Wirtschaftliche Verflechtungen und politische Asymmetrien
Wirtschaftliche Fragen wurden sehr früh zu einem Kernstück der eurasischen regionalen Integration, weil die wirtschaftlichen Reformen in den 1990er Jahren als die Kernaufgabe der neuen unabhängigen Staaten empfunden wurden. Ganz wie im Sicherheitsbereich ist die Entwicklung der eurasischen wirtschaftlichen Integration durch zwei Merkmale geprägt, nämlich durch die sowjetische Vergangenheit und die bestehenden Machtasymmetrien. Der Zerfall der UdSSR hinterließ Volkswirtschaften der Länder Eurasiens, die stark miteinander verflochten waren: durch die gemeinsame Infrastruktur im Transport- und Energiebereich; durch die Abhängigkeit von Rohstofflieferungen aus anderen Ländern der Region und durch die technologischen Komplementaritäten im verarbeitenden Gewerbe. Das wichtigste Erbe der sowjetischen Zeit ist jedoch die Verbreitung der russischen Sprache und die Gemeinsamkeiten im Verhalten und in der Kultur. Sie wurden zu einer der Grundlagen der neuen, marktwirtschaftlichen Verflechtungen, die im Zuge der Transformation entstanden sind, etwa durch Direktinvestitionen oder Arbeitsmigration.
Interessanterweise führen die wirtschaftlichen Verflechtungen in Eurasien nicht automatisch zu einem Erfolg der wirtschaftlichen Integration (wie am Beispiel der Integrationsprojekte der 1990er Jahre zu sehen ist). Es ist eher umgekehrt: Für viele Länder sind gerade die starken wirtschaftlichen Abhängigkeiten von anderen Staaten Eurasiens, insbesondere Russland, ein Grund zur Sorge. Das liegt an einer zweiten Besonderheit der Region, nämlich der enormen wirtschaftlichen Asymmetrie zugunsten Russlands. Ohne die Russische Föderation wären die Verbindungen zwischen den einzelnen Staaten der Region zu vernachlässigen. Selbst in der Subregion Zentralasien spielen die Beziehungen der Länder zueinander eine geringere Rolle als jene zu Russland. Dabei scheut Russland nicht davor zurück, diese Abhängigkeit als Druckmittel zu verwenden. Bereits in den 1990er Jahren hatte Russland regelmäßig formale und informelle Wirtschaftssanktionen gegen seine Nachbarländer eingesetzt. In den 2000er Jahren wurde dieser Ansatz noch stärker verfolgt. Deswegen sollte es nicht verwundern, dass die tatsächlichen Erfolge der regionalen Integration in Eurasien gerade in einer Zeit erreicht wurden, als die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den beiden für die eurasische Integration wichtigsten Staaten – Kasachstan und Russland – im Vergleich zu den 1990er Jahren deutlich abnahmen.
Eurasische Wirtschaftsunion
Bis zum Jahr 2000 blieb die regionale Integration in Eurasien primär eine Frage der Rhetorik, die von den Regierungen gern eingesetzt wurde, um innenpolitisch ihre Popularität zu steigern. Das blieb jedoch fast ohne tatsächliche wirtschaftspolitische Konsequenzen. Die Situation änderte sich im Jahr 2010 mit der Gründung einer Zollunion von Kasachstan, Belarus und Russland. 2015 wurde aus der Zollunion die Eurasische Wirtschaftsunion; im selben Jahr traten der Organisation mit Armenien und Kirgistan zwei weitere Länder bei. Kernstück der EAWU bleibt die Handelsintegration, die auf drei Grundsätzen fußt: Abschaffung der internen Zölle und Handelsgrenzen, Harmonisierung der Zölle gegenüber Drittändern und Übertragung der handelspolitischen Kompetenzen an die Eurasische Wirtschaftskommission. Hinzu kommen die Freizügigkeit der Menschen und des Kapitals.
Die EAWU ist eindeutig kein Pendant zur EU und wird es auch nicht werden. Formal scheint die EU tatsächlich das Muster zu sein, nach dem die EAWU aufgebaut wurde. Inhaltlich ist die Funktionsweise der EAWU-Institutionen ganz anders als die der EU und der Grad der Kooperation in der EAWU viel bescheidener. Jedoch ist das bereits erreichte Niveau der Integration in der EAWU im internationalen Vergleich nicht zu unterschätzen: Es gibt nur sehr wenige funktionsfähige Zollunionen in der Welt. Bis zum Jahr 2015 wurden mehr als 90 % der Zölle von den Regularien der EAWU erfasst. Nach dem Beitritt Kasachstans zur WTO hat das Land unilateral beschlossen, Zölle für mehrere Güter zu senken, weswegen hier zurzeit nur ca. 60 % der Zollsätze harmonisiert sind. Eine sehr große Lücke in den Regeln der EAWU stellen die sogenannten nichttarifären Handelshemmnisse dar, beispielsweise Güterzertifizierungen oder Gesundheitsvorschriften. Sie verbleiben im Entscheidungsbereich der einzelnen Staaten und stellen daher für den internen Handel eine wichtige Hürde dar. Die Einführung der russischen Sanktionen gegen die EU (Verbot landwirtschaftlicher Importe) ist ein weiteres Problem für die EAWU, da diese Embargos nicht von anderen EAWU-Staaten mitgetragen wurden.
Es gibt vereinzelt Fälle, in denen EAWU-Länder aus politischen Gründen die Kontrollen an den internen Grenzen der EAWU wiederherstellen. So hatte Kasachstan im Jahr 2017 für mehrere Wochen die Grenze zu Kirgistan geschlossen. Dieser Maßnahme war heftige Kritik des damaligen kirgisischen Präsidenten an die Adresse Kasachstans wegen einer angeblichen kasachischen Einmischung in die kirgisischen Wahlen vorausgegangen. Im Jahr 2014 hat Russland ähnliche Maßnahmen gegen Belarus ergriffen, weil Belarus intensiv dazu genutzt wurde, das russische Lebensmittelembargo gegen die EU zu umgehen. Beide Konflikte wurden zwar nach einigen Monaten gelöst, beeinträchtigen aber die Glaubwürdigkeit der EAWU.
Neben der EAWU bestehen in Eurasien noch zwei weitere wichtige Institutionen der wirtschaftlichen Integration, die allerdings eng mit der EAWU verbunden sind. Die Eurasische Entwicklungsbank konzentriert sich auf die Vergabe von Krediten zur Förderung der EAWU-Volkswirtschaften und der regionalen Integration. Der Eurasische Stabilisierungs- und Entwicklungsfonds wurde im Zuge der Krise von 2008 gegründet, um die schwächeren Volkswirtschaften der Region zu stützen. Heute finanziert er auch langfristige Strukturprojekte in der Region.
EAWU – politisch, russlandzentriert, irrelevant?
In der Diskussion über die EAWU werden von den Wissenschaftlern und Experten regelmäßig drei Feststellungen als selbstverständlich angenommen. Erstens sei die EAWU primär ein politisches Projekt und die wirtschaftliche Zielsetzung und Wirksamkeit der Organisation sei zu vernachlässigen. Zweitens sei die EAWU eindeutig von Russland dominiert und die kleineren Staaten hätten in der Union keinen Einfluss. Drittens sei die EAWU schlichtweg irrelevant: Die Organisation sei unfähig, selbständige Entscheidungen zu treffen (die EAWU verfüge also nicht über Actorness, wie es in der politikwissenschaftlichen Diskussion genannt wird).
Alle drei Stellungnahmen sind keineswegs unstrittig. Betrachtet man die Dokumente und formalen Erklärungen, so ist die EAWU als Institution eindeutig nicht politisch: Es fehlen selbst rudimentäre Bekenntnisse zu politischen Werten oder symbolische gemeinsame politische Institutionen, was auf die eindeutige Haltung Kasachstans hierzu zurückzuführen ist. Die Situation stellt sich jedoch komplizierter dar, wenn man die Deutung der EAWU durch einzelne Mitgliedsstaaten betrachtet, was im Folgenden geschehen soll. Darüber hinaus ist es auch nicht zutreffend, dass die EAWU-Staaten keine wirtschaftlichen Gewinne aus deren Mitgliedschaft erzielen können. Für Kirgistan und Armenien bedeutet die Mitgliedschaft in der EAWU durch die Umverteilung der gemeinsamen Zolleinnahmen höhere Haushaltseinnahmen und einen freien Zugang von Migranten zum russischen Arbeitsmarkt. Belarus profitiert von erheblichen russischen Subventionen (insbesondere durch reduzierte Rohstoffpreise). Interessanterweise ist die Frage am schwierigsten zu klären, inwieweit Russland von der EAWU wirtschaftlich profitiert.
Die Institutionen der EAWU als eindeutig von Russland dominiert zu bezeichnen, erscheint ebenfalls als eine Vereinfachung. Den formal bestehenden Regeln zufolge werden die Entscheidungen in der EAWU entweder auf Konsensbasis oder durch die einfache Stimmenmehrheit der Vertreter der Mitgliedsstaaten gemacht. Die Eurasische Wirtschaftskommission hat bereits Entscheidungen getroffen, die entweder der russischen Position zuwiderliefen oder sogar russische Behörden dazu auffordern, nationale Verordnungen und Regulierungen zu ändern. Zur Illustration ein Beispiel: Im Jahr 2014 scheiterte Russland mit dem Versuch, zwei andere Mitglieder der Zollunion zu überzeugen, Freihandelsabkommen mit der Ukraine aufzukündigen. Russland hat das zwar anderthalb Jahre später im Alleingang vollzogen, doch zeigt der Fall deutlich, dass die EAWU nicht immer das beschließt, was von Russland gewollt ist.
Hinzu kommt, dass die EAWU kein Produkt russischen Drucks auf andere Mitgliedsstaaten ist. Lediglich Armenien scheint der EAWU nach dem expliziten Druck Russlands und in der Befürchtung, russische Sicherheitsgarantien zu verlieren, beigetreten zu sein. Kasachstan hingegen hat die EAWU mitinitiiert und massiv unterstützt. Ohne die proaktive Haltung dieses Staates wäre die EAWU nicht zustande gekommen.
Was die Actorness der EAWU angeht, so ist die Situation ebenfalls nicht eindeutig. Die Forschung zu diesem Thema ist allerdings alles andere als umfangreich. Es ist jedoch festzustellen, dass die EAWU sich – anders als die EU – in ihren Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten nicht als unabhängiger Akteur versteht. Das ist nicht verwunderlich, da die meisten Mitglieder der EAWU Autokratien sind, die eine solche Reduzierung ihrer Macht nicht tolerieren würden. Zum Teil wurden die Institutionen der EAWU, die ursprünglich größere Möglichkeiten hatten, sich von den Mitgliedsstaaten zu emanzipieren, konsequent durch institutionelle Reformen geschwächt. Ein Beispiel hierfür ist das Gericht der EAWU. Noch wichtiger ist, dass die Bürokraten in den Apparaten der EAWU, die um ihre Karrieren zu fürchten haben, es in vielen Fällen bevorzugen, vorsichtig zu handeln und alle möglichen Gegensätze auf die politische Ebene zu verschieben – dieselbe Haltung ist auch auf nationaler Ebene in den EAWU-Staaten zu beobachten.
Die Actorness der EAWU manifestiert sich allerdings auf eine andere Weise, nämlich nicht in ihren Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten, sondern in den Versuchen der Eurasischen Wirtschaftskommission, in einen Wettbewerb mit einzelnen nationalen Ressorts dieser Staaten zu treten und den politischen Entscheidungsträgern ihren Nutzen gegenüber diesen Ressorts zu beweisen. Hinzu kommt, dass die EAWU – wie andere regionale Organisationen auch – ihre Actorness zudem durch die Entwicklung der Beziehungen zu anderen regionalen Organisationen stärken kann. Es geht dabei nicht nur um die eurasischen Organisationen, sondern auch um Gruppen und Projekte außerhalb der Region – ein Beispiel sind die Verhandlungen über eine »Kongruenz« zwischen der EAWU und der chinesischen »Belt and Road«-Initiative.
Wie geht es weiter?
Jahrzehnte des Scheiterns von Versuchen einer Wirtschaftsintegration in Eurasien führen zu berechtigten Zweifeln an der langfristigen Funktionalität der EAWU. Diese regionale Organisation hat jedoch bereits viel mehr erreicht, als alle ihre Vorgänger, und es gibt heute zumindest keine Belege, dass die Mitgliedsstaaten in absehbarer Zeit von ihren Verpflichtungen in der EAWU stark abweichen werden, obwohl auch weiterhin gelegentliche Abweichungen vorkommen werden. So hat etwa Kasachstan nach der Abwertung des russischen Rubel im Jahr 2014 keine Schutzmaßnahmen gegen billiger gewordene russische Importe eingeführt (1998 noch hat das Land in einer ähnlichen Situation sofort protektionistische Barrieren geschaffen). Eine Veränderung dieser Situation erscheint unwahrscheinlich.
Ebenso unwahrscheinlich ist allerdings auch eine starke Vertiefung der regionalen Integration. Die EAWU-Länder vermeiden eine zu starke Abhängigkeit voneinander und von Russland: Die letzten zwei großen Fortschritte der EAWU vom Jahr 2017 – der gemeinsame Markt für Arzneimittel und das neue Zollgesetzbuch – wurden nur in einer Kompromissfassung verabschiedet, die viele ursprünglich geplanten Integrationsschritte ausschließt.
Von noch größerer Bedeutung sind jedoch die vermehrten Anzeichen, dass Russland sein Interesse an der EAWU verliert. Wie bereits erwähnt, leuchten – schaut man auf die Funktionsweise der EAWU – gerade für Russland die Vorteile nicht sonderlich ein: Die Märkte der anderen EAWU-Staaten sind schlicht zu klein, um für Russland Gewinne zu schaffen. Für eine Erklärung, warum Russland die EAWU mitträgt, sollte man daher vielleicht nicht nur auf objektive wirtschaftliche Vorteile schauen, sondern auch die Wahrnehmungen der russischen Eliten betrachten. Als die EAWU gegründet wurde, wurde sie von der russischen Führung als ein Zeichen der politischen Bedeutung Russlands gesehen, sowohl global, als auch im eurasischen Raum. Um dieses Zeichen zu wahren, war Russland auch bereit, gegenüber anderen Ländern Eurasiens Zugeständnisse zu machen, und Moskau hat sich intensiv dafür eingesetzt, dass die EAWU international (etwa von der EU) anerkannt wird. Diese Vorstellung von der geopolitischen Bedeutung der EAWU scheint wenig mit dem eigentlichen Wesen der Organisation zu tun zu haben, prägt aber gleichwohl das russische Handeln in Bezug auf diese Organisation.
Im Laufe der Zeit ist die EAWU jedoch aus dem Fokus der russischen Führung gewichen. Die Aufmerksamkeit der politischen Führung in Moskau ist jetzt vielmehr auf die Krisen um die Ukraine oder in Syrien, auf die Kooperation mit China und anderen asiatischen Ländern oder auf die zahlreichen Krisen in den Beziehungen zu den USA und der EU gerichtet, die für den Großmachtanspruch Russlands jetzt bedeutender zu sein scheinen. In Putins jüngster Rede zur Lage der Nation im März 2018 wurde die EAWU nur am Rande erwähnt. Das bedeutet nicht, dass die EAWU von Russland nicht mehr unterstützt wird, sie scheint jetzt lediglich als nicht sehr wichtig wahrgenommen zu werden.
Das kann paradoxerweise sogar Vorteile für die EAWU bedeuten, indem sie sich noch stärker auf rein technische Handels- und Wirtschaftsfragen (wo echte Fortschritte möglich sind) konzentrieren kann. Aber es erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass Russland bei seinen (wirtschafts-)politischen Entscheidungen die Interessen der EAWU-Staaten nicht mehr berücksichtigen wird. Das dürfte die Kooperation in der EAWU negativ beeinflussen.