Die Völkerrechtsrhetorik
Den offiziellen Äußerungen des russischen Präsidenten, des Außenministers und dem Wortlaut der Nationalen Sicherheitsstrategie nach zu urteilen, spielt das Völkerrecht für Russland eine wichtige Rolle. Selbstverständlich kann Völkerrecht in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen haben. Was jedoch einen konkreten Aspekt angeht – nämlich das Verbot der Gewaltanwendung in der internationalen Politik – sagte Präsident Wladimir Putin am 18. Oktober 2018 bei der Akkreditierung ausländischer Botschafter in Moskau: »Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates verteidigt Russland die Grundsätze der UN-Charta: Souveränität und Gleichheit souveräner Staaten sowie die Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Wir sind kategorisch gegen politisch motivierte protektionistische Maßnahmen und das Diktat der Macht, die den Völkerrechtsnormen zuwiderlaufen«. Das ist nur ein Bespiel eines Diskurses über die Rolle Russlands als »Verteidiger« des Völkerrechts; in den letzten Jahren gab es viele weitere.
Aus Sicht solcher Staaten wie der Ukraine und Georgien könnte nichts weiter von der Realität entfernt sein. Im sogenannten Tagliavini-Bericht [Bericht der vom Europäischen Rat eingesetzten unabhängigen Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien – Anm. d. Red.] wurde festgestellt, dass Russland im Zuge des russisch-georgischen Krieges vom August 2008 mehrere Völkerrechtsverstöße in Reaktion auf oder in Erwartung der Schritte Georgiens begangen hatte. Darunter fallen die Aushändigung russischer Pässe an die Anwohner Abchasiens und Südossetiens sowie die russischen Militäraktionen, die weit über die Grenzen vernünftiger Selbstverteidigung hinausgingen. Russlands Vorwurf, das georgische Militär habe in Südossetien einen Völkermord geplant, war so unverhältnismäßig und propagandistisch, dass er Fragen hinsichtlich Russlands Einstellung zum »Verbrechen der Verbrechen« im internationalen Strafrecht aufwarf. Die Ukraine betreffend, unterstrich Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung, dass die (nicht anerkannte) Volksabstimmung auf der Halbinsel Krim und in der Stadt Sewastopol über keinerlei Validität verfüge und deshalb nicht als Grundlage für eine Statusveränderung dienen könne. Somit hat die Generalversammlung die Annexion der Krim als illegal verurteilt. Zudem werfen die Ukraine und westliche Staaten Russland täglich Verletzungen der fundamentalen Prinzipien des Völkerrechts im Donbass vor. Eine internationale Rechtsprechung steht – vor allem im Internationalen Gerichtshof (IGH) – noch aus.
Was bedeutet es dann, dass Russland, wie von Präsident Putin behauptet, gegen das »Diktat der Macht« im Völkerrecht vorgeht? Genießen Georgien und die Ukraine keinen völkerrechtlichen Schutz? Wie kann man die Widersprüche zwischen Russlands offizieller Völkerrechtsrhetorik auf der einen Seite und der weitverbreiteten Wahrnehmung Russlands als Völkerrechtsverletzer auf der anderen Seite erklären?
Das Völkerrecht ist seit Jahrhunderten für propagandistische Zwecke genutzt worden. Während des Großen Nordischen Kriegs (1700 – 1721), in dem Russland Schweden angegriffen hatte, verfassten beispielsweise beide Kriegsparteien Pamphlete, in denen der jeweils anderen Seite Vertragsverstöße und Verletzungen des damals geltenden Völkerrechts vorgeworfen wurden. Obwohl es damals das Russische Zarenreich war, das Schweden angegriffen hatte, versuchten beide Seiten, sich Völkerrechts- und Gerechtigkeitsargumenten zu bedienen. So behauptete Russland, die Geschichte des Konflikts würde viel weiter zurückreichen als bis ins Jahr 1700. Heutzutage ist es nicht viel anders. Es liegt also in der Natur der Sache, dass, wenn Präsident Putin und Außenminister Sergej Lawrow von der Bedeutung des Völkerrechts für Russland reden, sie auch Propaganda für ihr Land betreiben.
Es ist jedoch nicht allein Propaganda; auch andere Aspekte spielen im Falle Russlands eine Rolle. Ich möchte im Folgenden auf einige spezifische Punkte eingehen, wohlwissend, dass sie für die Erklärung des russischen Umgangs mit dem Völkerrecht nicht erschöpfend sind.
Russlands Völkerrechtsverständnis
Erstens: Das Völkerrechtsverständnis eines Landes spiegelt die generelle Wahrnehmung des »Rechts« durch seine Elite wider. Russlands Herrscher waren im Laufe der Geschichte nur begrenzt von den Formalitäten des öffentlichen Rechts eingeschränkt. Die Gerichte waren relativ schwach und stellten keine ernstzunehmenden Begrenzungen der Exekutive dar. Gleichzeitig soll das nicht heißen, dass die Macht der Herrscher unbeschränkt war. Diese Einschränkungen waren jedoch informeller Natur und bestanden eher in der Zufriedenstellung und Beschwichtigung unterschiedlicher Machtfraktionen innerhalb der politischen Eliten. Insgesamt war das »Recht« von den Herrschern vorgegeben und diente ihren Interessen. Man könnte annehmen, dass eine solche dem Souverän unterworfene Stellung des Rechts Spuren in Russlands Völkerrechtskonzeption und -praxis hinterlassen hat.
Russland bleibt, zweitens, auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der größte Territorialstaat der Welt. Es ist daher teilweise verständlich, dass es Völkerrechtsinterpretationen vorzieht, die es dem Land notfalls erlauben würden, das eigene Territorium zu schützen und auf wahrgenommene Bedrohungen seiner Souveränität zu reagieren. Aus diesem Grund zeigen Russlands außenpolitische Doktrinen – sowohl zu Sowjetzeiten als auch danach – eine Präferenz für eine solche Interpretation des Völkerrechts, die der eigenen Souveränität und territorialen Integrität Vorrang gewährt. Gleiches gilt jedoch nicht notwendigerweise für Russlands kleinere Nachbarstaaten. Die Priorisierung der staatlichen Souveränität geht teilweise zu Lasten von Konzepten wie Menschenrechten, Demokratie und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker – denn zu viele Freiheiten (individuelle wie kollektive) werden als Gefahr für die Zentralmacht und zum Teil auch für die territoriale Integrität des Landes ausgewiesen. In einigen russischen Völkerrechtslehrbüchern wird explizit behauptet, der Westen würde absichtlich die Bedeutung von Menschenrechten überspitzen – in Wahrheit sei im Völkerrecht das Menschenrechtsschutzprinzip der staatlichen Souveränität nicht gleichgesetzt. Diese Frage wurde beispielsweise im Jahr 1999 relevant, als der UN-Sicherheitsrat über die Zulässigkeit bestimmter Maßnahmen zum Erhalt der territorialen Integrität durch den damaligen jugoslawischen Präsident Slobodan Milošević im Kosovo entscheiden sollte. Russland war schon immer Gegner solcher Konzepte wie Schutzverantwortung, die Einschränkungen der Souveränität zugunsten des Menschenrechtsschutzes vorsehen.
Zudem erlebte Russland, drittens, den Höhepunkt seiner Macht im Jahre 1945 und in den darauffolgenden Dekaden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 veränderte zwar deutlich die Landkarte Osteuropas, des Kaukasus und Zentralasiens, Russlands Völkerrechtsverständnis blieb jedoch weitgehend im Jahr 1945 und dem damaligen geopolitischen Kontext verhaftet. Wenn Moskau von der Bedeutung des Völkerrechts spricht, ist damit der Schutz Stalins geopolitischer Errungenschaften gemeint. Die Tatsache, dass Georgien und die Ukraine damals Teil der Sowjetunion waren, hat für diese Staaten heutzutage gravierende Konsequenzen. Es scheint, dass in Russlands Wahrnehmung Völkerrecht nur für diejenigen Mächte gilt, die bereits 1945 mächtig waren. Dagegen müssen Staaten, die ihre Unabhängigkeit 1991 (wieder-)erlangten, stets bereit sein, mit Moskau über ihre Souveränität zu verhandeln. Aus Sicht dieser Staaten – Georgiens und der Ukraine, aber auch der Republik Moldau – seien sie gezwungen, in einer Situation zu leben, in der ihnen Russland nur begrenzte Souveränität zugesteht. Eine solche Wahrnehmung steht selbstverständlich in massivem Widerspruch zum in der UN-Charta verankerten Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten.
Zuletzt geht es, viertens, in den Debatten, die Russland mit dem Westen bezüglich der NATO-Osterweiterung, des Verständnisses von Demokratie oder Menschenrechten führt, nie allein um diese konkreten Fragen. Jahrhunderte lang hat Russland messianische Vorstellungen über sich selbst unterhalten – dass Moskau das »Dritte Rom« sei, der wahre Verteidiger des Christentums, auserwählt für besondere Größe und so weiter. Auch heute sind Auseinandersetzungen über Menschenrechte pseudo-religiös konnotiert – sie stellen schließlich eine Fortsetzung der mittelalterlichen Debatten darüber dar, wer wahrer Gläubiger und wer Häretiker ist. Von dieser speziellen kulturellen und sogar quasi-religiösen Warte aus beansprucht Russland Sonderrechte als Vertreter der orthodoxen Völker (wie die jüngsten Einmischungen Russlands in die Angelegenheiten Mazedoniens und Montenegros oder seine verhältnismäßige Popularität in Serbien zeigen), aber vor allem als Verteidiger der Interessen russischsprachiger Menschen. Die russische Militärdoktrin aus dem Jahr 2014 bringt z. B. explizit zum Ausdruck, dass Russland sich zum Schutz russischer Bürger im Ausland das Recht auf Gewaltanwendung vorbehält. Dieses Prinzip widerspricht der UN-Charta, denn der Schutz eigener Bürger im Ausland fällt nicht unter das Selbstverteidigungsrecht. Zudem will Russland den Begriff »Landsleute« (»sootetschestwenniki«) bewusst sehr vage verstanden wissen. Zumindest in einigen Fällen scheint der Begriff auch russischsprachige Personen zu umfassen, die nicht über die russische Staatsbürgerschaft verfügen.
Das Recht der Stärkeren?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in Bezug auf den Umgang mit Völkerrecht eine »Rückkehr der Geschichte« erleben. Der Sowjetkommunismus verschwand zwar im Jahr 1991, Russlands historische, psychologische, religiöse und territoriale Besonderheiten im Vergleich zu Westeuropa sind jedoch geblieben. Es ist faszinierend, wie Staaten zu ihren historischen Positionen zurückkehren. So war Russland bereits im 19. Jahrhundert eine konservative Macht in der europäischen Politik und im normativen Diskurs.
Gleichzeitig sollte Russlands Völkerrechtsverständnis nicht isoliert von dem der anderen Großmächte – der Vereinigten Staaten, Chinas und einflussreicher EU-Staaten – betrachtet werden. In vielerlei Hinsicht passt Russland gut zu den USA unter Donald Trump; besonders, wenn jener behauptet, nationale Interessen und staatliche Souveränität sollten Priorität genießen – nicht die sogenannte »Ideologie des Globalismus«. Man könnte sagen, dass im russischen Diskurs das Völkerrecht den Nationalinteressen untergeordnet wird. Es ist bezeichnend, dass trotz der Betonung des Völkerrechts in offiziellen russischen Dokumenten Russland der internationalen Gerichtsbarkeit historisch recht skeptisch gegenüberstand. Ein solches Völkerrechtsverständnis nützt Großmächten: Sie behalten die Definitionshoheit, sehen sich in ihrer Politik jedoch nicht durch völkerrechtliche Normen gebunden.
So gesehen leuchtet auch der aktuelle Stillstand in den Beziehungen zwischen Russland und dem Europarat ein. 2014 wurde der russischen Delegation das Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung (PACE) entzogen; daraufhin suspendierte Russland 2017 die Mitgliedszahlungen an den Europarat. Im Endeffekt waren es Souveränitätseinschränkungen, die für Russland im Europarat den größten Reizfaktor darstellten. Aber auch die Tatsache, dass andere über normative Fragen des Rechts und Unrechts entscheiden würden – nicht nur hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen, sondern auch historischer Probleme von Krieg und Frieden, Territorien und Grenzen. Sollte allerdings der Europarat den russischen Forderungen im PACE nachgeben, würde dies die Anerkennung eines besonderen Großmachtstatus in Menschenrechtsfragen bedeuten. Im orwellschen Sinne würde das bestätigen, dass »manche Tiere gleicher sind als andere«. Eindeutige Kompromisse mit dieser Macht, die fundamentale Menschenrechte verletzt, würde das Ende der Glaubwürdigkeit des Europarats als einer auf gemeinsamen Werten basierenden Organisation bedeuten.
Letztendlich steht momentan die Allgemeingültigkeit des Völkerrechts auf dem Spiel. Ist das Völkerrecht in seinem Kern überall gleich, oder ist es an unterschiedlichen Orten unterschiedlich? Die Stärkung von Russlands eigenwilliger und idiosynkratrischer Interpretation des Völkerrechts würde mehr Uneinigkeit über die bzw. weitere Herausforderungen des Universalitätsgedanken des Völkerrechts nach sich ziehen. Regionalismus würde zunehmen. Das »Dritte Rom« wird sich dem Rom und seinen Nachfolgern im Westen nie unterwerfen. Es wird sein eigenes Verständnis der allgemeinen und normativen Situation wahren. Das mag frustrierend sein, man sollte aber in dieser Realität zu leben lernen, denn die Welt war noch nie frei von Spannungen und Widersprüchen.
Das Glas könnte jedoch auch halbvoll sein. Trotz der beunruhigenden Heuchelei Russlands bezüglich der Anwendung völkerrechtlicher Normen in Ländern wie Georgien und der Ukraine ist Vladimir Putins verbale Hervorhebung des Völkerrechts statt des »Diktats der Macht« besser als die Alternative. Auch wenn die Drohung der Anwendung von Gewalt zum Schutz eigener Landsleute im Ausland dem Diktat der Macht ähnelt, dient sie den ehemaligen Sowjetstaaten auch als Mahnung, die Sicherheit ethnischer Russen und anderer Russischsprecher zu garantieren. Die Anerkennung des Völkerrechts und seine Betonung im politischen Diskurs schaffen ebenso gewisse Einschränkungen für Russland. Dies musste Russland nach der Annexion der Krim schmerzlich erfahren. Jahrelang gab Russland der territorialen Integrität und staatlicher Souveränität Vorrang vor dem Recht auf Selbstbestimmung, sodass seine Kehrtwende hinsichtlich der Krim im März 2014 unglaubwürdig erschien. Im Allgemeinen sehen wir, dass der Völkerrechtsdiskurs nicht unbedeutend ist. Warum sonst würde Präsident Putin diesem so viel Aufmerksamkeit widmen?
Es ist nicht immer klar, wer im Argumentationskampf gewinnt, denn darüber wird in näherer oder entfernter Zukunft entschieden. In Bezug auf das Völkerrecht könnte man nur darauf hoffen, dass die Worte Martin Luther Kings sich als wahr erweisen: »Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er biegt sich zur Gerechtigkeit«.
Übersetzung aus dem Englischen: Evgeniya Bakalova