Einleitung
Der zu erwartende triumphale Sieg von Wladimir Putin bei den letzten Präsidentschaftswahlen im März 2018 hat sowohl der Bevölkerung des Landes, wie auch den ausländischen Beobachtern zweifelsfrei den personalistischen Charakter des politischen Regimes in Russland bestätigt. In der ideologischen Ausgestaltung der Wahlen war eindeutig ein konservatives Motiv zu erkennen: Das Verfahren glich einem Plebiszit, bei dem eine Bekräftigung der Treue zum nationalen Führer identisch erschien mit der Treue zum Lande selbst, zu seiner Geschichte, seiner Souveränität und seinen politischen Traditionen. Der Wahlkampf war ein vollwertiges Theaterschauspiel, bei dem die Rollen sorgsam von den Technokraten der Kremladministration verteilt werden: Über die armseligen Figuren der oppositionellen Kandidaten, an denen die Willkürlichkeit und Verantwortungslosigkeit dieser politischen Spiele deutlich wird, erhob sich die prinzipiell entpolitisierte Gestalt Wladimir Putins, der die »ewige Gegenwart« verkörpert, die Zeit, die fließt und jedwede unvorhersagbaren Veränderungen ausschließt. In diesem Bild von der Gegenwart wählen die derzeit Lebenden ihre Zukunft nicht selbständig, sondern bekräftigen lediglich ihre Beteiligung an einem insgeheimen Pakt zwischen den Generationen. Daher vollzieht sich die eigentliche Wahl der Bewohner Russlands – jenseits sekundärer politischer Formen – Kraft der Gebräuche und historisch gewachsenen Lebenspraktiken.
Diese konservative, antipolitische und antidemokratische Art und Weise, auf die das Putin-Regime legitimiert wird, verbindet sich durchaus organisch mit jener marktwirtschaftlicher Logik, von der die Gesellschaft in Russland durchzogen ist: Der Verzicht auf politische Wahl und Entscheidung wird nicht nur durch Treue zu den Traditionen begründet, sondern wird auch von einem totalen Misstrauen gegenüber allen Formen des gesellschaftlichen Lebens begleitet. Kehrseite des herrschenden Konservatismus ist das individuelle »Sich-um-sich-selbst-kümmern«, der Vorrang des persönlichen Interesses vor dem allgemeinen. Die Nachhaltigkeit der Verbindung aus konservativer Rhetorik der Regierung und marktwirtschaftlicher Atomisierung der Gesellschaft ist besonders in der vorherigen Amtszeit von Wladimir Putin (seit 2012) deutlich geworden. In dieser Zeit wurde der zunehmende staatliche Nationalismus – vor allem seit 2014, vor dem Hintergrund der Annexion der Krim und der Konfrontation mit dem Westen – von einem konsequenten Kurs in Richtung Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung und der Bildung sowie einer Reduzierung der Sozialverpflichtungen begleitet. Die sogenannte Krim-Mehrheit, die schweigende Einheit patriotischer Bürger (die sich um die Unterstützung des außenpolitischen Kurses des Kreml schart) verbindet in ihren Reihen den Stolz auf die Wiederherstellung eines »historischen Russland« und ein beständig wachsendes Misstrauen gegenüber konkreten staatlichen Institutionen. Die Wahrnehmung dieser Institutionen (der Polizei, der Gerichte oder der Mittelschule) als ineffiziente und korrumpierte Strukturen ist längst allgemeine Ansicht geworden. Das findet seinen Ausdruck allerdings nicht in zunehmenden Protesten, sondern in einer »Entpolitisierung« sozialer Fragen. Es wird davon ausgegangen, dass der Einzelne die Verantwortung für die Sicherheit, die Gesundheit und den Wohlstand seiner Familie selbst übernehmen und dabei nicht auf den Staat zählen soll. Darüber hinaus schafft die vorherrschende Logik des Privatinteresses die Möglichkeit, jeden einzelnen korrupten Beamten zu »verstehen«: Dieser will ja nur, wie jeder andere auch, für eine bessere Zukunft für seine Angehörigen sorgen. Eine solche »Entpolitisierung« sozialer Fragen entspricht vollkommen dem Geist neoliberaler Reformen im Sozialbereich, wo der Staat der Bevölkerung lediglich auf beiderseitig nutzbringender Grundlage »Dienstleistungen« zur Verfügung stellt.
Konservatismus und Neoliberalismus: Gefährliche Verbindungen
Ungeachtet des von der Regierung deklarierten »Sonderweges« Russlands lässt sich die bestehende ideologische Komposition des Regimes durchaus mit der neokonservativen Wende im Westen vergleichen, die erstmals in Bezug auf die Politik von Thatcher und Reagan vor dreißig Jahren analysiert wurde. Es war in jener Zeit, angesichts einer Wirtschaftskrise, dass der Angriff der Rechten auf den Sozialstaat in Form eines »autoritären Populismus« einsetzte, der ideologische Komponenten enthielt, die zuvor unvereinbar gewesen waren, nämlich die Berufung auf konservative Werte und die Apologie des uneingeschränkten marktwirtschaftlichen Interesses. Thatchers berühmte Maxime »Es gibt keine Gesellschaft« geriet in unmittelbaren Widerspruch zu den Grundlagen konservativer Weltanschauung, für die die Gesellschaft die vorrangige, bestimmende Kategorie ist. Der Thatcherismus bedeutete einen Bruch nicht nur mit dem bisherigen sozialdemokratischen Konsens, sondern auch mit der konservativen politischen Tradition.
Seit den Zeiten Benjamin Disraelis hat der britische Konservatismus dem Liberalismus die historisch gewachsene Einheit der Nation gegenübergestellt, die durch die gemeinsame Ordnung und durch gegenseitige Verpflichtungen geknüpft wird. Für die Konservativen war der Staat nicht ein »Nachtwächter«, dessen Funktionen sich lediglich auf den Schutz des Eigentums und auf Garantien gegen eine Einmischung in das Privatleben beschränken, sondern eine organische Fortsetzung der Gesellschaft, deren »Form«. Die Beziehungen zwischen Staatsmacht und Bürger stellten hier keinen rationalen Kontrakt dar, sondern gründeten auf Ansehen und ähnelten metaphysisch der Rolle des Vaters gegenüber den Mitgliedern der Familie. Gleichzeitig ist den Konservativen die sozialdemokratische Idee des »gesellschaftlichen Interesses« stets fremd gewesen, weil für dessen Verwirklichung aktive Interventionen in die Wirtschaft notwendig sind.
Gesellschaft ist für Konservative nie ein normativer Begriff gewesen, sondern stellte stets eine besondere Resultante der Geschichte eines jeden Landes dar. Der Umstand, dass man sich auf die real gewachsenen Beziehungen innerhalb einer konkreten nationalen Gesellschaft stützte, ist auch der Grund für die Skepsis der Konservativen gegenüber allen Reformen, die den universellen Prinzipien von Freiheit oder Gerechtigkeit zum Triumph verhelfen sollen. Aus dieser skeptischen Haltung des Konservatismus ergab sich auch organisch eine positivistische Haltung zum Recht, der zufolge jedes Gesetz nicht rationale Prinzipien wiederspiegelt, sondern Ergebnis eines stillen Abkommens der Generationen ist. In diesem Sinne besteht zwischen der konservativen Begründung des britischen Konstutionalismus und der Begründung der russischen Selbstherrschaft keinerlei Widerspruch: Das eine wie das andere entsprechen in vollem Maße der historischen Erfahrung dieser Länder (»Die Verfassung Russlands, das ist seine Geschichte«, wie es seinerzeit der russische Konservative Fjodor Tjutschew erschöpfend formuliert hat).
Dieses Antinormative des Konservatismus, seine skeptische Haltung gegenüber universalistischen Theorien (wie etwa dem Liberalismus oder dem Sozialismus), hatte ihn stets mit einer außergewöhnlichen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche nationale Kontexte ausgestattet. Der Konservatismus hat überall einen anderen Inhalt (weil er ja in jeder einzelnen Nation durch eine unwiederholbare Verbindung von Lebensformen bestimmt wird), wobei allerdings Gemeinsamkeiten durch die innere Logik des politischen Stils bestehen. Freiheit bedeutet für Konservative nichts anderes als das eigentliche Recht auf Unterschiedlichkeit, die Möglichkeit einer Nation, sich selbst und ihrer Geschichte treu zu bleiben. Dadurch fällt Freiheit völlig mit dem Begriff Souveränität zusammen, und alle Versuche, letztere aufgrund universeller Werte (etwa der Menschenrechte) einzuschränken, stellen eigentlich eine Beschränkung von Freiheit dar. Für den Konservatismus gehört die echte Freiheit dem sozialen Körper, während hingegen das Individuum in der Freiheit der Selbstbestimmung eingeschränkt ist. Das Individuum ist nicht frei, seine nationale Zugehörigkeit, sein Gender oder seine Klasse auszuwählen. Alles ist schon durch die Gesellschaft festgelegt, zu der es per Geburt gehört.
Es ist unschwer zu erkennen, dass die Grundelemente des gegenwärtigen staatlichen Diskurses in Russland exakt diesen konservativen Einstellungen entsprechen: Kampf für Souveränität (echte Freiheit) gegenüber normativen Beschränkungen, die der Westen aufzwängt und Hoheit der historischen Gewohnheiten über die Buchstaben des Gesetzes (Putin ist als »nationaler Führer« wichtiger als die Institution präsidentieller Macht, wie sie in der Verfassung festgeschrieben ist). Aus konsequent konservativen Positionen heraus attackiert der russische Staat alle Versuche revolutionärer Veränderung und zieht dabei direkte historische Parallelen zwischen den Ereignissen von 1917 und den jüngsten »orangen Revolutionen« im postsowjetischen Raum. Diese konservative Kritik unterstreicht zudem beharrlich, dass der doktrinäre Fanatismus der Revolutionäre, die Experimente an historisch gewachsenen Gesellschaften veranstalteten, in der Regel von außenpolitischen Konkurrenten zynisch zur Unterminierung der nationalen Souveränität genutzt werden. Die Bewahrung der echten Freiheit vor den Versuchungen einer falschen Freiheit wird nicht nur über den Kampf gegen revolutionäre Bedrohungen gewährleistet, sondern auch durch ständige Maßnahmen zur moralischen Disziplinierung (Einschränkung des Rechts auf Abtreibung, Kriminalisierung von Homosexualität usw.). Die Rhetorik des »Schutzes der Familienwerte«, die diese Maßnahmen begleitet, verweist direkt auf die konservative Metapher vom Staat und der Gesellschaft als große Familie, in der alle Mitglieder durch gegenseitige Verpflichtungen miteinander verbunden sind. Man könnte sagen, dass der moralische Diskurs in dieser Hinsicht ein universelles Merkmal neokonservativer Politik darstellt – im Amerika des Präsidenten Bush, wie in Putins Russland. Angesichts der sich verschärfenden tatsächlichen sozialen Spaltung wird so die Illusion einer Geschlossenheit geschaffen, einer »moralischen Mehrheit«, die angesichts äußerer Bedrohungen und des Egoismus der Minderheiten, die einen Schutz ihrer Bürgerrechte fordern, zusammensteht.
Der neoliberale Kurs, der in Russland seit Beginn der 2000er Jahre konsequent verfolgt wird, wurde als reine Rationalität präsentiert, frei von Ideologie und Politik. Die Reduzierung sozialer Garantien, die Einführung der »flachen« Einkommenssteuer, die liberale Reform der Arbeitsgesetzgebung oder die Kommerzialisierung des öffentlichen Sektors wurden von Argumenten einer technokratischen Regierung begleitet, die ausschließlich an den gesunden Menschenverstand appellierten und sich auf die »Erfahrung der entwickelten Länder« beriefen. Der Präsident als Figur, die die Geschlossenheit der Gesellschaft und die historische Sukzession ihrer Formen symbolisiert, distanzierte sich kontinuierlich von einer öffentlichen Verteidigung des neoliberalen Kurses und überließ dies der entpolitisierten Regierung. Man könnte sagen, dass eine solche Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Präsidenten und der Regierung jener konservativ-liberalen Symbiose entspricht, wie sie auch insgesamt durch das Regime in Russland repräsentiert wird. Bedeutsam ist, dass diese Symbiose frei von sichtbaren Widersprüchen besteht, indem sie neoliberale Rationalität und konservativen politischen Stil zu einem ideologischen Ganzen fügt. Wendy Brown vergleicht diese Einheit (in ihrer amerikanischen Version) mit den von Freud beschriebenen Traummechanismen, bei denen sich das in der Realität Unvereinbare dank der unbewussten Tätigkeit der Vorstellungskraft glücklich zusammenfügt. In dieser Interpretation ist der Neokonservatismus nicht nur ein rhetorischer Deckmantel für reale neoliberale Politik, sondern schafft vielmehr eine allgemeine ideologische Struktur. Prinzipiell wichtig ist auch, dass die inneren Widersprüche dieser Struktur nicht überwunden sind, sondern im »versöhnten« Zustand erhalten bleiben, dessen Besonderheiten auf konkrete historische Umstände zurückzuführen sind.
Konjunktureller oder Wertekonservatismus?
Eines der populärsten Motive der gegenwärtigen Stabilität in Russland ist das »Entstehen einer modernen Ordnung aus dem Chaos der 1990er Jahre«. Diesem Narrativ zufolge hat das Abweichen von der historischen Erfahrung zugunsten liberaler universalistischer Doktrinen unter Gorbatschow und Jelzin zu einer sozialen Katastrophe geführt, zu moralischem Verfall und zur realen Gefahr eines Verlustes der nationalen Souveränität. Die Erosion der staatlichen Macht wurde von den Oligarchen genutzt, die das Land in einen Raum durch nichts gebremsten Wettbewerbs um Macht und Ressourcen verwandelt haben. Das Erscheinen Putins hat diese gefährlichen Entwicklungen unterbrochen, indem die Unternehmer gründlich von der Macht ferngehalten wurden, eine Hierarchie privater und staatlicher Interessen errichtet und dem Land seine Würde wiedergegeben wurde. Die Putinsche Wiedergeburt geriet jedoch nicht zu einer schlichten Negierung der revolutionären Veränderungen der 1990er Jahre, sondern zur Synthese mit dem Gesamtbestand der bisherigen nationalen Geschichte. Sie summierte gleichsam »das Beste« aus den Zeiten des Russischen Reiches, der Sowjetunion und dem Russland unter Jelzin: Außenpolitische Macht und Größe sowie christliche Moral vereinigten sich mit einer festen Institution des Eigentums sowie mit Garantien, dass es keine Intervention in das Privatleben der Bürger geben werde. Man könnte sagen, dass diese Genealogie die politische Enteignung der beiden widerstreitenden Lager der Jelzinzeit beförderte, nämlich der prowestlichen Liberalen und der »patriotischen Opposition« (zu der die Stalinisten aus der Kommunistischen Partei wie auch reichstreue Nationalisten gehörten). Einerseits setzte der neue offizielle Konservatismus die Forderungen nach einer vom Westen unabhängigen Außenpolitik und nach einer Rehabilitierung der sowjetischen Vergangenheit als legitimen Teil der nationalen Geschichte um. Andererseits stärkte er die marktwirtschaftlichen Institutionen, die in den 1990er Jahren geschaffen wurden. In Bezug auf die letzteren trat dieser Konservatismus gleichsam als »Bonaparte« auf, indem er die sozialen Errungenschaften der Revolution durch eine Revision ihrer politischen Werte bewahrte. Seit Anfang der 2000er Jahre verzichtet ein beträchtlicher Teil der liberalen Eliten darauf, selbstständige politische Subjekte zu sein, und tritt bei der Umsetzung neoliberaler Reformen als Experten in Erscheinung oder integrierte sich unmittelbar in die staatliche Bürokratie. Das ist Strategie, die dem »liberalen Konservatismus« zugrunde lag, der eine Abkehr von den Prinzipien der liberalen Demokratie als notwendiges Opfer betrachtete, damit die marktwirtschaftliche Transformation des Landes unumkehrbar sei. Eine zentrale Rolle spielte in diesem Falle das antirevolutionäre Element des Konservatismus, während die Rhetorik von historischer Größe und Moral eher als instrumentell und sekundär wahrgenommen wurde. Zur gleichen Zeit äußerten die ehemaligen Vertreter der »patriotischen Opposition« ständig die Hoffnung, dass Putin sich früher oder später von den Verpflichtungen gegenüber den aus der Jelzin-Ära hinterbliebenen liberalen Eliten frei macht und Kurs auf eine konsequente Umsetzung eines nationalistischen konservativen Programms nimmt.
Wenn sich dieser russische »liberale Konservatismus« als »situativ« bezeichnen lässt (um der bekannten Klassifizierung Samuel Huntingtons zu folgen), so ist ein zweiter Strang ein Wertekonservatismus. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Komponenten des offiziellen Konservatismus ist über die ganze Zeit des Putin-Regimes dynamisch gewesen. Wenn in den Zeiten wirtschaftlichen Wachstums und der erfolglosen Versuche, Russland in das System westlicher Hegemonie der 2000er Jahre zu integrieren, ein »situativer« Konservatismus dominierte, so ist der Beginn der dritten Amtszeit Putins 2012 und besonders der Anfang der Konfrontation mit dem Westen nach der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 deutlich von einer rhetorischen Wende hin zu einem Wertekonservatismus gekennzeichnet. Was jedoch von Vertretern beider ideologischer Lager als konjunkturelle Schwankungen verbucht wurde, waren in Wirklichkeit Elemente einer geschlossenen ideologischen Struktur.
Bis 2012 war das Regime in Russland in eine politische Krise geraten, die von den Massenprotesten gegen die gefälschten Parlamentswahlen ausgelöst worden war. Die Antwort auf diese Krise bestand in einem heftigen rhetorischen Schwenk hin zu einem Wertekonservatismus: Der demokratische Protest wurde als ein von äußeren Kräften initiierter Aufruhr der hedonistischen Spitze der Mittelschicht gegen den [ethnisch] russischen »kulturellen Code« dargestellt, dessen Träger wiederum die patriotische schweigende Mehrheit sei. Deren politischer Ausdruck sei die Figur des nationalen Führers. Die Annexion der Krim bedeutete einen Höhepunkt des rhetorischen Wertekonservatismus: Die unbedingte Unterstützung für den außenpolitischen Kurs des Regimes wurde ultimativ einer patriotischen Bekräftigung der Zugehörigkeit zum Land und dem von ihm eingeschlagenen historischen Weg gleichgesetzt. Die Kulturkriege zwischen der schweigenden Mehrheit und der egoistischen Minderheit wurden praktisch zu einer der Frontlinien der militärischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen erklärt. Diese Haltung kam beispielsweise äußerst deutlich in der berühmten Rede Wladimir Putins vom 18. März 2014 zum Vorschein, in der Kritiker der Krim-Annexion als »Nationalverräter« bezeichnet wurden.
Die konservative politische Wende fiel mit dem Beginn einer wirtschaftlichen Stagnation zusammen, die auf die Entwicklungsgrenzen des gesamten Sozialmodells des postsowjetischen Kapitalismus zurückzuführen ist. Die Antwort auf die strukturbedingte Wirtschaftskrise, die durch die gefallenen Ölpreise und die westlichen Sanktionen noch verschärft wurde, bestand darin, dass die Regierung Kurs auf eine drastische Kürzung der Sozialausgaben nahm. Die Grundzüge des wirtschaftspolitischen Kurses der Regierung deckten sich vielfach mit »strengen Sparmaßnahmen«, wie sie im Rahmen der Europäischen Union praktiziert wurden, und waren dabei eine weitaus härtere Variante derselben. Die konservative Rhetorik, die praktisch alle sozialen Proteste als antipatriotische Akte kriminalisierte, die den äußeren Feinden in die Hände spielen würden, legitimierte diese russische Variante »strenger Sparmaßnahmen«.
Die Entwicklungsphase des russischen Regimes, die 2012–2014 eingeläutet wurde, ist durch eine gleichzeitige Radikalisierung beider Komponenten der ideologischen Symbiose gekennzeichnet, der neoliberalen und der konservativen. Dabei nimmt diese widersprüchliche Einheit eine immer stärker ganzheitliche Gestalt an, in der die Sprache des Wertekonservatismus zu einem organischen Ausdruck des neoliberalen Inhalts wird. So wird die bedingungslose Souveränität Russlands und die dadurch bedingte moralische und politische Geschlossenheit der Gesellschaft als unabdingbare Voraussetzung für die Konfrontation im internationalen Wettbewerb und im Kampf um die Ressourcen dargestellt. Dieser Kampf erscheint als organische Fortsetzung der Gesetze des Wettbewerbs unter Individuen. Die konservative Skepsis gegenüber Doktrinen, die die Souveränität im Namen universeller Werte beschränken würde, wandelt sich zum Verdacht, dass alle Werte, die über den Rahmen privater Interessen hinausgehen, Heuchelei sind. Auf paradoxe Weise füllt diese Logik des Wettbewerbs die konservativen Formeln, die auf die Priorität des Allgemeinen vor dem Persönlichen abheben, mit Inhalt. Als typisches Beispiel dieser Performanz des konservativen Diskurses kann die jüngst erfolgte Äußerung Wladimir Putins dienen, der zufolge beim [ethnisch] russischen »Volk gleichwohl ein Element des Kollektivismus sehr stark im Herzen, in der Seele präsent ist«, und diese Fähigkeit »im Kollektiv zu arbeiten« »wird heute zu einem der Wettbewerbsvorteile«.
Die oben geschilderte Radikalisierung sowohl des neoliberalen Kurses wie auch der ihn begleitenden Rhetorik ist zweifellos ein Beleg für die allgemeine, sich hinziehende Krise des Regimes. Die weitere Entwicklung wird unweigerlich zu Brüchen in der herrschenden ideologischen Hegemonie führen. Diese Einbrüche der Realität in die illusorische Geschlossenheit des Traums (um zur Metapher von Wendy Brown zurückzukehren) werden wohl aufgrund der Notwendigkeit zu immer radikaleren neoliberalen Reformen erfolgen, die immer stärker antisozialer Natur sein werden. Jüngste Bestätigung dieses Prozesses ist der Entwurf für eine Rentenreform, der am 16. Juni von der Regierung vorgelegt wurde. Die Reform sieht eine drastische Erhöhung des Renteneintrittsalters vor (um fünf Jahre für Männer und um acht Jahre für Frauen), und hat bereits für eine negative Reaktion von Seiten der Gewerkschaften und der parlamentarischen Opposition gesorgt. Es ist bezeichnend, dass diese eindeutig neoliberale Maßnahme sich nicht im Wahlkampf Waldimir Putins für die Präsidentschaftswahlen im März widergespiegelt hatte. Die Argumente der Regierungsexperten und der staatlichen Medien zugunsten der Reform entsprechen auf das Genaueste dem neoliberalen Diskurs des »Sich-um-sich-selbst-Kümmerns« und der persönlichen Verantwortung für die Zukunft, die nicht auf den Staat übertragen werden sollte.
Schlussfolgerungen
Gegenwärtig ist eine Symbiose aus Neoliberalismus und Konservatismus zur vorherrschenden Sprache des politischen Regimes in Russland geworden. Allerdings bergen die Widersprüche zwischen den beiden Komponenten dieser Sprache eine ständige verdeckte Gefahr für dessen Ganzheitlichkeit. Bezeichnend ist, dass der Einsatz einer konservativen Rhetorik von oben nicht dazu geführt hat, dass konservative Grassroots-Bewegungen entstanden, die als zuverlässige Stütze dienen würden. Der Konservatismus in Russland, der an die verlorene Einheit der Gesellschaft appelliert, ist nicht in der Lage, eine breite soziale Koalition zu bilden, die organisch die Unterstützung für moralische Werte, für den außenpolitischen Kurs des Präsidenten und – beispielsweise – die Anhebung des Rentenalters und die Privatisierung der Medizin in sich vereinen würde (wie das seinerzeit den amerikanischen Neokonservativen gelang). Gleichwohl erweist sich die in Russland bestehende spezifische postsowjetische neoliberal-konservative Symbiose bisher in der Lage, recht erfolgreich eine ideologische Hegemonie der herrschenden Elite sicherzustellen.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder