Der folgende Bericht der Bewegung zur Verteidigung der Wählerrechte »Golos« vom 19. März 2018 ist eine gekürzte deutschsprachige Fassung von Berichten, die auf golosinfo.org und epde.org kurz nach den Wahlen in russischer und englischer Sprache veröffentlicht wurden. Sie spiegeln die Stellungnahme der Wahlbeobachtungsorganisation und ihre Erfahrungen bei den russischen Präsidentschaftswahlen wider. Wir danken »Golos« für die exklusive Zusammenstellung dieses Berichts.
Die Redaktion der Russland-Analysen
Vorläufige Erklärung zu den Ergebnissen der Wahlbeobachtung bei den Präsidentschaftswahlen in Russland am 18. März 2018
Die Bewegung »Golos« hat bei den Präsidentschaftswahlen in der Russischen Föderation während aller Phasen des Wahlprozesses eine Langzeit- und eine Kurzzeitbeobachtung vorgenommen.
Am Wahltag sind über die Hotline des zentralen Callcenters über 6.000 Anrufe eingegangen. Auf der »Karte der Verstöße« sind während des gesamten Wahlprozesses 3.000 Meldungen eingegangen, davon 2.000 am Wahltag selbst.
In einer vorläufigen Bewertung der Präsidentschaftswahlen erklärt »Golos«, dass wir uns ungeachtet der unstrittigen formalen Führung des siegreichen Kandidaten leider dazu genötigt sehen, die Wahlen als nicht tatsächlich fair anzuerkennen, nämlich nicht im vollen Umfang fair in jenem Sinne, den die Verfassung und die Gesetze der Russischen Föderation sowie die internationalen Standards für Wahlen vorgeben, weil das Wahlergebnis im Zuge eines nicht freien und ungleichen Wahlprozesses ohne Wettbewerb zustande gekommen ist. Wir können somit nicht feststellen, dass der tatsächliche Wählerwille in freier Wahl zum Ausdruck gekommen ist.
Die Fälle von Fälschung und die Verstöße gegen Verfahrensregeln, die festgestellt wurden, unter anderem bei der Stimmauszählung, erfordern eine weitere Untersuchung sowie eine detaillierte Analyse der Videoaufzeichnungen aus den Wahllokalen. Die Bewegung »Golos« hat damit am 19. März 2018 begonnen.
Konkrete Beispiele, die die Schlussfolgerungen von »Golos« illustrieren, sind [in russischer Sprache – Anm. d. Red.] in den Berichten und Stellungnahmen der Bewegung auf deren Website zu finden sowie in der »Chronik des Wahltages« und den Meldungen auf der »Karte der Verstöße«.
Allgemeine Charakterisierung des Wahlgeschehens im Vorfeld des Wahltages
- Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 in der Russischen Föderation war der Wettbewerb eingeschränkt. In vielerlei Hinsicht ist das auf die Beschränkungen des passiven Wahlrechts zurückzuführen und auf die Art und Weise, wie in den Medien über die Wahlen berichtet wurde.
- Angesichts des fehlenden Wettbewerbs und als Reaktion auf die Boykottkampagne erfolgte eine künstliche Mobilisierung der vom öffentlichen Dienst abhängigen Teile der Wählerschaft, bei der verschiedene Instrumente zum Einsatz kamen. Eine weitere Besonderheit der Wahlen war die breite Beteiligung Minderjähriger, sowohl bei der Mobilisierung von Wählern, als auch unmittelbar im politischen Wahlkampf.
- Gleichzeitig ist die positive Rolle der Wahlkommissionen zu erwähnen, die die Bürger besser darüber informiert hat, welche möglichen Formen der Beteiligung an der Wahl bestehen.
- Die Arbeit der Medien, von denen sich ein beträchtlicher Teil in unterschiedlichem Maße unter der Kontrolle des Staates befindet, war durch eine manipulative und tendenziöse Berichterstattung über die Kandidaten gekennzeichnet, wodurch die Bürger daraus keine objektiven und wahrheitsgemäßen Informationen über die Kandidaten beziehen konnten. Einen erheblichen Einfluss auf den Wählerwillen hatte die Tätigkeit des amtierenden Präsidenten während der Wahlkampagne, die sich aus seiner Amtsstellung ergab und von der in den Medien breit berichtet wurde.
- Es lässt sich feststellen, dass das System der Wahlkommissionen im Vergleich zu den vorherigen Präsidentschaftswahlen sehr viel offener war. Insgesamt haben sich die Beziehungen zur Gemeinschaft der Wahlbeobachter verbessert, auch am Wahltag selbst.
- Die Zentrale Wahlkommission Russlands hat Personen, die an ihrem Aufenthaltsort und nicht am Wohnsitz wählen wollten, bequemere Bedingungen zur Stimmabgabe geschaffen. Dieses System ist allerdings immer noch unvollkommen und die Möglichkeiten eines Missbrauchs durch die Verwaltung sind noch nicht beseitigt worden.
- Im Vorfeld des Wahltages hat sich der Druck des Staates auf zivilgesellschaftliche Aktivisten und unabhängige Wahlbeobachter verstärkt. Dies äußerte sich durch Versuche, die Arbeit unabhängiger Wahlbeobachter bei der Organisation eines Callcenters zu verhindern, sie politisch zu verfolgen und mithilfe »schwarzer PR« Diskreditierungsmaßnahmen gegen sie einzusetzen. Durch das Eingreifen der Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission am Vorabend des Wahltages konnte der Druck auf die Bewegung »Golos« allerdings auf ein Minimum reduziert werden.
- Es wurden viele Fälle festgestellt, in denen auf Wahlberechtigte Druck ausgeübt wurde, die dazu aufgerufen hatten, von ihrem Recht auf Nichtteilnahme an den Wahlen Gebrauch zu machen.
Vorläufige Ergebnisse der Beobachtung am Wahltag
Das neue Verfahren der Stimmabgabe am Aufenthaltsort wurde ebenso dazu ausgenutzt, Wahlberechtigte zur Stimmabgabe zu nötigen. Die Bildung von Warteschlangen, der organisierte Transport von Wählern zur Stimmabgabe und Kontrollmaßnahmen zur Wahlteilnahmen konnten beobachtet werden. Insbesondere in bestimmten Wahllokalen, die in der Nähe oder auf dem Gelände von Studentenwohnheimen, Hochschulen und großen Unternehmen lagen, war die innerregionale »Migration« von Wählern erheblich stärker als die interregionale (siehe die Express-Analyse unter: <www.golosinfo.org/ru/articles/142556>). Insgesamt haben rund 5,7 Millionen Wähler einen Antrag auf Stimmabgabe am Aufenthaltsort gestellt. Das Ausmaß der interregionalen »Migration« betrug vermutlich kaum mehr als eine Million Wähler, die innerregionale Migration kann also auf über 4,5 Millionen geschätzt werden. Insgesamt wurden rund 30 Prozent der sogenannten Wahlmigranten (1.664.475 Wähler) in rund 5 Prozent (4.821 von rund 96.000) der Wahllokale registriert, denen 200 oder mehr Wähler zugeordnet werden konnten.
Bei den Vorbereitungsmaßnahmen für den Wahltag wurden durch die Wahlkommissionen rund zwei Millionen Personen aus den Wählerverzeichnissen gestrichen, unter anderem auch »doppelte Wähler« und »tote Seelen«. In einigen Regionen sind durch diese Bereinigung auch reale Wähler aus den Verzeichnissen entfernt worden. In den meisten Regionen ist die Zahl der Wahlberechtigten zwischen Beginn und Ende der Stimmabgabe beträchtlich gestiegen: von um 2,1 Prozent (Nordossetien – Alanien) bis um 3,1 Prozent im Moskauer Gebiet und in St. Petersburg. Dadurch ist die Anzahl der Personen im Wählerverzeichnis im Laufe des Wahltages um fast anderthalb Millionen gestiegen.
Es sind Fälle festgestellt worden, in denen 1) Verzeichnisse der Wähler, die eine Stimmabgabe am Aufenthaltsort beantragt hatten, nicht broschiert wurden; 2) die gesetzlich vorgeschriebenen Vermerke in Wählerverzeichnissen fehlten; 3) Wahlkommissionen der Wahllokale am 18. März ohne rechtliche Grundlage Personen die Stimmabgabe erlaubten, die nur vorübergehend dort gemeldet waren, sowie Personen, die nicht in den zusätzlichen Wählerverzeichnissen geführt waren.
Positiv ist zu bewerten, dass der Anteil der Stimmabgaben außerhalb des Wahllokals (die sogenannte Stimmabgabe zuhause) im Vergleich zu den vorherigen Präsidentschaftswahlen von 8,2 auf 6,6 Prozent zurückgegangen ist. Dennoch sind durch Wahlbeobachter Fälle festgestellt worden, in denen Wahlkommissionen Wahlberechtigte besuchten, die keine Stimmabgabe zuhause beantragt hatten oder zwar einen Antrag gestellt, jedoch keinen Besuch der Wahlkommission aus dem Wahllokal erhalten hatten.
Am Vorabend des Wahltages fanden Wahlbeobachter heraus, dass in einigen Regionen in den gedruckten Versionen der Arbeitshefte der Wahlkommissionen in den Wahllokalen ein Verbot formuliert war, dem zufolge Kommissionsmitgliedern mit beratender Stimme Foto- und Videoaufnahmen untersagt sind. Positiv ist zu vermerken, dass die Zentrale Wahlkommission zügig auf dieses Problem reagiert hat und entsprechende Erläuterungen gab. Aus Moskau, den Regionen Krasnodar und Chabarowsk, aus Baschkortostan, Dagestan, Karatschajewo-Tscherkessien, dem Moskauer Gebiet und den Gebieten Kemerowo und Nischnij Nowgorod sind Meldungen eingegangen, dass Wahlbeobachtern und Kommissionsmitgliedern mit beratender Stimme, die von Parteien oder Kandidaten entsandt worden waren, der Zutritt verweigert wurde.
Videobeobachter berichteten von Problemen bei der Einrichtung einer Videoübertragung aus dem Wahllokal. Die Nummern der Wahllokale, in denen Videokameras installiert werden sollten, sind nicht im Voraus bekannt gegeben worden. Wahlbeobachter berichteten von zahlreichen Fällen, in denen Kameras so ungünstig platziert waren, dass man die Geschehnisse im Wahllokal nicht tatsächlich mitverfolgen konnte (die Wahlurnen waren schlecht zu sehen). In einigen Wahllokalen versuchten Mitglieder der Wahlkommission, die Möglichkeiten der Videokontrolle bewusst zu verschlechtern, indem die Sicht der Kamera mit anderen Gegenständen versperrt wurde, unter anderem auch bei der Stimmauszählung.
Aus verschiedenen Regionen ist ein stapelweiser Einwurf von Stimmzetteln gemeldet worden (was zum Teil auf Video festgehalten wurde) und Fälle, in denen eine Stimmabgabe durch andere Personen erfolgte.
Positiv ist zu bewerten, dass sich im Vergleich zu den vorherigen Präsidentschaftswahlen einige Daten der Wahlbeteiligung, die bei Wahlbeobachtern ernste Zweifel auslösen, verringert haben. Dabei haben vorläufige Ergebnisse der videogestützten Feststellung der Wahlbeteiligung in einer Reihe Regionen (u. a. in Dagestan, Tatarstan, im Gebiet Tjumen und in Tschetschenien) ernste Abweichungen von den offiziellen Zahlen zu Tage gefördert.
Die verschiedenen Verfahrensverstöße werden durchschnittlich in weniger als 5 Prozent der Fragebögen genannt, die Wahlbeobachter aus ganz Russland eingesandt haben. Allerdings ist der gesamtrussische Wert bei drei Verfahrens-schritten und Gesetzesvorschriften recht hoch ausgefallen. Bei folgenden Verstößen liegt der Anteil bei über 5 Prozent:1. Einschränkungen für Wahlbeobachter, sich im Wahllokal bewegen zu können (5,7 Prozent);2. Nichteinhaltung der Abfolge der Verfahrensschritte bei der Stimmauszählung (12,0 Prozent);3. Bei der Stimmauszählung erfolgten unterschiedliche Schritte gleichzeitig (12,2 Prozent).
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder
EPDE protestiert gegen die Einstufung als »unerwünschte Organisation« in Russland
Berlin, 14.03.2018
Am 13. März 2018 wurden die European Platform for Democratic Elections (EPDE), ein zivilgesellschaftliches Netzwerk unabhängiger Wahlbeobachtungsorganisationen, und ihre Mitgliedsorganisation International Elections Study Center (IESC) vom Justizministerium der Russischen Föderation als »unerwünschte Organisation« eingestuft.
Stefanie Schiffer, EPDE-Vorstandsmitglied, kommentiert: »Wir protestieren gegen die Listung als »unerwünschte Organisation« und gegen die pauschale Kriminalisierung und Diskreditierung unserer Mitgliedsorganisationen, die damit bei einer weiteren Zusammenarbeit verbunden ist. Wir fordern die unverzügliche Zurücknahme dieser Maßnahme durch das russische Justizministerium.
«Mit dem 2015 eingeführten Gesetz über »unerwünschte Organisationen« versucht die russische Regierung, die internationale Zusammenarbeit demokratischer Bewegungen administrativ zu bekämpfen. Mitarbeitern gelisteter internationaler Organisationen und deren Partnern in der Russischen Föderation drohen bei jeglicher Form der Zusammenarbeit bis zu sechs Jahre Haft oder ein Verbot, nach Russland einzureisen, sowie zahlreiche andere Strafmaßnahmen.
Die Bundesregierung kritisierte das Gesetz 2015 als »Element, um die kritische Zivilgesellschaft in Russland zu isolieren und zu diskreditieren und um Zusammenarbeit über Grenzen hinweg zu verhindern«, mit dem das »Gefühl von Unsicherheit und Angst, das ohnehin schon in der kritischen russischen Zivilgesellschaft herrscht«, verstärkt werde.
EPDE ist ein 2012 gegründetes Bündnis aus Wahlbeobachtungsorganisationen mit dem Ziel, die zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtung in den Ländern der östlichen Partnerschaft, in der Russischen Föderation und in ganz Europa zu unterstützen und zu demokratischen Wahlprozessen beizutragen.
Mehr zur Arbeit von EPDE unter: www.epde.org