Einleitung
Ist Russland ein Staat, der von den eigenen Sicherheitsdiensten kontrolliert wird? Es ist allgemeine Ansicht, dass Russlands sogenannte »Machtministerien«, also die Behörden mit der Befugnis, bewaffnete Gewalt gegen Bedrohungen für die nationale Sicherheit einzusetzen, in den letzten Jahren zu den dominierenden Akteuren der russischen Politik geworden sind. »Sila« bedeutet im Russischen »Kraft«, »Macht«, »Gewalt«, und in den Augen vieler Beobachter sind es die Silowiki, Angehörige der Machtministerien, die nach Putins Rückkehr ins Präsidentenamt im März 2012 die russische Innen- und Außenpolitik verstärkt geprägt haben.
Diese Ansicht wird durch Russlands immer repressivere Politik im Inneren untermauert, sowie durch eine gewaltsamere Außenpolitik. Seit dem Frühjahr 2012 ist die russische Zivilgesellschaft einer ganzen Reihe von Angriffen unterzogen worden, die direkt einem Skript der Sicherheitsdienste zu entstammen scheinen. Die Annexion der Krim, der anhaltende Konflikt in der Ostukraine wie auch das russische Eingreifen in Syrien scheinen ebenfalls mit der Weltsicht der Hardliner in den Militär- und Sicherheitsbehörden im Einklang zu stehen. Gleichwohl bleibt die Frage, wer derzeit in Russland letztendlich die Strippen zieht und im Großen und Ganzen die Politik bestimmt. Steht Putin unter der Kontrolle der Silowiki? Oder ist es im Gegenteil so, dass Putin die Silowiki im Griff hat und deren Macht mit der anderer einflussreicher Gruppierungen ausbalanciert?
Interne Revierkämpfe
Oberflächlich gesehen scheint es, als würde Putin die Silowiki kontrollieren. Die Silowiki stellen jedoch keinen einheitlichen Zusammenschluss dar, der in der Lage wäre, koordiniert die Politik zu beeinflussen, sondern bestehen eher aus einer Reihe rivalisierender Ministerien, Behörden und Gruppierungen, die durch persönliche und geschäftliche Streitereien zutiefst gespalten sind. An der Spitze dieser Gruppierungen stehen enge Vertraute Putins aus den 1990er und frühen 2000er Jahren, wobei der russische Präsident die einzige Person ist, die in der Lage wäre, hier eine Balance herzustellen, um zu verhindern, dass eine der Gruppierungen zu mächtig wird.
Es ist für keine der Silowiki-Gruppierungen von vordringlichem Interesse, die politische Richtung des Landes zu beeinflussen. Sie sind eher an einer Beibehaltung des Status quo interessiert, der es ihnen ja in der Vergangenheit ermöglicht hat, beträchtliche Vermögen anzuhäufen. Durch die Präsenz von »Top-Silowiki« an oder in der Nähe der Spitze von »Gazprom« und »Rosneft«, den in staatlichem Besitz befindlichen Gas- und Ölkonzernen, kontrollieren die Silowiki einen wichtigen Teil der russischen Einnahmen aus Rohstoffverkäufen. Die Sicherheitsdienste sind darüber hinaus in alle möglichen Arten von Schutzgeldgeschäften, Erpressung und »feindlichen Übernahmen« von Unternehmen verwickelt. Diese Aktivitäten reichen von Eintreiben von Schutzgeldern durch niederrangige Polizisten über »feindliche Übernahmen«, an denen sich Offiziere aus den mittleren Rängen der Sicherheitskräfte beteiligen, bis hin zur Enteignung ganzer Unternehmen von Geschäftsrivalen durch Top-Silowiki. Während das »Raubtierverhalten« der russischen Sicherheitsdienste weiterhin starke negative Auswirkungen auf das Investitionsklima und die Wirtschaft des Landes hat, meinen viele Beobachter, dass Putin gerade über diese Verteilung von Ressourcen unter den rivalisierenden Fraktionen in der Lage sei, diese Gruppen unter Kontrolle zu halten.
Wenn es um den Zugang zu diesen Ressourcen geht, stehen die unterschiedlichen Silowiki-Fraktionen in einer erbitterten Konkurrenz zueinander, etwa um sicherzustellen, dass keine Behörde im Revier eines Rivalen wildert. Diese internen »Silowiki-Kriege« finden zwar für die Öffentlichkeit größtenteils im Verborgenen statt, doch bricht der Kampf mitunter an die Oberfläche durch. Ein Beispiel hierfür ist der offene Brief, in dem Wiktor Tscherkessow, der Chef des Föderalen Dienstes für die Drogenaufsicht, sich in der Zeitung »Kommersant« über die Grabenkämpfe zwischen den Silowiki beschwerte – seine Behörde war zuvor unter schweren Beschuss von Seiten des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) geraten [Der Brief ist aufrufbar unter: https://www.kommersant.ru/doc/812840 (russ.) – Anm. d. Red.]. In einem weiteren Beispiel beging der stellvertretende Abteilungsleiter für Korruptionsbekämpfung im Innenministerium 2014 Selbstmord, indem er im fünften Stock vom Balkon sprang, als gegen ihn ermittelt wurde und er sich in Untersuchungshaft des FSB befand. Der Fall hatte die erbitterte Rivalität zwischen FSB und Innenministerium deutlich werden lassen.
Die intensiven Kämpfe zwischen den rivalisierenden Fraktionen der Silowiki lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass sie in der Lage wären, eine gemeinsame Agenda zur Einflussnahme auf die Politik des Landes zu verfolgen. Allerdings ist auch das Ausmaß fraglich, in dem Putin in der Lage ist, die verschiedenen Fraktionen zu kontrollieren. Mitunter wird Putins Frust angesichts der exzessiven Gier der russischen Polizei- und Justizbehörden sichtbar, beispielsweise während seiner Ansprache an die Föderale Versammlung im Dezember 2015. In dieser Rede beklagte Putin, dass von den 200.000 Verfahren, die 2014 von den Ermittlungsbehörden gegen russische Unternehmer eröffnet worden waren, nur 15 Prozent mit einer Verurteilung endeten. Gleichzeitig war es allerdings so, dass 83 Prozent der Unternehmer, gegen die ermittelt wurde, aufgrund dieser Ermittlungen ihre Firma vollständig oder zum Teil verloren, folgt man dem sichtlich frustrierten Präsidenten Russlands [Die Rede ist aufrufbar unter: http://en.kremlin.ru/events/president/news/50864 (eng.) – Anm. d. Red.].
Wedelt der Schwanz mit dem Hund?
Putins Vorliebe, Konflikte hinter den Kulissen zu lösen, beeinträchtigt auch sein Vermögen, die widerstreitenden Silowiki-Fraktionen wirksam zu kontrollieren und auszubalancieren. Zu unterschiedlichen Zeiten haben die verschiedenen Gruppierungen und insbesondere der FSB diesen Schwachpunkt Putins ausgenutzt, indem sie ihn vor vollendete Tatsachen stellten, die eine deutlich sichtbare Intervention erforderlich machten, um die Dinge post factum wieder gerade zu rücken. Der Konflikt von 2007 zwischen dem Föderalen Dienst für die Drogenaufsicht unter Leitung von Wiktor Tscherkessow einerseits und dem FSB andererseits ist ein solches Beispiel. Putin hatte ursprünglich seinen langjährigen Verbündeten Tscherkessow gebeten, einige Fälle von zwielichtem Vorgehen des FSB zu untersuchen; der FSB erhöhte daraufhin lediglich weiter den Einsatz, und zwar bis zu einem Punkt, an dem Putin keine andere Wahl hatte, als Tscherkessow zu opfern, wenn er einen potentiell destabilisierenden öffentlichen Skandal vermeiden wollte. Ein weiteres Beispiel jüngeren Datums ist der Konflikt um die Ölfirma »Baschneft«. Hier hatte Igor Setschin, Chef des in staatlichem Besitz befindlichen Ölkonzerns »Rosneft«, der oft als Kopf einer der wichtigsten Silowiki-Gruppierungen beschrieben wird, ein Auge auf diese Ölfirma von Jewgenij Jewtuschenkow geworfen; Jewtuschenkow ist Putin gegenüber stets unerschütterlich loyal gewesen. Obwohl Setschin zu diesem Zeitpunkt bereits über eine außerordentliche Machtfülle verfügte, brachte er letztlich auch »Baschneft« unter seine Kontrolle. Der Fall Baschneft lässt Zweifel aufkommen, ob Putin tatsächlich in der Lage ist, die Zuteilung von Rentenquellen dazu einzusetzen, eine Balance unter den verschiedenen Silowiki-Fraktionen herzustellen. Letztlich sah es erneut so aus, als sei Putin von Entwicklungen getrieben worden, die er nicht mehr vollständig unter Kontrolle zu halten vermochte.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Silowiki zwar nicht in der Lage sind, Putin in einer koordinierten Art und Weise zu kontrollieren, dass aber auch Putins Fähigkeit begrenzt ist, das raubtierhafte Gebaren der diversen Sicherheitsdienste Russlands zu bändigen. Bleibt also die Frage, wer letztlich in der russischen Politik die Fäden zieht. Hier haben die Silowiki in den letzten Jahren tatsächlich an Einfluss gewonnen, und zwar auf subtilere Art, als man erwarten könnte, wenn man nur die Machtbeziehungen und Kontrollfähigkeiten betrachtet.
Die Weltsicht der Silowiki: Überall Feinde
Die Silowiki sind zwar durch ihre jeweiligen Wirtschaftsinteressen gespalten, doch eint sie als Gesamtformation eine besondere Weltsicht. Diese lässt sich in einigen zentralen Punkten zusammenfassen. Der wichtigste besteht darin, dass die Silowiki einen starken und zentralisierten Staat anstreben, der von einem wohlfinanzierten und umfangreichen Sicherheits- und Verteidigungsapparat gestützt wird. Aus dieser Sicht sei ein derart starker Staat notwendig, weil Russland von äußeren Kräften bedroht wird, die versuchen, den russischen Staat von innen und außen zu zerrütten, da sie Russland seinen Status als Großmacht und seine Bodenschätze neiden. Der Kampf gegen diese äußere Bedrohung erfordere eine realpolitische Sichtweise, die nur von Silowiki voll verstanden werde. Dadurch seien sie auf einzigartige Weise qualifiziert, Russland in diesen ungewissen Zeiten zu führen. Die Sicht der Silowiki auf Innen- und Außenpolitik, wie auch auf die westlichen und internationalen Institutionen, ist durch ein hohes Maß an Zynismus gekennzeichnet, und durch den Glauben, dass Politik vor allem ein Spiel von Lügen und Täuschungen sei. Diese Desillusioniertheit in Bezug auf politische Entscheidungsprozesse hat ihre Wurzeln in der Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg und dem anschließenden Jahrzehnt aus politischem und wirtschaftlichem Chaos, das Russland in den 1990er Jahren erlebte, sowie in dem von den Silowiki wahrgenommenen permanenten Mangel an Respekt des Westens gegenüber Russland. Die Weltsicht der Silowiki enthält somit heute gewisse Elemente der Schizophrenie, durch die das Raubtierverhalten innerhalb Russlands mit dem aufrichtigen Glauben in Einklang gelangt, dass alle Gefahren für das Land äußeren Ursprungs sind.
Putin entstammt zwar selbst den russischen Sicherheitsdiensten, doch unterschied sich seine Weltsicht in den ersten Jahren als Präsident in einigen Punkten von jener der Silowiki. Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Sowjetunion hatte ihn gelehrt, dass Marktkonkurrenz staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft weit überlegen ist. Dies führte zu einer Reihe marktfreundlicher Reformen zu Beginn seiner Zeit als Präsident Russlands. Ebenso versuchte Putin in den frühen 2000er Jahren, dass Russland stärker in der internationalen Gemeinschaft aktiv wird, wobei er eher auf Zusammenarbeit denn auf Konfrontation setzte. Zu jener Zeit hatten die Fraktionen der Wirtschaftsliberalen und der Silowiki in der Regierung einen ungefähr gleich großen Einfluss auf Putin und die russische Politik.
All dies änderte sich ab den späten 2000er Jahren, zunächst langsam, dann mit Beginn von Putins dritter Amtszeit als Präsident 2012 markant. Seither hat sich Putins Weltsicht der Wahrnehmung der Silowiki stark angenähert, insbesondere was die zunehmend zynische Sicht auf westliche politische Normen und Institutionen anbetrifft. In diesem Sinne haben die Silowiki maßgeblich, wenn auch indirekt, an Kontrolle über die Gestaltung der russischen Politik gewonnen. Für diesen Wandel in Putins Weltsicht war eine Reihe von Faktoren verantwortlich.
Der wohl wichtigste war, dass der Westen es versäumt hat, Putins Angebote zur Zusammenarbeit ernst zu nehmen. Oft wurde Russland eher wie ein Juniorpartner behandelt, und nicht, wie es eine Weltmacht – wie sie Russland in Putins Augen eine darstellt – verdient hätte. Dieser wahrgenommene Mangel an Respekt fiel mit einer Reihe von Regimewechseln in ehemals kommunistischen Ländern, den sogenannten farbigen Revolutionen, zusammen, bei denen – oft mit Hilfe aus dem Westen – russlandfreundliche Regime in Serbien, Georgien, der Ukraine und in Kirgisistan zu Fall kamen. 2008 und 2009 fügte die Wirtschaftskrise zusätzlich ein Element akuter Verwundbarkeit durch Schocks von außen hinzu. Der Arabische Frühling von 2011 und die Vertreibung des damaligen tunesischen Präsidenten Ben Ali und des ägyptischen Präsidenten Mubarak von der Macht ließen in den russischen Eliten die Verunsicherung weiter anwachsen. Als sich die politischen Proteste nach den Dumawahlen von 2011 immer stärker einer farbigen Revolution in Russland selbst ähnelten, reagierte Putin, indem er sich klar für eine Strategie entschied, die politische Kontrolle über wirtschaftlichen und politischen Liberalismus stellte.
In der Folge verlor der liberale Flügel in der russischen Regierung nach 2012 einen Großteil seines Einflusses. Nachdem der langjährige Finanzminister Alexej Kudrin bereits im September 2011 aufgrund eines Streits mit dem damaligen Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedew die Regierung verlassen hatte, wurden die Liberalen um Medwedew kurz nach Putins Rückkehr in den Kreml aufs Abstellgleis geschoben. Die Entlassung von Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow im November 2012 ist eines der markantesten Beispiele. Zur gleichen Zeit wurde eine kleine Gruppe von Schlüsselfiguren der Silowiki zum informellen Nexus politischer Macht. Zu den prominenten Mitgliedern dieser Gruppe gehörten Sergej Schojgu als Nachfolger von Serdjukow, Sergej Iwanow, der bis 2016 die Präsidialadministration geleitet hatte, der Leiter des russischen Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew, der Chef von Rosneft, Igor Setschin, der Direktor des FSB, Alexander Bortnikow, dann Viktor Solotow, der bis 2014 den Sicherheitsdienst des Präsidenten leitete und jetzt an der Spitze der Nationalgarde steht, der Leiter des Untersuchungskomitees, Alexander Bastrykin, und Jewgenij Murow, der bis 2016 den Föderalen Wachdienst leitete. Diese Konzentration politischer Macht in einem kleinen Personenkreis, der den Sicherheitsdiensten entstammt, bedeutete eine beträchtliche Verengung der potentiellen Informationsquellen, die Putin nutzt. Da er kein Freund des Internet oder der Zeitungslektüre ist, verlässt sich Putin vor allem auf die Berichte seiner engen Vertrauten als Informationsquelle. Und da nun seine engsten Berater überwiegend zu den Silowiki gehören, bleiben nur wenige Stimmen, die den Präsidenten mit einer alternativen Sicht der Dinge versorgen könnten.
In noch jüngerer Vergangenheit hat sich Putin mit einigen seiner alten Vertrauten aus den Reihen der Silowiki überworfen. In den vergangenen zwei Jahren sind einige Schwergewichte der Silowiki wie Sergej Iwanow oder Jewgenij Murow durch junge Technokraten ersetzt worden. Diesen jungen Technokraten fehlt jedoch die Erfahrung einer langfristigen persönlichen Beziehung zu Putin, was es ihnen schwer macht, den Präsidenten gegebenenfalls zu kritisieren oder ihm zu widersprechen. Einiges an Russlands forschem bis dreistem Vorgehen in den letzten Jahren, etwa die Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen 2016, die Jagd auf übergelaufene Spione im Ausland und die zunehmende Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt, könnte auf die neue Generation von Technokraten mittleren Alters zurückzuführen sein, die nicht in der Lage sind, einen mäßigenden Einfluss auf den Präsidenten auszuüben.
Schlussfolgerungen
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Russlands Schwenk von 2012 hin zu einer repressiveren Politik im Inneren und einer selbstbewussteren außenpolitischen Haltung keine Folge der Lobbyarbeit durch Silowiki, ja nicht einmal des Einflusses einer Reihe wichtiger Silowiki war. Es scheint vielmehr, dass Putins Interpretation, wie denn die Welt funktioniert, zunehmend der Weltsicht der Silowiki ähnelt, und dass er sich daher immer mehr auf die Machtministerien stützt, um Politik umzusetzen. Putins Frustration mit den ständigen wechselseitigen Kämpfen und dem Raubtierverhalten der russischen Sicherheitsdienste zeigt, dass er sich mit einiger Sicherheit der Kosten bewusst ist, die ein intensives Stützen auf die Silowiki für das Land bedeuten. Das scheint aber ein Preis zu sein, den er zu zahlen bereit ist, um die politische Kontrolle zu behalten.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder