Ramsan Kadyrow 2017 – Ein Jahr im Leben des starken Mannes

Von Huseyn Aliyev (Universität Glasgow)

Zusammenfassung
Ungeachtet der aufgrund der Wirtschaftskrise und der westlichen Sanktionen gekürzten Subventionen für den Nordkaukasus ist Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt Tschetscheniens, im vergangenen Jahr bei der Aufrechterhaltung der Kontrolle über seine Republik bemerkenswert erfolgreich gewesen; gleiches gilt für die Ausweitung seines Einflusses in der Region wie auch auf einige Bereiche der russischen Außenpolitik. Dabei versucht der starke Mann Tschetscheniens neuerdings, mit einer Mischung aus Zustimmung und versteckter Kritik Einfluss auf die Außenpolitik Russlands zu nehmen. Kadyrow hat auch sein Image als einer der umstrittensten regionalen Führungskräfte in Russland erfolgreich beibehalten. Er hat 2017 nicht nur die größten muslimischen Menschrechtsproteste in der modernen Geschichte Russlands organisiert, sondern ist gleichzeitig wegen eklatanter Menschenrechtsverletzungen in der eigenen Republik in die Magnitskij-Liste aufgenommen worden. Um sein Ansehen als regionaler muslimischer Führer weiter zu stärken, hat Kadyrow bei der Rückkehr von Familienangehörigen nordkaukasischer Kämpfer des IS aus dem Nahen und Mittleren Osten die Leitung übernommen. Zuhause hat der tschetschenische Führer eine ehrgeizige Kampagne gestartet, durch die die meisten hochrangigen Staatsämter und Verwaltungsposten in Tschetschenien an Mitglieder seiner Familie, seines Klans oder an enge Vertraute gehen sollen.

Einfluss auf die russische Außenpolitik

Im Laufe der letzten Jahre ist Ramsan Kadyrow in Russland zu jenem regionalen Führer geworden, der auf der internationalen Bühne sehr aktiv in Erscheinung tritt. Er ist ein eifriger Nutzer von »Instagram« und »Twitter« und kommentiert regelmäßig Fragen der internationalen Politik wie auch die russische Außenpolitik. Die meisten seiner außenpolitischen Ansichten stehen im Einklang mit der offiziellen Position der Regierung. So folgten seine Kommentare, in denen er den US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump im Dezember für dessen Anerkennung von Jerusalem als Hauptstadt Israels kritisierte, der russischen Unterstützung für die UN-Resolution, in der die Politik der USA verurteilt wurde.

Während Kadyrow bemüht ist, die Rolle eines muslimischen Führers für die gesamte Region zu übernehmen, hat sich im Laufe des Jahres 2017 auch sein Anspruch weiter verstärkt, seinen Einfluss in der russischen Außenpolitik geltend zu machen. Am 3. September 2017 versammelte sich eine große Menschenmenge vor der Botschaft von Myanmar in Moskau und folgte damit Kadyrows Aufruf an alle Muslime, gegen die Verfolgung der muslimischen Rohingya in Myanmar zu protestieren. Zu den Protestierenden gehörten nicht nur Tschetschenen und andere Personen aus dem Nordkaukasus, sondern auch Muslime aus den zentralasiatischen Staaten und dem Südkaukasus. Obwohl die Versammlung zu keinem Zeitpunkt von den Moskauer Behörden genehmigt worden war, machte die Polizei keinerlei Anstalten die Menge aufzulösen. Am 5. September 2017 kam es zu einer viel größeren Demonstration von rund 10.000 Menschen in der tschetschenischen Hauptstadt Grosnyj, die Kadyrows Aufruf zur Unterstützung der Rohingya folgte. Kadyrow organisierte nicht nur diese beiden Protestversammlungen, sondern verurteilte auch öffentlich Russlands Veto gegen eine UN-Resolution, in der die Regierung von Myanmar der Ermordung von Zivilisten der Rohingya beschuldigt wurde. In seiner Rede bedauerte Kadyrow, dass es nicht möglich sei, »tschetschenische Truppen zu entsenden«, um die muslimischen Glaubensgenossen in Myanmar zu verteidigen; zudem rief er zu einem Boykott gegen »buddhistischen Terrorismus« auf.

Kadyrow milderte einige Tage später seine Rhetorik und rief zu einer Beendigung der Proteste auf, doch hielt sich die Reaktion Moskaus auf Kadyrows Kritik an der russischen Außenpolitik gegenüber Myanmar in Grenzen. Gleichwohl zeigten die Ereignisse rund um die von Kadyrow organisierten Proteste gegen Myanmar die gestiegenen Ambitionen des tschetschenischen Führers, die Rolle eines muslimischen Führers mit Geltung für die gesamte Region zu übernehmen. Der Umstand, dass Kadyrows Aufruf zu den Moskauer Protesten an alle Muslime gerichtet war, die in Russland leben – was dann zur größten Protestaktion in der modernen Geschichte der Russischen Föderation führte –, spricht Bände in Bezug auf die Effizienz, mit der Kadyrow seine Ziele erreicht. Zugleich waren die Proteste in Moskau und Grosnyj gegen Myanmar die ersten muslimischen Proteste in Russland, in denen es um Menschenrechte ging.

Kadyrows Vermögen, den Kreml ungestraft in außenpolitischen Fragen kritisieren zu können, ist sowohl auf seine langjährige Freundschaft mit dem russischen Präsidenten, als auch auf den regelmäßigen tschetschenischen Beitrag zu Militäroperationen Russlands zurückzuführen. Die tschetschenische Militärpolizei hat seit Beginn der russischen Beteiligung am Syrien-Konflikt an der Seite Assad-freundlicher Kräfte gedient. Tschetschenische Einheiten sind angeblich 2016 an der Belagerung Aleppos beteiligt gewesen. Angehörige von Kadyrows Milizen haben auch in der aktiven Phase des Krieges im ostukrainischen Donbass die prorussischen Separatisten unterstützt.

Ein neuer Name auf der Magnitskij-Liste…

Ungeachtet von Kadyrows Engagement bei Menschenrechtsfragen in Bezug auf Muslime in allen Teilen der Welt hat sein Image als »Menschenrechtsverteidiger« in Tschetschenien im Jahr 2017 einen weiteren Schlag erlitten. Am 20. Dezember setzte das US-Finanzministerium Kadyrow auf die Liste russischer Staatsangehöriger, gegen die im Rahmen des »Magnitsky Act« Sanktionen verhängt wurden. Die Verkündung dieser Maßnahme erfolgte angesichts zunehmender Vorwürfe gegen Kadyrow wegen Menschenrechtsverletzungen, Entführungen und außergerichtlicher Hinrichtung seiner Opponenten. Ein weiterer Tschetschene, gegen den jüngst personenbezogene Sanktionen verhängt wurden, ist Ajub Katajew, ein hochrangiger Angehöriger der tschetschenischen Innenverwaltung (Sicherheitskräfte), dem die Folterung und Ermordung schwuler Männer nachgesagt werden.

Die Herrschaft Kadyrows ist von gewaltsamer Verfolgung jeder Art abweichender Ansicht geprägt. Menschenrechtsgruppen berichteten, dass seit Mitte der 2000er Jahre hunderte Personen in Tschetschenien verschwunden sind. Die Vorwürfe wegen Folter, Entführung, außergerichtlicher Hinrichtungen und Mordanschläge auf Kadyrows Kritiker, auf Mitglieder der Opposition, auf vermeintliche islamistische Aufständische und auf Angehörige sexueller Minderheiten haben in den letzten fünf Jahren zugenommen. Die jüngste Welle der Anschuldigungen gegen das tschetschenische Oberhaupt wegen Menschenrechtsverletzungen betrifft die Verschleppung, Folterung oder Ermordung von über 100 schwulen Männern, zu denen es in Tschetschenien seit 2016 gekommen ist.

Russische und internationale Menschenrechtsorganisationen haben dokumentiert, dass die Zahl der in Tschetschenien verschwundenen Personen in einem alarmierenden Tempo zunimmt. So sind seit Jahresbeginn über 40 Personen als vermisst gemeldet worden. Allein im November 2017 wurden sieben Personen vermutlich von tschetschenischen Sicherheitskräften verschleppt. Kadyrow werden seit Langem Menschrechtsverletzungen vorgeworfen, doch zeitigte das nur wenig Folgen in Form formaler Schritte, abgesehen von gelegentlicher Kritik am starken Mann in Tschetschenien durch westliche Politiker. Dmitrij Peskow, Pressesprecher der russischen Präsidenten, wandte sich gegen die neue Sanktionswelle und bezeichnete sie als »unrechtmäßig und unfreundlich«.

Rückkehr von aus dem Nordkaukasus stammenden Personen aus dem Mittleren Osten

Der Schritt, federführend die Rückkehr von Familien von IS-Kämpfern aus dem Nordkaukasus und Zentralasien zu betreiben, ist ein weiterer der jüngsten Versuche Kadyrows, in außenpolitische Maßnahmen Russlands einzugreifen. Zuerst wurde im November 2017 verkündet, dass die erste Gruppe von 41 Frauen und Kindern aus verschiedenen nordkaukasischen Republiken Russlands sowie aus Kasachstan und Usbekistan von Syrien nach Grosnyj gebracht wurde. Die zweite Gruppe bestand bereits aus 93 Personen, meist russische Staatsangehörige aus Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien. Die meisten der zurückgekehrten Familienangehörigen von IS-Kämpfern waren von kurdischen Kräften bei der Belagerung von ar-Raqqa oder durch Assad-freundliche Kräfte in unterschiedlichen Teilen Syrien gefangen genommen und dann an tschetschenische Emissäre in Syrien übergeben worden. Eine größere Gruppe von 150 russischen Staatsangehörigen wurde Anfang 2018 aus Syrien und dem Irak zurückgeholt.

Die Rückkehr von Personen aus dem Nordkaukasus wurde von Kadyrows Behörden umgesetzt und beaufsichtigt. Die tschetschenischen Stellen übergaben dann die betroffenen Einwohner anderer nordkaukasischer Republiken den dortigen Sicherheitsbehörden. Das tschetschenische Fernsehen berichtete über diese Ereignisse, und stellte die Rückkehr der nordkaukasischen Frauen und Kinder als »großen Erfolg« für Kadyrow dar. In der Tat war eine Anerkennung für Kadyrows Bemühungen auch jenseits der Lobeshymnen des lokalen tschetschenischen Fernsehens vorhanden. Präsident Putin dankte bei seiner alljährlichen Pressekonferenz Kadyrow persönlich für die Rückholung der Frauen und Kinder aus den Kriegsgebieten.

Bedenkt man, dass seit Ende 2016 Einheiten tschetschenischer Militärpolizei regelmäßig in syrische Gebiete entsandt wurden, die von Assad kontrolliert werden, so hatte Kadyrow bereits früher die Gelegenheit, sich an der russischen Militäroperation in Syrien zu beteiligen. Es gibt allerdings keine überprüfbaren Informationen, ob die Rückkehr der Frauen und Kinder aus dem Nordkaukasus einem Plan Kadyrows folgte oder sich einfach so ergab, weil Gefangene des IS wegen der erfolgreichen Offensiven gegen die islamistische Miliz in die Hände von Assad-treuen Kräften gerieten. Wie dem auch sei, die Ereignisse erlaubten es Kadyrow, sich nicht nur als einziger führender Akteur der nordkaukasischen Republiken bei der »Rettung von Kindern« im Mittleren Osten darzustellen, sondern auch als Führungsperson einer größeren Region, die ihre Verantwortung wahrnimmt, Bürger zentralasiatischer Staaten zurückzuholen.

Sicherstellung der Loyalität im Land selbst

Ramsan Kadyrow, ein ehemaliger Kommandeur der Separatisten, wurde 2007 zum Oberhaupt (damals noch: Präsident) der Republik Tschetschenien ernannt. Sein Vater, der erste moskaufreundliche Präsident Tschetscheniens nach Beendigung des zweiten Tschetschenienkrieges, war 2004 durch einen Anschlag ermordet worden. Kadyrow blieb in der Folge ein vehementer Unterstützer Putins und erhielt üppige Wiederaufbauhilfe aus Moskau. Mit der anhaltenden Wirtschaftskrise in Russland nach den Sanktionen des Westens wegen der Annexion der Krim und aufgrund der 2014 – 2016 sinkenden Ölpreise schwanden die Kapazitäten des Kreml, das Regime Kadyrows zu finanzieren. 2017 erhielt die Republik Tschetschenien (wie noch 2016) 40,4 Milliarden Rubel [umgerechnet rund 630 Mio. Euro – Anm. d. Red.], doch sind die Subventionen für 2018 auf 27 Milliarden Rubel [rund 380 Mio. Euro – Anm. d. Red.] zurückgefahren worden. Bedenkt man, dass die Republik von 2007 bis 2015 im Durchschnitt Subventionen in Höhe von 60 Milliarden Rubel [rund 1,3 Mrd. Euro – Anm. d. Red.] erhalten hatte, ergibt sich für den aktuellen Haushalt eine Kürzung um über die Hälfte.

Wegen der reduzierten finanziellen Unterstützung aus Moskau, ist Kadyrow nicht mehr in der Lage, sich derart einfach die Loyalität der tschetschenischen Eliten zu erkaufen, wie das früher der Fall war. Die neue Kontrollstrategie beruht darauf, dass nahezu alle wichtigen Regierungsämter mit Angehörigen der Familie und des Klans von Kadyrow besetzt werden. Nach seiner Wiederwahl im Jahr 2016 hat Kadyrow seinen Neffen Jakub Sakrijew zum stellvertretenden Ministerpräsidenten der Republik ernannt. Ein weiterer Neffe Kadyrows, der 28-jährige Idris Tscherchigow, wurde im November 2017 zum Chef der Verkehrspolizei ernannt. Tscherchigows Vater fungiert bereits als Minister für Verkehr und Kommunikation. Den Posten von Idris Tscherchigow hatte zuvor Schamchan Denilchanow innegehabt, der zufälligerweise mit Ramsan Kadyrows Schwester verheiratet ist. Denilchanow wiederum wurde in das für Tschetschenien zuständige Innenministerium versetzt.

Diese Entwicklung hat sich in den letzten Monaten verstärkt. Vier Mitglieder von Kadyrows Familie haben seit September Spitzenposten in der staatlichen Verwaltung erhalten. Im Dezember 2017 wurde Chas-Magomed Kadyrow, ein 21-jähriges Mitglied der Familie Kadyrow, zum Polizeichef der Hauptstadt Grosnyj ernannt. Chas-Magomedow hatte zuvor die Antidrogenbehörde geleitet. Dieser Posten ging nach der Beförderung Chas-Magomedows an Gajirbek Delimchanow, ein anderes Familienmitglied. Im gleichen Monat wurde Tamerlan Chutschijew, ein Angehöriger des Kadyrow-Klans, zum Verwaltungschef im tschetschenischen Rayon Atschchoj-Martan ernannt. Tamerlans Bruder Muslim erhielt den Posten des Bürgermeisters der Hauptstadt Grosnyj.

Trotz der Haushaltskürzungen bleibt Kadyrow seiner absoluten Unterstützung für Wladimir Putin treu. Der russische Präsident hat im Laufe des Jahres 2017 bei einer Reihe von Gelegenheiten die Arbeit Kadyrows gelobt und sich zufrieden gezeigt, wie der Führer Tschetscheniens seine Republik regiert. Kadyrow heischt allerdings weiterhin nach Unterstützungsbekundungen durch den Kreml. So meinte er in einem Interview für einen russischen Fernsehsender, dass er bereit sei, von seinem Posten abzutreten. Diese Aussage wurde umgehend vom Kreml zurückgewiesen, der eine Erklärung veröffentlichte, der zufolge das Oberhaupt Tschetscheniens auf seinem Posten bleibe, weil es vom russischen Präsidenten gebraucht werde.

Ungeachtet des schillernden Verhaltens Kadyrows und der verbreiteten Vorwürfe wegen Unterschlagung föderaler Haushaltsmittel ergab eine Meinungsumfrage des Lewada-Zentrums von 2016, dass rund 70 Prozent der Bevölkerung Russlands die Wiederernennung Kadyrows als Oberhaupt der Republik Tschetschenien im September 2016 unterstützten.

Fazit

Bei den russischen Präsidentschaftswahlen im März 2018 erhielt Wladimir Putin in Tschetschenien 91,44 Prozent der Stimmen. Auch wenn in Tschetschenien nur die Hälfte der Wahlberechtigten zur Urne ging, war Kadyrow erfolgreich, indem er in Tschetschenien für den Kreml eines der besten regionalen Wahlergebnisse in der Russischen Föderation erreichte. Die Wiederwahl Putins für weitere sechs Jahre dürfte die Position des tschetschenischen Führers weiterhin absichern. Das prognostizierte Wirtschaftswachstum in Russland und Kadyrows Fähigkeit, sich an wechselnde Haushaltslagen anzupassen – belegt durch seine Konzentration auf »familiäre Personalpolitik« – werden Kadyrows Position in Tschetschenien wie auch in Moskau weiter stärken. 2017 hat Tschetschenien die Republik Dagestan wieder als jene Region des Nordkaukasus abgelöst, die am meisten mit Aufständischen zu kämpfen hat. Angesichts 59 Toter, die aufgrund der Konflikte 2017 in Tschetschenien zu verzeichnen waren (in Dagestan waren es 47), braucht das Land aus Sicht des Kreml mehr denn je die starke Führung Ramsan Kadyrows.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

  • Aliyev, Huseyn: When informal institutions change. Institutional reforms and informal practices in the former Soviet Union, Ann Arbor: University of Michigan Press 2017.
  • Souleimanov, Emil Aslan; Huseyn Aliyev, Jean-François Ratelle: Defected and loyal? A case study of counter-defection mechanisms inside Chechen paramilitaries, in: Terrorism and Political Violence, 11. Juli 2016.
  • Russell, John: Kadyrov’s Chechnya—Template, Test or Trouble for Russia’s Regional Policy?, in: Europe-Asia Studies 63.2011, Nr. 3, S. 509–528.
  • Souleimanov, Emil Aslan, and Grazvydas Jasutis. »The dynamics of Kadyrov’s regime: between autonomy and dependence.« Caucasus Survey 4.2 (2016): 115–128.

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