Die Linke in Russland steckt in der Ecke fest

Von Sean Guillory (Universität Pittsburgh)

Zusammenfassung
Russlands kleine und zersplitterte Linke versucht, in der Opposition gegen Putin Bedeutung zu gewinnen. Dabei stellt sich erneut die alte Frage, ob das System von innen oder von außen herauszufordern ist. Für einige Linke, beispielsweise den Anführer der »Linken Front«, Sergej Udalzuw, besteht der Weg darin, die Linke zu einer dritten Kraft zwischen Putin und Alexej Nawalnyj zu vereinen und, wo möglich, innerhalb des restriktiven russischen Wahlsystems zu agieren. Andere kleinere linke Gruppen stehen hingegen solidarisch Nawalnyjs Bewegung zur Seite und hoffen, aus entstehenden Grassroots-Strukturen eine linke Alternative aufzubauen. Kann die Linke einen Weg aus ihrer Ecke finden? Die Aufgabe scheint Sisyphusarbeit zu verlangen, ist aber nicht ohne Potential.

Einleitung


»Viele betrachten die außersystemischen Linken als Loser, die sich irgendwo insgeheim einen ‘runterholen und nichts Echtes zu bieten haben« – mit diesem Satz beendete Sergej Udalzow, Anführer der »Linken Front«, Anfang Februar auf einem Forum zu den Präsidentschaftswahlen sein Plädoyer an die russische Linke, Pawel Grudinin, zu unterstützen, den Kandidaten der Kommunistischen Partei. »Lasst uns von dem Ansatz von [Eduard] Bernstein abrücken, dass es um den Prozess geht, und nicht um die Ergebnisse. Genug mit der Selbstbefriedigung in der Ecke, lasst uns dieses System umarmen, bis es keine Luft mehr bekommt!«


Udalzows Rede verweist auf ein Dilemma, das die Linken schon immer diskutiert haben: Bis zu welchem Maße kann oder soll sich eine linke Bewegung an einem System beteiligen, das sie letztendlich zerstören will? Die Frage, vor der Udalzow und andere linke Aktivisten standen, war, ob sie Grudinin unterstützen oder sich der liberalen Opposition von Alexej Nawalnyj anschließen und die Wahlen boykottieren sollten. Sollte man das System von innen oder von außen herausfordern? Eine uralte Frage.


Wie man sich zu der russischen Präsidentschaftswahl verhalten soll, war nur eine von vielen Fragen, von denen die kleine und zersplitterte Linke geplagt wird. In einem Land, in dem Lenins mumifizierte sterbliche Überreste immer noch aufgebahrt am Roten Platz liegen, in dem kommunistische Ikonographie immer noch die Fassaden vieler Gebäude schmücken, und in dem Meinungsumfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in Russland eine Rückkehr zum Sozialismus begrüßen würde, erscheint der Kampf der russischen Linken um politische Relevanz dennoch als Sisyphusarbeit.


Was ist links?


Wie auch Linke in anderen Ländern, haben die Linken in Russland mit ihrer Identität zu kämpfen. Was ist die Linke, und was bedeutet es heute, links zu sein? Diese Frage ist in Russland umso drängender, weil hier die Kommunistische Partei siebzig Jahre lang regiert hat, bis ihr politisches und wirtschaftliches Modell einen Zusammenbruch erlitt. Dabei hatte es auch innerhalb des sowjetischen Sozialismus durchweg Alternativen gegeben, insbesondere nach Stalins Tod. Allerdings bildeten diese Gruppierungen nur einen eher kleinen und streitfreudigen Teil der sowjetischen intellektuellen Kultur und wurden wegen ihrer mangelnden kommunistischen Rechtgläubigkeit regelmäßig verfolgt.


Die Demontage der Orthodoxie der Kommunistischen Partei in den späten 1980er Jahren und der Zusammenbruch des sowjetischen Systems 1991 öffneten Räume zur Artikulation eines anderen Sozialismus. Doch es mangelte den linken Gruppen in Russland an Kapazitäten, um dieses Vakuum zu füllen. Nachdem die Wählerbeliebtheit der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) nach Gennadij Sjuganows Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen 1996 zu schwinden begann und sich die KPRF in den 2000er Jahren zu einem politischen Fassadengebilde wandelte, dümpelten linke Gruppen ziellos dahin und zogen sich in eine kleine Ecke der ohnehin bereits kleinen Opposition in Russland zurück.


Während die organisierte Linke in Russland weiter dahintrieb, bewahrte sich die intellektuelle Linke ihre pulsierende Dynamik. Übersetzungen marxistischer und poststrukturalistischer Texte fanden in Russland ein Publikum und sorgten für neue Perspektiven und intellektuelle Innovationen. Linksgerichtete Intellektuelle knüpften Netzwerke mit westlichen Intellektuellen, Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern und Aktivisten. Das Ergebnis des ersten Jahrzehnts Putinismus war paradox: Es hatte linksgerichteten Intellektuellen die Mittel an die Hand gegeben, das sowjetische System zu reflektieren und sozialistische Politik neu zu konfigurieren, während Putins Ölboom sie zur gleichen Zeit ihrer potentiellen Anhängerschaft beraubte.


Die Proteste von 2011/12 bedeuteten ein kurzes Aufflackern. Linke waren in Schlüsselrollen an den Massenprotesten gegen die Wahlfälschungen beteiligt. Der Staat schlug mit vielfältigen Repressionen zurück, mit Verfolgung, Festnahmen, Erpressung, Überwachung und manipulierten Strafverfahren, die gleichermaßen gegen Nationalisten, Liberale und Linke gerichtet waren. Aber es waren die Linken, die am heftigsten den Schlag des Staates zu spüren bekamen, nachdem im Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz die Zusammenstöße der Polizei mit Protestierenden erfolgten. Sergej Udalzow und Leonid Raswosshajew von der »Linken Front« wurden letztendlich – nach Ansicht vieler aufgrund fingierter Beschuldigungen – zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie angeblich die Gewalt auf dem Bolotnaja-Platz organisiert hätten. Das bedeute praktisch das Ende der Linken Front. Unter den Protestierenden, die wegen der Gewalt festgenommen und verurteilt wurden, waren auch Anarchisten, Antifaschisten, Mitglieder der Linken Front und der »Russischen sozialistischen Bewegung«.


Heute reichen die Strömungen in linksgerichteten Organisationen – neben zahlreichen ungebundenen Sympathisanten, Wissenschaftlern, Künstlern, Intellektuellen, Politikern, Gewerkschaften, Internetportalen, Medien und anderen, die sich außerhalb der KPRF mit der russischen Linken identifizieren mögen – von Anarchisten bis Neostalinisten. Zu den Gruppen gehören das »Anarchistische schwarze Kreuz«, die »Linke Front«, der »Linke Block«, die »Russische sozialistische Bewegung«, die »Revolutionäre Arbeiterpartei«, die »Sozialistische Alternative«, die »Vereinigte Kommunistische Partei«, die »Kommunistische Partei ›Kommunisten Russlands‹ « und die »Russische kommunistische Arbeiterpartei« (RKRP-KPSS) / »Rotfront« (»Russische vereinigte Front der Arbeit«), um nur einige zu nennen.


Die Zahl der Mitglieder dieser Organisationen reicht von einigen Hundert bis zu einigen Tausend; die Organisationen selbst sind primär in Moskau und St. Petersburg aktiv, wobei einige auch Regionalverbände haben. Die meisten dieser Organisationen versuchen, soziale und politische Kämpfe in den Vordergrund zu stellen, vor allem Arbeiterfragen. Einige Gruppen sind aktiver als andere, vor allem hinsichtlich der Organisation von Protesten und Versammlungen.


In Wirklichkeit ist die russische Linke eine Bewegung, bei der überwiegend Aktivisten im Zentrum stehen, die versuchen, lokale Auseinandersetzungen mit größeren Themen wie Korruption, Arbeiterrechten, Ökologie, politischen Rechten, Ungleichheit der Einkommen, Meinungsfreiheit und Armut zu verbinden.


Einige wenige Gruppen versuchen, sich im Rahmen des restriktiven russischen Wahlsystems politisch zu engagieren. Nahezu keine von ihnen werden zu Wahlen zugelassen, außer vielleicht als kontrastspendende Clownsfigur, wie im Falle Maxim Surajkin, der als Kandidat der »Kommunisten Russlands« bei den letzten Präsidentschaftswahlen antrat. Einige Gruppen führen ihre Ursprünge auf bestimmte Aspekte des Sowjetsystems zurück. Das ist ein Ansatz, der eindeutig generationsbedingte Grenzen hat: Wer sich mit der Sowjetunion identifiziert, ist eher fortgeschrittenen Alters oder gar alt. Einige sind nur dem Namen nach »Kommunisten« und repräsentieren eher eine fast schon parodistisch anmutende Mischung aus Sowjetnostalgie und Patriotismus. Diejenigen Gruppen, die nicht auf sowjetische Symbolik zurückgreifen, haben eine jüngere Mitgliederschaft; die meisten Anhänger dort sind ältere Teenager oder in ihren Zwanzigern. Ganz wie im Westen auch wird es auf diese neue Generation junger Linker ankommen, wenn linke Politik in Russland wiederbelebt werden soll. Einige dieser Gruppen sind stärker westorientiert – sie erkennen beispielsweise die Relevanz von Themen wie Ethnizität, Genderfragen oder Sexualität an – und pflegen eher einen sozialdemokratischen Ton. Die meisten sind in Medien aktiv und einige wenige stellen kaum mehr als eine Online-Community dar.


Was vereint all diese Gruppen unter dem Banner der russischen Linken? Sie sind zwar weder programmatisch noch institutionell vereint und repräsentieren ein breites Spektrum an Meinungen, Methoden und Aktivitäten, identifizieren sich aber alle mit linken Strömungen: mit Anarchismus, Antifaschismus, Marxismus, Sozialismus, Leninismus, Trotzkismus oder Kommunismus (oder irgendetwas dazwischen). Es besteht ein allgemeiner Konsens in Bezug auf den kapitalistischen, ja sogar neoliberalen Charakter des Putin-Regimes, auf die unersättliche Gier der Elite und deren Abhängigkeit von Korruption, auf den Einsatz der Repressionen, den Mangel an Demokratie und den schrumpfenden politischen und kulturellen Pluralismus im politischen System Russlands. Nahezu alle Gruppen stehen der Privatisierung und den liberalen Reformen der 1990er Jahre ablehnend gegenüber. Sie treten für eine Nationalisierung der strategisch wichtigen und mächtigen Unternehmen Russlands ein, und dafür, deren Gewinne zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen.


Sie müssen repräsentiert sein


Einer der Lichtblicke der russischen Linken ist die Entwicklung von Medienprojekten, die im Land soziale und wirtschaftliche Fragen thematisieren. Online-Projekte junger linker Journalisten und Aktivisten, beispielsweise »Serkalo« (»Spiegel«), »Rasplata« (»Bezahlung«), »Rabotschaja platforma« (»Arbeiterplattform«), »September« und Thinktanks wie das »Zentrum für wirtschaftliche und politische Reformen« oder das »Zentrum für soziale und Arbeiterrechte« berichten aus dem Leben in der Provinz, über Arbeitsrechte und -kämpfe sowie sozialen Protest, und sie verorten die russischen Linken in einer breiteren internationalen linken Bewegung und Kultur. Diese Initiativen und Internetportale wie »Mediasona« (»Medienzone«), »Forum.msk«, »Rabkor« (»Arbeiterkorrespondent«), »Okrytaja lewaja« (»Offene Linke«) und »Swobodnaja pressa« (»Freie Presse«) sowie die lange Liste der Kanäle und Seiten auf »Telegram«, »Facebool«, »Vkontakte«, »Livejopurnal« usw. sind Teile einer wachsenden, aufstrebenden Online-Community aus linksgerichteten Internetressourcen und sozialen Medien, aus Journalismus und Kommentar.


Wichtiger ist jedoch, dass die russischen linken Medien versuchen, die Bevölkerungsmehrheit darzustellen und zu vertreten, die auf zynische Weise von der Regierung befriedigt bzw. von den Medien und der liberalen Opposition ignoriert und verunglimpft wird. Die Leitlinien des Online-Projektes »Serkalo« formulieren es so: Fragen der sozialen Gerechtigkeit »bleiben eher unbeleuchtet, weswegen die Wahrnehmung dieser Themen sich auf eine Reproduzierung von Mythen, auf sozialen Rassismus und auf gegenseitige Ablehnung der Menschen beschränkt […] Unsere Helden sind nicht nur jene, die unterhalb der offiziellen Armutsgrenze leben, nämlich jeder siebte Bürger Russlands, sondern auch diejenigen mit durchschnittlichem Einkommen, deren Wohlstand üblicherweise als garantiert betrachtet wird«.


Die meisten dieser Aktivitäten bleiben allerdings von jenen losgelöst, die die linken Medien eigentlich zu repräsentieren suchen. Das Problem sind hier eher fehlende Ressourcen als mangelnder Wille. Linke haben versucht, sich mit den vielen lokalen Arbeits-, Umwelt- sozialen und wirtschaftlichen Kämpfen zu verbinden, die über die Russische Föderation verstreut stattfinden. Investigativer Journalismus zu lokalen Themen und Kämpfen und der Versuch, diesen Kämpfen eine Stimme zu geben, bringt die Linken unweigerlich in Verbindung mit den Gemeinschaften vor Ort. Zusätzlich zu den Herausforderungen, die eine »Landung« in diesen Gemeinschaften und eine Beteiligung an deren Kampf bedeuten, fehlen vielen linken Organisation die institutionellen Kapazitäten oder das Kapital, derlei zu unternehmen. Teile der russischen Linken sind intellektuell reich, aber arm an Ressourcen.


Insgesamt besetzt die russische Linke in der politischen Kultur Russlands nur eine kleine Ecke, in der sich allerdings viele drängeln und einige Gruppen versuchen, sich aus ihr herauszuwinden. Ein Generationswechsel könnte jene Energie und jenen Idealismus bringen, den die Linke braucht. Sollte das der Fall sein, dürften jüngere Gruppen wie das »Anarchistische schwarze Kreuz«, die »Linke Front«, der »Linke Block«, die »Russische sozialistische Bewegung«, die »Sozialistische Alternative« potentiell eine Zukunft haben – die »Vereinigte Kommunistische Partei«, die »Kommunisten Russlands« und die »Russische Kommunistische Arbeiterpartei / Rotfront« haben sie nicht.


50 Shades of Red


Die Medienberichterstattung über die russische Linke lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Krise. Es besteht kein Zweifel, dass die staatlichen Repressionen die Linke hart getroffen haben: Aktivisten der Anarchisten, der Antifa, der Linke Front und des Linke Blocks werden regelmäßig verhaftet und gefoltert. Ein russisches Gericht hat die Auflösung der linksgerichteten »Interregionalen Gewerkschaft ›Arbeiter-Assoziation‹ « (MPRA) wegen der Annahme ausländischer Finanzierung angeordnet. Sie ist eine der wenigen unabhängigen Gewerkschaften in Russlands und vertritt rund 3.000 Arbeiter in 16 Werken. Die Hauptverwaltung Extremismusbekämpfung des russischen Innenministeriums (auch »Zentrum E« genannt) und die Medienaufsichtsbehörde »Roskomnadsor« beobachten intensiv linke und andere »extremistische« (so die offizielle Begründung) Aktivitäten.


Politische Trennlinien haben das vollendet, was die Repressionen nicht ausrichten konnten. Meinungsverschiedenheiten zur Maidan-Revolution in der Ukraine, zur Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass haben die bestehenden Spaltungen unter den Linken nur noch verschärft. Gruppen, die den Maidan ablehnten oder ihn als faschistischen Staatsstreich betrachten, unterstützen die Einnahme der Krim und sehen in dem Donbass den Ort eines Klassenkampfes. Das lässt sie näher an die russischen Nationalisten und das Regime Putin heranrücken denn an ihre potentiellen Genossen, die den Maidan als Volksaufstand betrachten und das Vorgehen der russischen Regierung als Imperialismus. Die Polarisierung durch die Ukraine macht es schwierig, eine mittlere Position einzunehmen. Kirill Medwedew von der Russischen sozialistischen Bewegung und Musiker in der Band »Arkadij Koz« sagte jüngst gegenüber der »Nowaja gaseta«: »Wir haben versucht, von Anfang an eine zentristische Position einzunehmen. […] Von der einen Seite wurde uns vorgeworfen, dass wir Putin-Freunde seien und den progressiven Maidan nicht unterstützen würden. Von der anderen wurden wir beschuldigt, Bandera-Leute zu sein. Ich denke nach wie vor, dass wir den einzig normalen Weg gewählt haben, doch den haben nur sehr wenige eingeschlagen.«


Während die russische Linke in der dritten Amtszeit Putins durch Repressionen dezimiert und durch die Ukraine-Frage gespalten wurde, gibt es bereits jetzt zwei Herausforderungen, von denen die Rolle abhängen wird, die die Linken in Putins vierter Regierungszeit spielen könnten. Das ist zum einen die Frage, ob und wie man sich vereinigen sollte, und zum anderen die Frage nach dem Verhältnis zur liberalen Opposition und insbesondere zu Alexej Nawalnyj.


Die Lösung dieser Fragen durch die russischen Linken wird für deren Zukunft in den nächsten sechs Jahren entscheidend sein.


»Wir haben fünf Jahre gewartet, dass Udalzow freikommt und eine breite linke Bewegung anführt. Stattdessen trägt er jetzt irgendjemandem die Aktentasche hinterher« erklärt Darija Mitina vom Zentralkomitee der Vereinigten Kommunistischen Partei gegenüber der »Nowaja gaseta«. Die Aktentasche gehört hier wohl Pawel Grudinin, dem »Erdbeer-Oligarchen«, der vor Moskau eine Lenin-Sowchose, eine sogenannte sozialistische Oase leitet. Grudinin wurde Präsidentschaftskandidat der KPRF, nachdem er die Online-Vorwahlen (russ.: »prajmeris«) der Linken Front gewonnen hatte. Das hatte auf das KPRF-Urgestein Sjuganow Druck ausgeübt, zur Seite zu treten, in der Hoffnung, dass dadurch der Kommunistischen Partei etwas neues Leben eingehaucht würde.


Udalzows Aufruf, Grudinin zu unterstützen, ergab Sinn und gleichzeitig keinen Sinn. In einer Zeit, in der die meisten alternativen politischen Wege versperrt sind, ist die KPRF die einzige linke politische Kraft, die an der Politik partizipieren kann, und die über eine Wählerschaft sowie Ressourcen auf föderaler Ebene verfügt. Das Problem der KPRF besteht darin, dass ihr der politische Wille fehlt, gegen das Regime Putin zu opponieren, und Grudinins Kandidatur hat daran nichts ändern können.


Viele russische Linke verwerfen die Vorstellung, dass ihre politische Zukunft in der kommunistischen Partei liegen könnte. Die Politik der KPRF ist für die Radikalen anrüchig, ihr Platz innerhalb des Putinismus ist Ergebnis einer Art Faust’schen Paktes: Zugang zum politischen System gegen Loyalität und vorgetäuschte Opposition. Wenn es einen Ort für elektorale Politik gibt, dann ist es die kommunale Ebene. Kritiker sagen, die KPRF sei nicht der Ort, die Linke wiederzubeleben, sondern der Ort, an dem sie schließlich zugrunde gehen wird. Das wurde durch Grudinins Kandidatur deutlich. Er war kaum mehr als ein Kapitalist in sozialistischem Gewand. »Es ist durchaus möglich, dass er tatsächlich eine Art soziale Verantwortung für Menschen empfindet, aber seine »Sowchose«, sein sowjetischer Schnurrbart, seine sowjetische Art zu reden und sein sowjetischer Anzug sind nur Image«, sagte der marxistische Kritiker Alexej Zwetkow gegenüber der »Nowaja gaseta«.


Letztendlich errang Grudinin 11 Prozent der Stimmen. Welchen Nutzen die Teile der außersystemischen Linken, die Grudinin unterstützten, davon hatten, bleibt ein Geheimnis.


Grudinins Kandidatur ließ die Kluft innerhalb der Linken wachsen, da viele Nawalnyjs Ruf gefolgt waren, die Wahlen zu boykottieren. Aus Sicht dieser Radikalen kann das System Putin nicht von innen verändert werden. Einzige potentielle Strategie wäre die Schaffung einer linken Volksbewegung, die mit den sozialen Bewegungen in Russland verbunden oder verbündet ist. Im Unterschied zum Westen, wo es möglich ist, Legitimität über Wahlen zu erzeugen, kann alternative Macht in Russlands »gelenkter Demokratie« nur von außen aufgebaut werden. Die russische Linke muss sich also innerhalb der Bewegung von Alexej Nawalnyj beteiligen, und dessen Fähigkeit zur Mobilisierung Tausender Menschen zum Thema Korruption als Gelegenheit betrachten, einen lebenswichtigen Raum für linke Partizipation zu öffnen. Beiseite zu stehen, würde die Linken der Möglichkeit berauben, auch nur irgendeine Wirkung zu erzeugen, während man die derzeit größte Bewegung in Russland in den Händen eines weiteren Retters auf weißem Ross ließe.


Udalzow schließ eine Zusammenarbeit mit Nawalnyj nicht aus. Das Problem ist aber, dass Nawalnyj und andere Liberale anscheinend nicht mit ihm kooperieren wollen. In einem Interview für das Portal »Daily Storm« rief Udalzow dazu auf, zu dem Bündnis von 2012 aus Linken, Liberalen und Nationalisten zurückzukehren. Als er jedoch auf Ilja Jaschin, den stellvertretenden Vorsitzenden der Partei »Parnas«, zugehen wollte, habe der liberal Aktivist geantwortet: »Ihr habt die Annexion der Krim unterstützt, ihr seid auf Putins Seite, und wie kann ich mit euch arbeiten, wenn ihr so schlechte Leute seid?« Udalzow räumt ein, dass Nawalnyj tatsächlich in der Lage war, 7–8.000 Menschen zu mobilisieren, »das sind aber eben keine Volksmassen! Wir erinnern uns noch an den Bolotnaja-Platz und den Sacharow-Prospekt, als 50, 60, 70.000 und bis zu 100.000 auf die Straße gingen. Und die Regierung hat standgehalten«. Udalzows wiederholte Aufrufe, sich seiner Aktion am 6. Mai zum sechsten Jahrestag der Bolotnaja-Proteste anzuschließen, wurden jedoch ignoriert. Lediglich ein paar Hundert Sympathisanten der Linken Front kamen zu seiner Demonstration. Mitglieder des Linken Blocks und der Russischen sozialistischen Bewegung hingegen waren unter den Tausenden zu finden, die sich am 5. Mai zu Nawalnyjs nicht genehmigter Aktion im Zentrum Moskaus versammelten. Udalzow wurde wieder in der Ecke alleingelassen.


In seiner Rede auf dem Forum zu den russischen Präsidentschaftswahlen sagte Udalzow, dass die russische Linke zu einer dritten Kraft zwischen Putin und Nawalnyj werden müsse. Das könnte stimmen, ist aber leichter gesagt als getan. Auch wenn Teile der russischen Linken, insbesondere unter den jungen Linken, vielversprechend erscheinen, ist es noch ein weiter Weg, bis die Linke in der Lage sein wird, als dritte Kraft aufzutreten. Die Wahrheit ist leider die, dass bei diesen Spekulationen in der russischen Oppositionspolitik die Linken eher auf die Liberalen angewiesen sind als umgekehrt. Es scheint, dass Gruppen wie der Linke Block oder die Russische sozialistische Bewegung dies widerwillig verstehen. An Nawalnyjs Seite zu stehen, scheint vorläufig einer der wenigen gangbaren Wege heraus aus der Ecke zu sein.


Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder


Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Artikel

Zweieiige Zwillinge. PiS und Fidesz: Genotyp und Phänotyp

Von Kai-Olaf Lang
Die regierenden Parteien in Polen und Ungarn haben vieles gemeinsam. Beide streben einen neotraditionalistischen Umbau von Staat und Gesellschaft an. Demokratie verstehen sie als Mehrheitsherrschaft, das Mandat, das sie vom Volk an den Wahlurnen erhalten haben, soll nicht durch „checks and balances“ beschränkt werden. In der EU setzen PiS und Fidesz auf die Sicherung und den Ausbau nationalstaatlicher Hoheitsbereiche. Aufgrund außen- und europapolitischer Differenzen – insbesondere in der Sicherheits- und Russlandpolitik – ist allerdings keine nationalkonservative Achse in Ostmitteleuropa entstanden. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de
Dokumentation

Die Struktur der Parteilisten zu den Dumawahlen 2011

Von Arkadij Ljubarew
Bei den Dumawahlen gilt das Verhältniswahlrecht, das heißt die Parteien stellen für das gesamte Land eine Wahlliste auf und erhalten entsprechend ihres Anteils an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen Abgeordnetensitze im Parlament. Der folgende Beitrag stellt die Regelungen für die Kandidatenlisten vor und analysiert die Struktur der Kandidatenlisten für die anstehenden Dumawahlen.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS