Wie ängstliche Atome. Der Soziologe Grigori Judin über den modernen russischen Individualismus

Von Arnold Chatschaturow, Wjatscheslaw Polowinko (beide Novaya Gazeta), Grigori Judin (Moscow School of Social and Economic Science/Higher School of Economics Moscow)

Das folgende Interview mit dem russischen Soziologen Grigori Judin erschien ursprünglich am 19.12.2018 in der Zeitung Nowaja Gaseta und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.

Einleitung von dekoder

Um das gegenwärtige Russland zu erklären, bemühen viele russische Sozialwissenschaftler Weimar-Vergleiche: Nach dem Systemzusammenbruch kam es in beiden Ländern zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen oft über Identitätskrisen und über Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Schließlich gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel »Erhebung von den Knien« etabliert. Einige Sozialwissenschaftler sehen auch zwischen der Wilhelminischen und der Gesellschaft des Homo Sovieticus Parallelen. Diese seien von Untertanen durchsetzt gewesen, wie sie zum Beispiel Heinrich Mann beschrieb: obrigkeitshörig, kollektivistisch und konformistisch. Und diese Eigenschaften, so die Behauptung der Wissenschaftler, würden sowohl die politische Kultur der Weimarer Republik als auch die des gegenwärtigen Russland prägen. Die Beweisdecke für solche Thesen ist sehr dünn, meint dagegen Grigori Judin. In einem Interview mit der Novaya Gazeta räumt der Soziologe mit gängigen Klischees auf.

»Es herrscht ein aggressiver Individualismus«

Novaya Gazeta: In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich über das Modell des Homo Sovieticus, das von vielen russischen Soziologen aufgegriffen und von prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird: Wladimir Putin etwa spricht von einem »Element des Kollektivismus« in den Herzen der Russen. Ist da etwas dran?

Grigori Judin: Es gibt die Sichtweise, die UdSSR habe eine neue anthropologische Art hervorgebracht, die zudem noch schrecklich resistent ist: Nichts kann ihr etwas anhaben. Dieser Typus vernichtet sämtliche Institutionen, die auf seine Transformation abzielen. Zu seinen typischen Eigenschaften gehören Konformität, Paternalismus; er liebt jede Form von Gleichmacherei. Insgesamt also ein höchst unangenehmer Typ, der bei jedem normalen Menschen Abscheu hervorrufen muss. All dem liegen zwei Dinge zugrunde, die man mit dem sowjetischen Menschen assoziiert: der Kollektivismus und der Hass auf den Individualismus.

Das bringt uns in eine recht merkwürdige Situation. Denn sämtliche Studien zeigen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, weder über den sowjetischen noch den heutigen russischen Menschen so zu denken. Überhaupt ist die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus aus Sicht der Sozialwissenschaften ein fragwürdiges Unterfangen: Ihre Gründerväter waren eher um eine Synthese bemüht.

Und selbst wenn wir diese Dichotomie bemühen, stellen wir fest, dass im heutigen Russland die individualistische Denkweise viel stärker ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die internationale Werte-Forschung, die es uns erlaubt, Russland mit anderen Ländern zu vergleichen. Wie sich herausstellt, ist Russland eines der individualistischsten Länder überhaupt.

Womit hängt das zusammen?

Das ist nicht weiter überraschend, denn die Institutionen des Kollektiv- oder gemeinschaftlichen Lebens, die den Individualismus ausgleichen würden, sind bei uns nicht entwickelt. Sie wurden in einem hohen Maß bereits in der späten Sowjetunion unterdrückt, und danach hat sich überhaupt niemand mehr darum gekümmert. Seit den 1990er Jahren versuchen wir, eine liberal-demokratische Gesellschaft aufzubauen, aber von den zwei Komponenten haben wir nur an eine gedacht. Wir haben eine gestutzte Version des liberal-demokratischen Systems importiert: einen Liberalismus ohne Demokratie.

Damals bestand die Hauptaufgabe darin, eine Marktwirtschaft aufzubauen, wirtschaftliches Wachstum zu sichern, Konkurrenz zu schaffen. Unter Existenzangst verlangte man den Menschen Unternehmersinn ab und lehrte sie, dass niemand für sie sorgen wird, wenn sie es nicht selbst tun. Heute ist die Gewissheit, dass du keine Hilfe zu erwarten hast und jeder sich selbst retten muss, zum Grundprinzip des russischen Lebens geworden.

Das Ergebnis ist eine zunehmend radikale Entfremdung der Menschen voneinander und der fehlende Glaube an das gemeinschaftliche Handeln.

Für den demokratischen Aspekt interessierte sich so gut wie keiner. Doch genau das, was wir also links liegen ließen, weil es uns unwichtig erschien, ist das Allerwichtigste: Institutionen der regionalen Selbstverwaltung, regionale Vereinigungen, Berufsverbände. Um den Ausbau der regionalen Selbstverwaltung hat sich in den 1990er Jahren niemand gekümmert, und später wurde sie ganz bewusst unterdrückt. Niemand hat für Initiativen von unten und Berufsverbände gesorgt, ganz im Gegenteil, in allen Bereichen, die traditionell in den Händen von Fachleuten lagen, sehen wir heute die uneingeschränkte Macht von Managern.

Aber dieser Individualismus ist keiner, den man als positiv bezeichnen kann.

Kürzlich wurde ich bei einem Vortrag gefragt: Welcher Schlüsselbegriff beschreibt die russische Gesellschaft, wenn es weder der Kollektivismus noch der Individualismus tun? Atomisierung – das ist der Begriff der Stunde.

Aus soziologischer Sicht geht es nicht um einen Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus. Moderne Gesellschaften können nur bestehen, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den beiden existiert. Unser Problem ist, dass in Russland ein aggressiver Individualismus vorherrscht, der von Angst genährt wird und deshalb in brutale Konkurrenz, totales gegenseitiges Misstrauen und Feindschaft umschlägt.

Verstehe ich richtig, dass ein gesunder Kollektivismus nicht das Primat der Gruppe über das Individuum meint, sondern die Idee eines Gemeinwohls? In Russland steht man dieser Sicht ja eher zynisch gegenüber.

Genau das ist das Schlüsselwort, das die Alltagsmoral in Russland beschreibt: Zynismus. Wenn du dich lächerlich machen willst, musst du nur das Wort »Gemeinwohl« in den Mund nehmen: Wo hast du denn so was je gesehen? Weißt du denn nicht, wie es auf der Welt zugeht? Genau diese ethische Grundeinstellung resultiert aus einem mangelnden Gleichgewicht, einem unterentwickelten Gemeinschaftsleben.

Das Interessanteste ist, dass wir die Propaganda der Sowjetzeit gemeinhin belächeln, aber sobald es um den sowjetischen Kollektivismus geht, schenken wir ihr aus irgendeinem Grund weiterhin Glauben. Die UdSSR existiert seit 30 Jahren nicht mehr, aber wir glauben immer noch, dass die Sowjetmenschen echte Kollektivisten waren. Was an der spätsowjetischen Zeit so kollektiv gewesen sein soll, ist dabei völlig unklar. Es ist jedoch bequem, an die Mär vom schrecklichen sowjetischen Kollektivisten zu glauben – so können wir skeptisch herabschauen, anstatt zu handeln, und dabei auch noch das eigene Ego streicheln [, Anm. d. Red. – nach dem Motto: »Ich bin ja ganz anders, weil ich Wert auf Persönlichkeit und Individualität lege.«].

Richtet sich die heutige TV-Propaganda nicht in genau diesen Begriffen an das kollektive Unterbewusstsein der Russen? »Wir sitzen alle in einem Boot«, »wir müssen uns verbünden« und so weiter.

Natürlich, diejenigen, die diese Botschaften aussenden, wollen, dass wir uns mit ihnen verbünden. Gleichzeitig sagt man uns: Verbündet euch ja nicht untereinander. Das ist furchtbar gefährlich und kann nur in einer Revolution enden. Die Botschaft ist: »Verlasst euch auf die Führung, unterstützt sie, und sie wird euch voreinander und vor heimtückischen Feinden beschützen«.

Die Propaganda verbreitet also eine verzerrte Botschaft über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, der Geschlossenheit. Aber funktioniert sie auch, oder macht das alles keinen Sinn?

Sie funktioniert, man muss nur richtig verstehen, worauf sie abzielt. Das Ziel ist, die Atomisierung als eine unvermeidbare Tatsache hinzustellen. Die Botschaft der offiziellen Propaganda ist nicht, dass wir in einem perfekten Land mit tadelloser Regierung leben. Ganz und gar nicht – vielmehr sagt uns die Obrigkeit: »Ja, ich bin schlecht, aber wenn ich nicht da bin, wird es euch noch schlechter gehen, so ist das Leben. Jeder Mensch und jeder Politiker kümmert sich nur um sich selbst, das ist die menschliche Natur. Kollektives Handeln ist unmöglich. Und ganz egal, wer nach mir kommt, er wird kein bisschen besser sein, aber er wird euch nicht vor der Außenwelt beschützen können oder wollen. Es wird Chaos und Anarchie geben.«

Die Hauptemotion, mit der die Propaganda arbeitet, ist die Angst, und das Hauptmotiv, dessen sie sich bedient, ist die Suche nach Schutz.

Ein Thema, das aus den Nachrichten nicht mehr wegzudenken ist, sind die Beziehungen zur Ukraine. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Geschichte: Ganze Familien sind wegen der Krim, dem Maidan und so weiter zerbrochen. Wie passt das zusammen mit dem ungesunden Individualismus der russischen Gesellschaft? Hat dieser Konflikt Konsequenzen, die nicht einkalkuliert waren?

Wenn man sagt, dass es in Russland an kollektivem Leben mangelt, heißt das auch, dass das Bedürfnis danach immer da ist. Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, dass die Menschen insgesamt nur schwer mit diesem Mangel umgehen können. Dieses Problem haben nicht nur wir: Immer häufiger hört man von der Rückkehr der Identität als einer der Haupttendenzen der liberalen und postliberalen Welt.

Eine ganze Weile schien es, als würde unsere Welt flexibler werden, zu einem Ort, an dem sich jeder nach Belieben seine eigene Identität wählen und gestalten kann. Jetzt aber sehen wir, dass die Menschen überall auf der Welt versuchen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Daher auch der Rechtsruck und das Erstarken der konservativen Kräfte, die keine klaren Programme anbieten, sondern an die erwachenden Emotionen appellieren.

Die Menschen streben stets nach einem kollektiven Leben, und in Russland sehen wir dafür viele Beweise. Die Geschichte mit der Krim kam 2014 – ein oder zwei Jahre, nachdem unterschiedliche Teile der russischen Gesellschaft begonnen hatten, ihr Bedürfnis nach kollektivem Handeln zum Ausdruck zu bringen und sich Bewegungen und Demonstrationen anzuschließen.

Sie meinen die Bolotnaja?

Nicht nur, das ist ein Beispiel von vielen. Parallel dazu konnte man einen Boom beim ehrenamtlichen Engagement beobachten, der sich nur teilweise mit den Protestbewegungen überschnitt. Es gab ein allgemeines Bedürfnis, das auch heute noch spürbar ist. Der Mensch ist so geschaffen, dass er kollektive Ziele braucht, eine Identität.

Die Mobilisierung von 2014 war ein Mittel der Machthaber, auf dieses Bedürfnis zu reagieren – teils unbewusst, teils aber auch mit Kalkül.

Wir haben gesehen, wie dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor bei diversen Bewegungen mitgelaufen waren, nun zum Gewehr griffen und in den Donbass fuhren. Und alles nur, weil sie, grob gesprochen, einen Sinn im Leben brauchten. Das ist das Problem im heutigen Russland: Die Menschen sehen keinen Sinn, sie sehen keine Ziele, die gesellschaftlich akzeptiert wären. Initiativen von unten werden im Keim erstickt; das einzige Lebensmodell, das angeboten wird, ist die Erhöhung des Konsumstandards. Aber Konsum kann keinen Sinn liefern, für den man lebt.

Die Mobilisierung von 2014 hat gezeigt, dass die »konservativen Werte«, die dieses Vakuum vielleicht hätten ausfüllen können, gar nicht existieren. Viele Familien wurden entlang der Linie Russland/Ukraine gespalten. Jetzt beobachten wir die Spaltung der orthodoxen Kirche. Genau das meine ich mit Atomisierung – wenn die Institutionen des kollektiven Lebens schwach sind, ist es sehr einfach, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

Bis vor Kurzem schien es, als würde die Ukraine in den Hintergrund rücken. Jetzt ist sie wieder in den Nachrichten. Werden die Aufrufe der Propaganda wieder Gehör finden?

Diesen Bonbon kann man nicht ewig lutschen. Ein paar Mobilisierungs-Reserven stecken vielleicht noch in diesem Thema, vor allem, wenn etwas Unerwartetes geschieht: Eine Verschärfung der Situation mit der Ukraine oder einem beliebigen anderen angrenzenden Gebiet – das könnte noch einmal denselben Effekt haben. Aber es ist klar – dies ist eine hohle Identität: Ja, es gibt Menschen, die zum Kämpfen in den Donbass gegangen sind, aber alle anderen sitzen weiterhin vor dem Fernseher. TV-Solidarität ist ein Surrogat, und Mal um Mal schwindet dessen Wirkung dahin.

Die Fake-Mobilisierung übers Fernsehen findet ihr Ende. Auch wenn man die Dosis der Verstrahlung durch Propaganda noch erhöhen kann – eine solche Geschlossenheit wie früher wird es nicht mehr geben, denn die Propaganda ist zur Gewohnheit geworden. Die Nachfrage nach einer kollektiven Identität ist jetzt außer Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration geraten. Deren Repertoire ist ausgeschöpft. Deswegen fangen die Menschen an, selbst etwas zu suchen, von unten.

Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von Jennie Seitz

Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter https://www.novayagazeta.ru/articles/2018/12/18/78978-strana-raspavshayasya-na-atomy, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter https://www.dekoder.org/de/article/judin-individualismus-atomisierung-kollektivismus.

Dieser Beitrag wurde übernommen im Rahmen des Projektes »Wissenstransfer2 – Russlandstudien«, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und dekoder.org mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung durchgeführt wird.

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder, Novaya Gazeta, Arnold Chatschaturow, Wjatscheslaw Polowinko und Grigori Judin für die Erlaubnis zum Nachdruck.

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