe sich eine mögliche Koalitionsfähigkeit der Oppositionsparteien festmachen? Welche Faktoren haben in der Vergangenheit signifikanten Einfluss auf die Koalitionsbereitschaft von Oppositionsparteien gehabt?

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, möchten wir kurz auf Theorien zur Funktion von Wahlen in autoritären Regimen sowie zu oppositioneller Kooperation eingehen und diese auf die letzten und die kommenden Präsidentschaftswahlen anwenden.

Elektoraler Autoritarismus und das politische System in Russland

Elektoraler Autoritarismus als eine Form defekter Demokratie beschreibt politische Systeme, die zwar demokratisch verfasst sein mögen, demokratische Prinzipien jedoch nicht realisiert oder institutionalisiert haben. In Russland besteht ein solches System, in dem zwar demokratische Prinzipien in der Verfassung festgeschrieben sind, jedoch nicht ausreichend oder gar nicht gewahrt werden. Wladimir Gelman beschreibt, wie das russische System »eine Fassade demokratischer Institutionen nicht nur bewahrt, sondern vehement ihre Sichtbarkeit erhöht und gleichzeitig deren Substanz unterhöhlt«. Wahlen, obwohl sie ihrer ursprünglichen Funktion, der Bestimmung eines Präsidenten durch allgemeine Wahlen, beraubt sind, haben also in autoritären Regimen trotzdem eine Funktion. Wenn wir Wahlen somit als eine Institution verstehen, welche einen Einfluss auf das Verhalten von Akteuren hat, entsteht ein ambivalentes Bild.

Zum einen können Wahlen autoritäre Herrscher stärken und die Halbwertszeit ihrer Regime verlängern, indem sie die Legitimität des Amtsinhabers auf eine wenn auch nur scheinbare demokratische Basis stützen. Darüber hinaus können sie für internationale Anerkennung sorgen, möglicherweise umstürzlerische Akteure in einen kontrollierten Kontext zwängen und sie kooptieren oder sogar zur Mäßigung ehemals radikaler Gruppen beitragen.

Präelektorale Koalitionen als Transformationsmechanismus

Andererseits können Wahlen jedoch unter widrigen Umständen – entsprechend ihrer ursprünglichen Funktion – unvorhergesehene Ergebnisse provozieren und der Opposition zur Macht verhelfen. Es ist eine Eigenheit autoritärer Regime, nur über schwache Indikatoren für das wirkliche Stimmungsbild in der Gesellschaft zu verfügen. Unabhängige Umfragen und regelmäßige Wahlen garantieren Politikern in demokratischen Kontexten einen unerlässlichen Strom von Informationen über die Stimmung in der Bevölkerung. Fehlen diese, lässt das Wahlen zu einem Steuerungsproblem werden, insbesondere in politischen Kontexten, die in Bewegung geraten sind. Eine kohärente Oppositionsarbeit, womöglich gar ein Oppositionsbündnis, das einen gemeinsamen Kandidaten unterstützt, könnte für die Herrschenden gefährlich werden und zu einem Transformationsschritt führen. Doch auch für die Opposition sind Wahlen unter den beschriebenen Bedingungen ein schwieriges Unterfangen. Nachfolgend möchten wir kurz darauf eingehen, welche Bedingungen im internationalen Vergleich eine Kooperation verschiedener Oppositionsparteien besonders beeinflusst haben.

Solche präelektoralen Koalitionen oder Bündnisse möchten wir hier als ein Abkommen oder einen Vertrag zwischen politischen Parteien verstehen, der darauf ausgerichtet ist, die zu erringenden Wählerstimmen für einen gemeinsamen Kandidaten zu maximieren. Dafür muss jede Partei für sich eine positive Bilanz zwischen menschlichem Aufwand und dem Nutzen eines solches Bündnisses erkennen. Der Nutzen scheint auf der Hand zu liegen: Die allgemeinen Kosten, also sowohl menschliche als auch finanzielle Kosten, für den Wahlkampf können geteilt werden. Zudem kann ein gemeinsamer Wahlkampf das Mobilisierungspotential deutlich erhöhen und damit auch die Chancen für einen Wahlerfolg.

Gleichwohl sind solche Koalitionen nicht die Norm und insbesondere im russischen Kontext bisher noch nicht erfolgreich geschmiedet worden. Um die Faktoren für einen möglichen Erfolg oder Misserfolg solcher Initiativen zu strukturieren, haben wir diesbezügliche Annahmen in drei thematische Blöcke eingeteilt: Das institutionelle Umfeld, die Struktur der Opposition und die Beziehung zwischen Opposition und Regierung. Das institutionelle Umfeld sind die spezifischen Regeln und Prozesse, denen Akteure im politischen System Russlands unterworfen sind. Die Struktur der Opposition beschreibt die Zusammensetzung und Konfiguration der Akteure selbst und die Frage, inwiefern diese für kollektives Handeln von Wichtigkeit sein könnten, zum Beispiel die Frage nach der ideologischen Zersplitterung und den Beziehungen der Akteure zueinander. Die Beziehung zwischen Opposition und Regierung umfasst Faktoren wie das Stärkeverhältnis und die Stabilität des Regimes gegenüber Opposition sowie mögliche Strategien der Kooptation.

Institutionelles Umfeld

Die russischen Oppositionsparteien bewegen sich in einem spezifischen Kontext, der ihren Handlungsspielraum und ihre Kosten-Nutzen-Abwägung auf eine bestimmte Art und Weise beeinflusst. Im internationalen Vergleich ist insbesondere dem Wahlsystem und dem Umfang präsidentieller Befugnisse Rechnung zu tragen.

Das russische Wahlsystem, also die Regeln, nach denen Kandidaten nominiert und die Stimmen ausgezählt werden, kann der Opposition auf dreierlei Weise zum Verhängnis werden. Erstens steht es in der Macht des Amtsinhabers, die Spielregeln seinen Bedürfnissen anzupassen. Dazu gehören nicht nur prozedurale Regeln wie hohe Hürden für die Registrierung von Kandidaten, sondern auch das Zuschneiden von Wahlkreisen und die Möglichkeit, über Wahlkommissionen, die eigentlich die Rechtmäßigkeit der Wahlen überprüfen sollen, Kontrolle auszuüben.

In Russland sind die Erfordernisse für die Registrierung von Kandidaten im Vergleich zu 2012 zwar heruntergesetzt worden, doch immer noch scheitert ein beträchtlicher Anteil von Kandidaten an den – dem Amtsinhaber zuträglichen – Hürden. In diesem Jahr gelang es nur acht von über 60 Anwärtern diese Hürden zu nehmen, da vor allem die unabhängigen Kandidaten häufig nicht rechtzeitig die für sie notwendigen 300.000 Unterschriften sammeln konnten. Damit stellt die Sammlung von Unterstützungsunterschriften weiterhin einen legalen Mechanismus zum Ausschluss von Anwärtern dar.

Weiterhin besteht im russischen Wahlsystem die Möglichkeit eines zweiten Wahlgangs, wenn keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt und dann eine Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten notwendig wird. Dies macht es äußerst unwahrscheinlich, dass Bewerber schon im ersten Wahlgang ihren Anspruch auf das Präsidentenamt zurückziehen und eine Koalition eingehen.

Zweitens ist es in autoritären Systemen nicht unüblich, dass der Amtsinhaber selbst seine eigenen Regeln nicht immer einhält oder sie nach seinen Bedürfnissen interpretiert. Auch in Russland ist Wahlfälschung ein relevantes Thema. Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen wurden zahlreiche Unregelmäßigkeiten beklagt. Manipulationen stellen für ein stärkeres Oppositionsbündnis eine zusätzliche Herausforderung dar.

Drittens kann der Amtsinhaber durch kontinuierliche Änderungen der Wahlgesetzgebung institutionelle Unsicherheit erzeugen, wodurch Parteien ihre Strategien wiederholt an die zu erwartenden Folgen neuer Gesetze anpassen müssen. In Russland sind Änderungen der Wahlgesetzgebung alles andere als unüblich. Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Jahr 2016 wurden unter anderem Wahlkreise neu zugeschnitten, die Abhängigkeit von staatlicher Parteienfinanzierung erhöht und die Registrierung unabhängiger Kandidaten erschwert. Im Kontext von Präsidentschaftswahlen hat institutionelle Unsicherheit aufgrund häufiger Gesetzesänderungen allerdings keinen nennenswerten Einfluss, da die bisherigen Änderungen eher auf die Parlamentswahlen abzielen und speziell für die Oppositionskooperation keine relevanten Folgen haben.

Die Befugnisse des Präsidenten sind insofern wichtig, als dass sie der Nutzen sind, den die Parteien am Ende einer Kooperation unter sich aufteilen müssten. Das Amt des Präsidenten ist jedoch unteilbar, also birgt ein per Verfassung besonders starker Präsident die Gefahr, dass der Koalitionspartner, der im Falle eines Sieges den Präsidenten stellt, anschließend die Möglichkeiten hat, vorher getroffene Abmachungen nicht einzuhalten und lediglich den bisherigen Amtsinhaber zu ersetzen, anstatt politische Reformen durchzuführen oder die neuerlangten Positionen zu teilen. Die extrem starke und mit der Zeit immer weiter ausgebaute Position des russischen Präsidentenamtes hat dementsprechend einen negativen Einfluss auf die Kooperationsbereitschaft der Oppositionsparteien. Besonders gilt dies für die Möglichkeiten des Präsidenten, per Dekret im Zweifel auch ohne die Duma in politische Entscheidungsprozesse eingreifen zu können.

Struktur der Opposition

Innerhalb der Opposition gibt es drei Aspekte, die besondere Aufmerksamkeit verdienen: die ideologische Unipolarität des russischen Parteiensystems, ein möglicher regime divide hinsichtlich der KPRF und fehlendes Vertrauen.

Die KPRF ist zwar nicht die offizielle Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei, doch fällt ihr allein aufgrund ihrer Größe eine Sonderrolle zu. In einigen postsowjetischen Staaten ist es bei anderen Parteien verpönt, mit der jeweiligen ehemals Kommunistischen Partei zu koalieren. In Russland ist dies jedoch nicht der wichtigste Grund für eine fehlende Koalition zwischen der KPRF und anderen Parteien.

Die Parteien in Russland werden oft als ideologisch diffus und vage bezeichnet. Im internationalen Vergleich wäre dies die perfekte Voraussetzung für ein breites Koalitionsbündnis, das auch ideologisch kompatibel wäre. Doch muss zusätzlich eine klare Abgrenzung vom Regime erkennbar sein, damit ein solches Bündnis möglich ist. Diese ist in Russland kaum gegeben. Für Oppositionsparteien in Russland, die zwar schwer auf fest definierten ideologischen Skalen einzuordnen sind, aber trotzdem eine feste Wählerschaft zufriedenstellen und aktivieren müssen, könnte ein Bündnis negative Folgen haben. Die Wählerschaft könnte dauerhaft zu einer anderen, ideologisch nicht unterscheidbaren Partei abwandern oder eine Koalition nicht gutheißen. Dies trifft im speziellen auf die Parteien »Gerechtes Russland« und KPRF zu, die sich zwar ideologisch nahestehen, doch eine dezidiert unterschiedliche Wählerschaft ansprechen.

Außerdem ist der politische Kontext in Russland auch für die Oppositionsparteien von Misstrauen geprägt und dadurch nicht die beste Voraussetzung für ein gemeinsames Bündnis. Die Folgen eines Bündnisses für die Koalitionspartner wären katastrophal, sollte der gemeinsam ausgewählte Kandidat anschließend Abmachungen nicht einhalten. In demokratischen Systemen können Parteien auf eine meist lange Reihe von Koalitionserfahrungen zurückblicken, die dafür sorgt, dass sie sich gegenseitig vertrauen. Den Oppositionsparteien in Russland fehlt dieser positive Erfahrungsschatz rekurrierender und öffentlicher Verhandlungen.

Beziehungen zwischen Opposition und Regierung

Auch das wechselseitige Verhältnis zwischen Opposition und Regierung spielt eine Rolle für die Erfolgsaussichten oppositioneller Koalitionen. Genauer gesagt, geht es hier um die Kooptation von oppositionellen Akteuren und die Stabilität des Regimes, die einen negativen Einfluss auf die Kooperationsbereitschaft von Parteien der sogenannten »Systemopposition« haben. Beide Faktoren bedingen sich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig, da das Kooptationspotential des Regimes mit zunehmender Stabilität wächst.

Was ist eigentlich Kooptation? Bertocchi und Spagat beschreiben sie als den Versuch, eine bestehende Gruppe aus Gegnern zu spalten und in ihren Forderungen zu mäßigen, indem einer der beiden neuen Gruppen entsprechende Kompensationen angeboten werden. Die Partei »Gerechtes Russland« ist ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Kooptation einer Gruppe, die in der Gunst der Regierung steht und selbst auf regionalem Niveau nur gemäßigte Forderungen stellt. Die Gewinnung dieser Gruppe wird unter anderem durch das gezielte Abgeben von Sitzen in der Staatsduma forciert. So können Ressourcen kanalisiert werden, die der Erhaltung einer Scheinalternative zum Amtsinhaber dienen und die Optionen für ein Koalitionsbündnis von Oppositionsparteien weiter verringern.

In der Vergangenheit war die russische Präsidialadministration sehr effizient in der Fragmentierung oppositioneller Eliten, und zwar nicht nur mithilfe der Kanalisierung von Ressourcen, sondern auch durch eine geschickte Außenpolitik, die durchaus mit oppositionellen Zielen im Einklang stand. Die Stabilität des Regimes ist für die Opposition insofern wichtig, als dass bei einem fest zu erwartenden Wahlsieg des Amtsinhabers die Kosten einer Koalition durch keinen eindeutigen Nutzen kompensiert werden könnten. Keine der bestehenden Oppositionsparteien würde ihre Wählerschaft und aktuelle Position im Regime für ein wenig aussichtsreiches Projekt aufs Spiel setzen.

Neben der bereits beschriebenen, für die Opposition mit Schwierigkeiten behafteten Methode, aus Umfragen die politische Stimmung in Russland abzulesen, bleibt ihnen wenig übrig, um sich ein wahrhaftiges Bild über die Stabilität des Regimes und dessen Rückhalt in der Bevölkerung zu machen. Oft werden zu diesem Zweck auch wirtschaftliche Indikatoren herangezogen, die – zumindest in der Theorie – einen Einfluss auf die Stabilität des Regimes haben sollten. Eine aktuelle Einschätzung der Stabilität lässt vermuten, dass die Präsidentschaftswahlen auch dieses Jahr nur ein Nebenschauplatz der Oppositionsarbeit bleiben werden.

Viele internationale Theorien zur Kooperationsbereitschaft der Opposition in autoritären Regimen gehen davon aus, dass die Opposition an einer Transformation des politischen Systems interessiert ist. Das ist in Russland – zumindest hinsichtlich der parlamentarischen Oppositionsparteien – nicht der Fall. Insbesondere die Systemopposition, also Akteure, die einen geringen politischen Einfluss haben, überwiegend im Sinne und nach den Regeln der Machthaber handeln und keinen Wandel des politischen Systems anstreben, darf nicht als ein Akteur verstanden werden, der dem Regime in wirklicher Opposition entgegensteht, sondern muss vielmehr als ein nur notwendiger Bestandteil des zumindest formal demokratisch verfassten Staates Russland verstanden werden.

Doch wieso nehmen Oppositionsparteien dann überhaupt an Wahlen teil? Offensichtlich besteht von Seiten dieser Akteure ebenfalls ein Interesse am Status Quo, der durch vom Kreml mitgetragene Wahlen mit Kandidaten-»Alternativen« zu Putin weiter legitimiert wird. Diesem demokratischen Spiel entweder durch völlige Enthaltung seine Legitimität zu entziehen, oder aber eine echte Alternative anzubieten, würde vermutlich zum Verlust von Verhandlungspositionen gegenüber und Ressourcen von der Präsidialadministration führen. Parteien haben durchaus eine aktive Wählerschaft, durch die für sie der Zugang zu Ressourcen über Parlamentssitze verknüpft ist, die sie dann durch eine Nicht-Teilnahme verlieren könnten.

Auch bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen bestätigen sich diese Annahmen. Von den zugelassenen Kandidaten lässt sich bisher bei niemandem ein ambitionierter Wahlkampf erkennen. Zum einen treten altbekannte Gesichter wie Wladimir Schirinowski für die LDPR oder Grigori Jawlinski für Jabloko an.

Zweitens gibt es zwar auch neue Anwärter, wie Pawel Grudinin, der überraschenderweise anstelle des Parteivorsitzenden Gennadij Sjuganov für die KPRF antritt, oder den TV-Star Ksenija Sobtschak, die als Unabhängige ins Rennen geht. Doch sind sich Experten weitgehend einig, dass der Kreml diese beiden Kandidaten begrüßt. Das kann man zum Beispiel anhand des hohen Maßes an Sendezeit in staatlichen Sendern ablesen, das ernstzunehmenden Herausforderern verwehrt bleibt. Beide sprechen jeweils ein breites Wählerspektrum an und geben der Wahl einen demokratischen Anstrich, durch den sich der Kreml eine erhöhte Wahlbeteiligung und somit mehr Legitimität erhofft, ohne dass Eingriffe und Manipulation in einem Ausmaß notwendig werden, das möglicherweise medienwirksam auf den autoritären Charakter der Wahlen verweisen würde.

Nun könnte man annehmen, dass die nichtsystemische Opposition es im Unterschied zur stabilitätssichernden Systemopposition eher schafft, ihre Kräfte zu bündeln und sich hinter einen gemeinsamen Kandidaten zu stellen, um somit eine ernsthafte Alternative darzustellen – doch weit gefehlt. Zwar ist Alexej Nawalnyj, der als einziger der Kandidaten einen ernstzunehmenden Wahlkampf führt, die derzeit zentrale Figur der nichtsystemischen Opposition. Bei der diesjährigen Wahl wurde ihm jedoch aufgrund einer Bewährungsstrafe die Kandidatur verweigert. Deshalb ruft er zu einem Wahlboykott auf, um die voraussichtliche Wiederwahl Putins durch eine geringe Beteiligung zu delegitimieren.

Doch nicht nur aufgrund der Steine, die ihr der Kreml in den Weg legt, sondern besonders aufgrund interner Streitereien und Machtkämpfe scheitert auch die nichtsystemische Opposition immer wieder mit dem Versuch einer erfolgreichen Kooperation. Dies wurde erneut im Vorfeld der Dumawahlen im Jahr 2016 deutlich, als die sogenannte »Demokratische Koalition«, bestehend aus mehreren dem liberalen Spektrum angehörigen Oppositionsparteien, weit im Vorfeld der Wahlen an ihren eigenen Differenzen zerbrach. Und dies, obwohl die Kosten-Nutzen-Abwägung im Rahmen von Parlamentswahlen aufgrund der zahlreichen zu verteilenden Positionen weitaus leichter fallen sollte, als vor einer Präsidentschaftswahl. Das Konzept der präelektoralen Koalition als Möglichkeit für eine Opposition, in einem autokratischen Land eine reale Alternative zum Machthaber darzustellen, hat somit in Russland, anders als in anderen Ländern, bisher keine Anwendung gefunden und wird es auch bei den diesjährigen Wahlen nicht.

Abzuwarten bleibt, wie sich das Bild 2024 ändert und ob Putin Weg und Willen findet, dann noch einmal zur Wahl anzutreten. Vielleicht schafft es die nichtsystemische Opposition bis dahin, ihre Querelen hinter sich lassen und gemeinsam an ihren doch sehr ähnlichen Zielen zu arbeiten. Vielleicht sieht dann sogar die Elite im inneren Machtbereich ihre Stunde gekommen und stellt sich gebündelt hinter eine andere Person. Von der derzeitig im Parlament vertretenden Opposition ist in nächster Zeit jedenfalls wenig wahrhaftiger Widerstand zu erwarten.

Lesetipps / Bibliographie

  • Huskey, E., & Iskakova, G. (2010): The Barriers to Intra-Opposition Cooperation in the Post-Communist World: Evidence from Kyrgyzstan. Post-Soviet Affairs, 26(3), 228–262.
  • Schedler, A. (2013): The Politics of Uncertainty: Sustaining and Subverting Electoral Authoritarianism (1st ed.). Oxford studies in democratization. Oxford [u. a.]: Oxford University Press.
  • Van de Walle, Nicolas. (2006): Tipping games: when do opposition parties coalesce? Electoral authoritarianism: The dynamics of unfree competition, 77–94.

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