Die russischen Regionalwahlen vom 9. September 2018: Rückkehr realen Wettbewerbs

Von Alexander Kynew (National Research University »Higher School of Economics«, Moskau)

Zusammenfassung
Die russischen Regional- und Kommunalwahlen vom 9. September 2018 waren paradox. Einerseits wurden sie von recht harten »elektoralen Säuberungen« begleitet, infolge derer viele ernstzunehmende Kandidaten und Parteilisten nicht zu den Wahlen zugelassen wurden – deren Anteil hat im Vergleich zu den Vorjahren sogar zugenommen. Andererseits war erstmals seit 2011 eine drastische Schwächung von »Einiges Russland« zu beobachten, während die Opposition ernstzunehmende Erfolge verzeichnete.

Einleitung

Der Anzahl großer regionaler Wahlgänge nach lassen sich die Regionalwahlen 2018 nur mit den russlandweiten Wahlen vom 18. September 2016 vergleichen, als in Russland neben den Wahlen zur Staatsduma und zu 39 Regionalparlamenten, 7 Direktwahlen von Gouverneuren und 11 Wahlen zu den Parlamenten regionaler Hauptstädte stattfanden.

Diesmal fanden Wahlen zu 16 Regionalparlamenten statt, 22 Direktwahlen von Gouverneuren, 12 Wahlen der Stadträte in regionalen Hauptstädten und 4 Direktwahlen von Bürgermeistern (solche Wahlen sind in den meisten Regionen abgeschafft). Darüber hinaus erfolgten in 7 vakanten Direktwahlkreisen Nachwahlen zur Staatsduma. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Wahlen in vielen großen Regionen stattfanden, die auf eine lange Geschichte von Wahlen mit echtem Wettbewerb und erheblichen Konflikten innerhalb der Eliten zurückblicken (beispielsweise die Gebiete Archangelsk und Irkutsk, das Swerdlowsker Gebiet, die Republik Burjatien oder die Region Krasnojarsk). In den meisten dieser Regionen hatten die letzten Parlamentswahlen und Kommunalwahlen 2013 stattgefunden. In der Folgezeit hatte es eine drastische Verschärfung der Wahlgesetze gegeben. 2018 waren lediglich 7 der 22 Gouverneurswahlen planmäßig, die übrigen 15 waren vorgezogen. Dort waren die amtierenden Gouverneure von Moskau aus ernannt worden und hatten sich als geschäftsführende Gouverneure zur Wahl zu stellen. Die meisten von ihnen gehören zur Riege der »jungen Technokraten«. Insgesamt waren in 19 Regionen die Gouverneure vorzeitig abgelöst worden (hinzuzurechnen sind 4 Regionen, in denen die Gouverneure am 9. September 2018 vom Regionalparlament gewählt wurden). Diese Art der personellen Erneuerung hatte also 73 % der Regionen betroffen, in denen nun Wahlen stattfanden, was eine Rekordrotation innerhalb der Gouverneursriege bedeutete. Zum Vergleich: 2013 hatte die Rotation zum Zeitpunkt der Wahlansetzung 50 % der Regionen betroffen, in denen Wahlen stattfanden; 2014 waren es 39 %, 33 % im Jahr 2015, 55 % im Jahr 2016 und 70 % im Jahr 2017.

Die Rentenreform als Protestmotor

Die wichtigste Besonderheit der Wahlkämpfe 2018 bestand in ihrer zeitlichen Kongruenz mit der Ankündigung einer Gesetzesänderung zur Anhebung des Renteneintrittsalters. Aufgrund der außerordentlichen sozialen Relevanz dieses Themas, das den größten Teil der Bevölkerung betrifft, geschah es zum ersten Mal seit vielen Jahren, dass ein landesweites Thema unmittelbar den Inhalt der regionalen Wahlkämpfe bestimmte.

Darüber hinaus waren Parteien und Kandidaten, die in Opposition zu »Einiges Russland« standen – die »Spoiler«, die sich auf einen »negativen Wahlkampf« gegen die Opposition spezialisieren, einmal ausgenommen – zum ersten Mal seit 2011 in ihrer Wählermobilisierung de facto durch ein gemeinsames Thema vereint, eben durch die Ablehnung der Rentenreform. Im Jahr 2011 war noch das Motto »Stimme gegen die Partei der Gauner und Diebe!« [also »Einiges Russland«; Anm. d. Red.] ein solches verbindendes Thema gewesen. Dieses Mem war seinerzeit im Wahlkampf fast aller Parteien zu finden gewesen, angefangen bei der LDPR bis hin zur außersystemischen Opposition. Das hatte in Fällen, dass ein Kandidat oder eine Liste nicht zu den Wahlen zugelassen wurde, zu einem Strom von oppositionell gestimmten Wechselwählern zwischen den verschiedenen oppositionellen Listen und Kandidaten geführt.

Die Rentenreform stellte sich gerade für diejenige soziale und Altersgruppe als drängendstes Thema heraus, die eine der Grundlagen des Regimes bildet. Es geht um 18 Millionen potenzielle Wähler über 50 (Frauen von 50–55 Jahren und Männer zwischen 50 und 60) und 9 Millionen im Alter zwischen 45 und 50, also um Menschen, die in nächster Zukunft hätten in Rente gehen sollen. Die Reform war somit für rund 27 Millionen Menschen eine höchst unangenehme Überraschung – für die aktivste und leicht zu mobilisierende Wählerschaft.

Spezifika der Wahlen 2012 bis 2018

Seit 2012 ist die Intensität der Wahlkämpfe in Russland recht gering gewesen. Die Wahlen zeugten eher von einer inhaltlichen Verkümmerung und dem Bestreben der Opposition, vielen unangenehmen Themen auszuweichen.

Für den Rückgang der Wahlkampfaktivität der Parteien 2012–2018 gibt es folgende Gründe:

Der Wahltermin. Die qualitativen Änderungen bei der Organisation und Durchführung der Wahlkämpfe sind seit 2013 zu beobachten, jenem Jahr, als der Einheitliche Wahltag vom Oktober auf den zweiten Sonntag im September verlegt wurde. Dadurch fiel die Hauptphase des Wahlkampfes in eine Zeit, in der sehr viele Menschen im Urlaub sind. Unter diesen Umständen werden die Parteien angeregt, ihren Wahlkampf früher zu beginnen (im April/Mai), um sich rechtzeitig im öffentlichen Bewusstsein festzusetzen und/oder sich vor den Sommerferien bei den Wählern in Erinnerung zu rufen. Das verlängert und verteuert somit den Wahlkampf und macht für Vertreter der Opposition eine intensive Wahlwerbung unmöglich.

Systemimmanente Barrieren gegen die Teilnahme ressourcenstarker Kandidaten. Die 2012 erfolgten konzeptionellen Änderungen der Parteigesetzgebung, durch die eine größere Anzahl Parteien registriert wurde (die sich gegenseitig behindern), ging mit einer zunehmenden Zahl von Beschränkungen der Rechte konkreter Bürger einher, die sich zur Wahl stellen wollen. So verloren nach den Gesetzesänderungen von 2012 und den aufgrund einer Gerichtsentscheidung 2014 erfolgten Korrekturen Personen, die wegen schwerer Straftaten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, für 10 Jahre nach Erlöschen oder Aufhebung des Status eines Vorbestraften das Recht zu kandidieren; bei Personen, die wegen einer besonders schweren Straftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, beträgt diese Frist 15 Jahre. Darüber hinaus wurden im Mai 2013 de facto vermögensbezogene Beschränkungen für die Beteiligung an Wahlen auf föderaler, regionaler und kommunaler Ebene eingeführt. Den neuen Bestimmungen zufolge sind die Kandidaten verpflichtet, zum Zeitpunkt ihrer Registrierung ihre Konten bei ausländischen Banken außerhalb des Territioriums der Russischen Föderation zu schließen sowie die Aufbewahrung von Barmitteln und Wertgegenständen dort einzustellen. Dadurch haben de facto nahezu sämtliche Großunternehmer ihr passives Wahlrecht verloren, wenn sie sich nicht außerordentlich hohe Kosten aufbürden wollen.

Verstärkte Abhängigkeit der Parteien der »Systemopposition« vom Regime. Nach 2012 hat sich die Lage der »parlamentarischen« oder »alten Systemopposition« erheblich verändert. Das Regime hat sie mit Hilfe von Zuckerbrot und Peitsche »bearbeitet«: Sie unterstützt nun aktiv die offizielle Politik, wobei sie vielfach ihre frühere Identität als Opposition verliert. Die neue Allianz dieser Parteien mit der Regierung hatte sich bis Anfang 2014 formiert. Gemeinsam nahm man nun den Kampf gegen neue politische Projekte auf. Eine Reihe institutioneller Maßnahmen, durch die etwa den meisten neuen Parteien bei der Registrierung die Privilegien gestrichen wurden oder die Anzahl der für die Registrierung erforderlichen Unterstützerunterschriften drastisch angehoben wurde, war in erster Linie auf den Schutz der »alten« Parteien gerichtet. Seit den Wahlen von 2014 hat sich die Teilnahme von »Spoiler«-Listen an Wahlen verringert. Sie wurden nun selektiv in einzelnen Regionen eingesetzt, vor allem dort, wo es Konflikte zwischen der »alten Opposition« und der Regionalregierung gibt.

Die allzu starke Gewohnheit einer informellen Zusammenarbeit mit den Behörden hat unweigerlich dazu geführt, dass die Parteien der »Systemopposition« Probleme mit ihrer politischen Positionierung bekommen. In den letzten Jahren hat das zu einer Selbstbeschränkung geführt, sowohl bei der Personalpolitik und der Kandidatennominierung, als auch beim Wahlkampf. Dadurch wurden viele Themen schlichtweg aus dem Feld öffentlicher Kritik herausgehalten. Ein realer Diskurs zu Problemen, die die Gesellschaft interessieren, wird immer häufiger durch unpolitische Agitation und medienwirksame Skandale ersetzt. Die Reduzierung des Wettbewerbs hatte eigentlich den alten Systemparteien dabei helfen sollen, Proteststimmen der Anhänger nichtregistrierter Parteilisten und Kandidaten auf sich zu vereinigen. Die Wahlen von 2015 bis 2017 haben jedoch gezeigt, dass oppositionelle Wähler kaum zu diesen Parteien zurückkehren. Die Wähler versuchten immer häufiger, entweder neue Projekte zu finden – wie etwa 2017 bei den Kommunalwahlen in Moskau –, oder aber sie bleiben den Wahlurnen fern. Die Alternativlosigkeit, die dem oppositionellen Wähler aufgenötigt wird, funktioniert angesichts des veränderten Images der Parteien und der sinkenden Qualität der Parteilisten und der Wahlkampforganisation sehr viel weniger als noch vor 2011.

Die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Durch die anhaltende sozioökonomische Krise hat sich die Lage wegen des verstärkten Mangels an Wahlkampfressourcen zusätzlich verschlechtert. In früheren Zeiten hatten Entwicklungsfirmen, große Handelsunternehmen und einzelne Banken in die regionale und kommunale Politik investiert. Fast alle Vertreter dieser Strukturen, die am ehesten an konstruktiven Beziehungen zu Regional- und Kommunalverwaltungen interessiert sind, befinden sich jetzt in einer schwierigen Lage oder existieren überhaupt nicht mehr. Das hat die Intensität der Wahlkämpfe zusätzlich schwinden lassen, nicht nur in der Hauptphase des Wahlkampfes, sondern auch in dessen Vorfeld. Oft führte es dazu, dass sich die Wahl allein auf die reale Auseinandersetzung bei den »prajmeris« (den innerparteilichen Kandidatenausscheidungen) der »Partei der Macht« und die anschließende administrative Ausgestaltung der erfolgten Absprachen bei den Hauptwahlen reduziert.

Zielgerichtete Kampagnen zur Verringerung der Wahlbeteiligung. Nach den Protesten von 2011/12 hatten die meisten Regionalregierungen auf überzogenen administrativen Druck auf die Wählerschaft verzichtet. Das grundlegende Erfolgsrezept der Regierungskandidaten bestand nun in der Mobilisierung konformistischer und administrativ abhängiger Wählergruppen, die jeden Kandidaten des Regimes unterstützen würden. Hierin bestand eben einer der Gründe für die Verlegung des Wahltermins in den September. Unabhängige Wähler wiederum gehen häufig nicht zur Wahl, weil es niemanden gibt, dem sie ihre Stimme geben wollten. Diese Situation ändert sich erst dann, wenn markante Opponenten in Erscheinung treten, die mit ihren Kampagnen Wähler mobilisieren. Oft werden spezielle Kampagnen gestartet, um die Wahlbeteiligung bei unabhängigen und oppositionell gestimmten Wahlberechtigten zu drücken. Ein ganz ähnliches Ziel verfolgen die intensiven Kampagnen negativer Agitation und »schwarzer PR«, die den Bürgern bei Wahlen deutlich machen sollen, dass es keine positiven Helden gibt.

Nichtzulassung zu den Wahlen von Parteien und Kandidaten, die einen echten Kampf liefern könnten. Jene Parteien und Kandidaten, die zu einem echten Kampf bereit wären, wurden häufig vom Wahlprozess ausgeschlossen – entweder aufgrund eines Deals oder aber, indem sie nicht zugelassen wurden.

Für die »Partei der Macht« und deren Kandidaten ergab und ergibt sich bewusst die Strategie, auf eine niedrige Wahlbeteiligung zu setzen, um das formal benötigte Resultat zu erreichen. Im Falle der anderen Parteien und Kandidaten entspringt die de facto-Arbeit für eine niedrige Wahlbeteiligung eher schlecht organisierten Wahlkämpfen, bei denen es an einer Strategie und an Themen zur Wählermobilisierung mangelt, oder als Folge fehlender Motivation und Ressourcen. In erster Linie haben wir es hier mit einer Selbstbeschränkung aufgrund informeller Beziehungen zu den Regionalregierungen zu tun, wenn nämlich Parteien und/oder Kandidaten wegen gewisser Absprachen und Versprechungen freiwillig kritische Themen meiden oder keine persönliche Kritik an konkreten Führungsfiguren üben.

Besonderheiten des Wahlkampfes 2018

Auch in diesem Jahr sind die Wahlkämpfe wenig intensiv gewesen – bis das Rententhema auf die Tagesordnung rückte. Ungefähr seit Anfang Juli begann sich die Situation dann tatsächlich zu ändern, als nämlich die unterschiedlichsten Parteien – darunter auch die der »parlamentarischen Opposition« – allmählich aktiver wurden. Allerdings waren die eigentlichen Wahlkämpfe und der Kampf gegen die Rentenreform zunächst nicht überall synchron. Öffentliche Stellungnahmen von Politikern und Kandidaten nahmen erst gegen Ende Juli die Form von Wahlkampfslogans an.

So hielt beispielsweise »Gerechtes Russland« bereits am 30. Juni in Wladimir, im Zentralen Stadtpark, den das Bürgermeisteramt für Veranstaltungen ohne vorherige Genehmigung zugewiesen hatte (und der somit zu einem »Hyde Park« wurde), eine Versammlung mit rund 100 Teilnehmern ab. Zur gleichen Zeit organisierte die KPRF 15 Einpersonendemonstrationen an großen Straßen der Stadt. Am 1. Juli gab es in Wladimir eine Aktion von Anhängern Alexej Nawalnyjs bei der etwa 150 Teilnehmer mit Plakaten durch das Stadtzentrum zogen. Einen Monat später kamen zu einer Versammlung, zu der die KPRF aufgerufen hatte, bereits rund 1000 Menschen.

Zu diesem Zeitpunkt erschienen bereits die ersten Wahlkampfmaterialien, in denen der Protest gegen die Rentenreform einen zentralen Platz einnahm, und zwar von allen Parteien mit Ausnahme von »Einiges Russland«.

Im Zuge der immer offensichtlicher werdenden massenhaften Unzufriedenheit mit der vorgelegten Reform wurde auch die Strategie der Regierung immer deutlicher: Sie versuchte, unabhängige Wähler möglichst von der Urne fernzuhalten (»Destillierung der Wahlbeteiligung«), da bei diesen ja die Gefahr von Protestwahlverhalten am größten ist. Die Hauptaufgabe für die oppositionellen Kräfte hingegen bestand nun darin, die bis zum Wahltag verbliebene Zeit dazu zu nutzen, die zunehmende Proteststimmung der Wähler in Wahlbeteiligung umzumünzen, da nur letztere einen Weg darstellt, die zugunsten von »Einiges Russland« eingespielte administrative Wahlmaschine zum Stocken zu bringen und das Monopol der Partei bei Regional- und Kommunalparlamenten zu brechen.

Bei den Gouverneurswahlen war die Situation eine andere: hier fehlten fast überall echte Konkurrenten und die Regierung war an einer maximalen Steigerung der Wahlbeteiligung durch apolitische Wähler interessiert, um so ihre symbolische elektorale Legitimität zu erhöhen. Zu diesem Zweck wurden verschiedene »anregende« Veranstaltungen abgehalten, bis hin zu Lotterien, zum Ausspielen von Preisen und massiver Sozialwerbung.

Insgesamt wies die Intensität der Wahlkämpfe zweifellos eine ausgeprägte regionale Differenzierung auf. Die größte Aufmerksamkeit galt den Wahlen in Regionen, in denen ernstliche Widersprüche innerhalb der Eliten bestehen, und dort, wo aufsehenerregende Skandale eine Aufmerksamkeit für die Wahlen erzeugten (Jekaterinburg, Gebiet Irkutsk). Die Skandale, sogar jene, bei denen es um die Nichtzulassung potentieller Opponenten zu den Wahlen ging, haben dafür gesorgt, dass die Bürger in höherem Maße über Wahlen informiert waren.

Massive Flurbereinigung vor den Wahlen

Die Regierung war von Anfang an bestrebt, die Zusammensetzung der Kandidatenriege aufs strengste zu kontrollieren, und die »Systemopposition« ging gern auf informelle Absprachen mit der Regierung ein. Bei den Gouverneurswahlen 2018 waren die wichtigsten Konkurrenten meist schon in der Vorbereitungsphase aus dem Rennen geschieden: Entweder verzichteten sie selbst auf eine Teilnahme, oder sie wurden von keiner Partei nominiert. Ein Teil der potenziellen Kandidaten war praktisch längst vor Beginn der Wahlen ausgeschlossen.

Die wenigen realen, ernstzunehmenden Anwärter, die nominiert wurden, mussten bald aus dem Wahlprozess ausscheiden, weil sie es nicht schafften, den »kommunalen Filter« (die Sammlung von Unterschriften kommunaler Abgeordneter) zu überwinden. Bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau sind das Oberhaupt des Krasnoselskij-Stadtteils, Ilja Jaschin, und der ehemalige Abgeordnete der Staatsduma, Dmitrij Gudkow, am kommunalen Filter gescheitert. Der Prozess der Unterschriftensammlung bei kommunalen Abgeordneten wird bei Gouverneurswahlen sorgsam von den Regionalverwaltungen organisiert.

Als »Kompensation« hatte die Regierung der Systemopposition im Voraus einen Teil der Posten zugeteilt.

»Einiges Russland« hatte in drei Regionen keinen Kandidaten nominiert, nämlich in zwei Regionen, in denen als kommissarischer Gouverneur ein Vertreter der Systemopposition ernannt worden war (im Gebiet Omsk: Alexander Burkow von »Gerechtes Russland«; im Gebiet Orjol: Andrej Klytschkow von der KPRF) sowie in Moskau, wo Sergej Sobjanin es erneut (wie schon 2013) vorzog, formal als Unabhängiger zu kandidieren.

Im Gegenzug verzichtete die KPRF in vier Regionen auf eine Nominierung von Kandidaten (in den Regionen Altai und Krasnojarsk sowie den Gebieten Nowosibirsk und Omsk). Dabei hatte doch das Gebiet Omsk, gemessen an den KPRF-Ergebnissen bei den Dumawahlen 2016, an zweiter Stelle (25,2 %), das Gebiet Nowosibirsk an achter (19,6 %), die Region Altai an 19. Stelle (17,3 %) und die Region Krasnojarsk an 32. Stelle (14,4 %) gelegen. Selbst in der Region Krasnojarsk hatte das Ergebnis für die KPRF noch über dem Landesdurchschnitt gelegen während die Kommunisten in den drei übrigen Regionen in einer außergewöhnlich starken Position waren.

Die LDPR nominierte nur im Amurgebiet keinen Kandidaten, wo sie doch 2016 gerade dort ihr bestes Ergebnis erzielt hatte (29 %). In der Republik Sacha (Jakutien) hatte die Partei »Bürgerplattform« ihren bereits nominierten Kandidaten Ernst Bereskin zurückgezogen. Bereskin hatte 2014 bei der Wahl des Republikoberhauptes mit 29,5 % der Stimmen den zweiten Platz belegt. Das war eines der besten Ergebnisse eines oppositionellen Kandidaten gewesen.

Bei den Wahlen zu den 16 Regionalparlamenten waren 139 Parteilisten nominiert worden, am Wahltag waren nur noch 103 übriggeblieben. Die Aussiebungsrate bei den von der Wahlkommission zu bestätigenden Listen (also der Anteil derjenigen, die es nicht bis zum Wahltag schafften), betrug fast 26 %. Die Anzahl der nominierten Listen pro Region war zudem die niedrigste seit 2012. Gleiches gilt für die Zahl der registrierten Listen pro Region. Was die Aussiebung anbetrifft, so war die Rate hier höher als 2012–2014 und 2016–2017, aber geringer als die 39 % im Jahr 2015.

Bei den Wahlen zu den Parlamenten der regionalen Hauptstädte sind in 12 Städten insgesamt 99 Listen aufgestellt worden. Registriert wurden 78. Bis zum Wahltag waren es nur noch 75, womit die Aussieberate 24,24 % betrug.

Auffallend ist, wie eine ganze Reihe von Parteilisten und Kandidaten, die offensichtlich ernstzunehmende Erfolgsaussichten hatten, nicht zu den Wahlen zugelassen wurde. Das betraf vor allem die »Patrioten Russlands« in Krasnojarsk, die bei den Wahlen zum Stadtrat im Jahr 2013 nach dem Verhältniswahlrecht den zweiten Platz erreicht hatten. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Autonomen Bezirks der Nenzen traf es die Liste der »Partei der sozialen Reformen« mit dem ehemaligen Gouverneur Wladimir Butow an der Spitze. Im Gebiet Jaroslawl wurden die Listen der beiden demokratischen Parteien »Jabloko« und PARNAS aus dem Rennen genommen. In der Transbaikal-Region wurden bei den Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung die Listen zweier nicht im Parlament vertretenen, aber mit erheblichen Wahlkampfressourcen ausgestatteten Parteien nicht zugelassen, nämlich der »Partei der Tat« und der Partei »Rodina«. Gleiches geschah in dieser Region mit unabhängigen Kandidaten, die beste Erfolgsaussichten hatten.

Der Wahltag selbst und die Tage davor waren von vielzähligen Festnahmen von Vertretern des »außersystemischen Opposition« begleitet, da Alexej Nawalnyj für den 9. September zu Massenprotesten gegen die Rentenreform aufgerufen hatte. Nie zuvor ist in Russland ein Wahltag derart von massenweisen Verhaftungen Oppositioneller begleitet gewesen. Zudem erfolgten die Festnahmen in einigen Regionen mit demonstrativer Gewalt. Es ist anzunehmen, dass dies zu einer zusätzlichen Politisierung und Radikalisierung der Situation führte und für viele Wähler einen zusätzlichen Reizfaktor darstellte.

Die Ergebnisse – es siegen selbst schwache Oppositionelle

Diejenigen Vertreter der Opposition, die es bis zum Wahltag geschafft hatten, haben trotz der geringen Wahlbeteiligung in den meisten Regionen letztendlich mehr Stimmenanteile erhalten als bei den Wahlen auf föderaler Ebene 2016 und bei den letzten Wahlen in diesen Regionen im Jahr 2013. Das bedeutet, dass sogar ein Teil der traditionellerweise regimetreuen Wählerschaft dieses Mal gegen die Regierung gestimmt hat. Angesichts des Umstandes, dass viele ernstzunehmende Kandidaten der Opposition nicht zu den Wahlen zugelassen wurden, scheinen Wähler »aus Rache« sogar für »technische« und kaum bekannte Kandidaten gestimmt zu haben.

Das Ergebnis war, dass in vier Regionen Gouverneure oder geschäftsführende Gouverneure sich nicht durchsetzen konnten und ein zweiter Wahldurchgang notwendig wurde (in den Regionen Primorje und Chabarowsk, im Gebiet Wladimir und in Chakassien). Seit der Wiedereinführung einer Direktwahl der Gouverneure 2012 (mit dem »kommunalen Filter«) hat es von 2012 bis 2017 nur einen einzigen Fall gegeben, dass es zu einem zweiten Wahlgang kam, nämlich bei den Gouverneurswahlen 2015 im Gebiet Irkutsk. Darüber hinaus gewann diesmal die Oppositionelle Sardana Awksentjewa die Bürgermeisterwahlen in der Stadt Jakutsk.

Bei den regionalen Parlamentswahlen hat in drei Regionen (in Chakassien sowie den Gebieten Uljanowsk und Wladimir) erstmals seit 2007 eine andere Parteiliste als die von »Einiges Russland« den ersten Platz belegt: In allen drei Regionen siegte die KPRF. Die Stimmanteile der Opposition haben überall zugenommen, mit Ausnahme jener Regionen, in denen traditionell massiv gefälscht wird (Baschkortostan, Kalmykien, Tywa, Gebiet Kemerowo). In den Direktwahlkreisen hat die Anzahl der siegreichen Oppositionsvertreter stark zugenommen, ebenso bei den kommunalen Wahlen. Erheblich angestiegen sind auch die Stimmenzahlen für die bizarren »Spoiler« der KPRF, die von der Regierung zur Zügelung der Systemopposition aufgestellt wurden: In vielen Regionen holten die semivirtuellen Parteien »Kommunisten Russlands« und KPSS (»Kommunistische Partei der Sozialen Gerechtigkeit«) 5–6 % der Stimmen, was als Zunahme der Proteststimmen gewertet werden kann, nämlich eines Protestes nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die Systemopposition.

Es liegt auf der Hand, dass selbst innerhalb der Systemparteien ein Erstarken der eher oppositionell gestimmten Aktivistengruppen junger Führungskräfte eingesetzt hat. Das ist insbesondere daran zu erkennen, dass viele junge regierungskritisch gesonnene Vertreter der KPRF Abgeordnete geworden sind.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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