Der folgende Beitrag des russischen Journalisten Konstantin Eggert erschien ursprünglich am 24.04.2018 in der Online-Zeitschrift Snob und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.
Einleitung von dekoder
Er war nur eine Woche Ministerpräsident Armeniens, dann gab er dem Druck der Straße nach: Sersh Sargsjan ist Mitte April 2018 zurückgetreten. Tagelang hatte es Proteste gegeben, nachdem Sargsjan vom Präsidentenamt ins Amt des Ministerpräsidenten gewechselt war. Viele warfen ihm vor, sich an die Macht zu klammern. 2015 hatte er als Präsident in einem Referendum über eine Verfassungsreform abstimmen lassen, die dem Ministerpräsidenten zahlreiche Kompetenzen des Präsidenten übertrug, diese war kurz vor der Wahl in Kraft getreten.
Armenien ist mit den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei verfeindet, Russland gilt als wichtige Schutzmacht des Landes. Armenien ist Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, hat aber 2017 auch ein Partnerschaftsabkommen mit Brüssel unterzeichnet.
Bei den jüngsten Protesten schließlich ging es nicht um eine prowestliche oder antirussische Ausrichtung des Landes. Der Sieg der armenischen Opposition bedeute dennoch eine Schlappe für Moskau, meint der bekannte Journalist Konstantin Eggert auf Snob. Er sei ein äußerst wichtiges Signal für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen.
Moskau, hör die Signale!
Das, was da in Armenien geschehen ist, ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für den sogenannten postsowjetischen Raum, wo das »post« immer stärker wird als das »sowjetisch«. Die friedliche Revolution in Armenien – einst eines der postsowjetischen Länder dieser Region, in dem die prorussischen Stimmungen und die Nostalgie nach der UdSSR mit am stärksten waren – ist ein äußerst wichtiges Signal für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen. Und zwar in einer Region, die Dimitri Medwedew vor zehn Jahren als »Zone privilegierter Interessen Russlands« bezeichnet hat.
Als Stütze der russischen Führung in Armenien fungierte zwanzig Jahre lang der sogenannte Karabach-Klan, eine Gruppe von Veteranen aus dem Krieg gegen Aserbaidschan um Bergkarabach, der 1994 mit einem Sieg Armeniens endete. Diese aus Arzach Stammenden, wie die Armenier Karabach nennen, hatten daraufhin sofort Lewon Ter-Petrosjan gestürzt, den ersten Präsidenten Armeniens – sie hielten ihn für zu kompromissbereit gegenüber Aserbaidschan. Anschließend machten sie sich die Unternehmen des Landes untertan, richteten für sich und ihre Familien Firmen in Russland ein, jagten die Opposition in ein Ghetto und beschlossen, ewig zu herrschen.
Zunächst war der karabachische Veteran Robert Kotscherjan für zwei Amtszeiten Präsident, dann der frühere Verteidigungsminister Sersh Sargsjan. Schließlich gab die Ersatzbank der Karabachler wohl niemanden mehr her, aber das machte nichts. 2015 wurde ein Referendum abgehalten, das die Verfassung änderte und Armenien aus einer Präsidial- in eine parlamentarische Republik verwandelte. Der Präsident wurde zu einer repräsentativen Figur und die gesamten Machtbefugnisse wurden dem Ministerpräsidenten übertragen. Die Armenier hatten schon damals den Verdacht, dass es hier um eine Verlängerung der politischen Karriere Sargsjans geht. Dieser versprach jedoch, dass er nicht als Ministerpräsident kandidieren wolle. Das half, das Referendum »durchzudrücken«.
Sargsjan hat sein Versprechen nicht gehalten. Die Leute waren empört. Es kam zur Revolution. Sargsjan ist abgetreten, nachdem sich die ersten Militärs den Demonstranten angeschlossen hatten. Eine gewaltsame Unterdrückung der Proteste hätte einen Bürgerkrieg bedeutet. Dazu war der ehemalige Präsident und kurzzeitige Ministerpräsident nicht bereit gewesen. Gott sei Dank.
Unerwartet für Moskau
Für das offizielle Moskau kamen die Ereignisse in Armenien unerwartet – kurz nach den Wahlen hatte Wladimir Putin Sargsjan zur »Wahl« zum Ministerpräsidenten gratuliert. Wobei die darauffolgenden Ereignisse eine Schlappe für die russische Außenpolitik darstellten, und die ist deswegen so herb, weil Armenien der engste Verbündete Russlands ist, ein Mitglied der OVKS [Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit – Anm. d. Red.] und der Eurasischen Union, sowie das Land, auf dessen Territorium sich einer der größten russischen Militärstützpunkte befindet.
Die Armenier lieben Russland aufrichtig, und genauso aufrichtig hoffen sie auf Russlands Schutz in den »kalten Kriegen« mit Aserbaidschan und der Türkei. Das bedeutet jedoch nicht, dass die armenische Gesellschaft so leben möchte wie die russische. In Armenien ist eine Generation herangewachsen, die sich nicht an die UdSSR oder den Karabach-Krieg erinnert. Für diese bedeutet die sargsjansche »Stabilität« das Gleiche, wie die putinsche für die Generation Nawalnyj: Stagnation, Heuchelei, fehlende Perspektiven und keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten.
Darüberhinaus weckt das Beispiel Georgien zunehmend das Interesse der Armenier: Das Nachbarland hat mit der Europäischen Union ein vollwertiges Assoziationsabkommen geschlossen, hat eine Visafreiheit mit der EU erreicht, eine Polizei- und Gerichtsreform unternommen und die Alltagskorruption bekämpft, jene Korruption, die dem Durchschnittsarmenier am meisten auf die Nerven geht.
Die armenische Opposition – zu ihrer Symbolfigur wurde Nikol Paschinjan, ein politischer Nachkomme des ersten Präsidenten Ter-Petrosjan – hat die Regierung beharrlich wegen des Eintritts Armeniens in die Eurasische Union kritisiert, wie auch wegen deren Weigerung (unter dem Druck Moskaus), 2013 ein Partnerschaftsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das hat die armenischen Oppositionellen von der Partei »Elk« [»Ausweg« – Anm. d. Red.] in den Augen des offiziellen Russland zu »Feinden« gemacht. Sollte die russische Botschaft in Jerewan mit ihnen in Kontakt gestanden haben, so bestimmt äußerst eingeschränkt, sodass sie alles mit den Augen ihres Verbündeten Sargsjan und dessen Umgebung betrachtet hat.
Diese Überzeugung ist nicht unbegründet. Schließlich war der Ansatz Moskaus in Bezug auf Armenien recht einfach. Erstens: Wir haben dort einen Stützpunkt. Zweitens: Das Land ist von den überwiesenen Geldern der Armenier abhängig, die zum Geldverdienen in Russland leben. Drittens: Die Leute von »unserem« Sargsjan kontrollieren die einflussreichen Spitzenpositionen von Wirtschaft, Parlament und Sicherheitsapparat. Also gibt es eigentlich gar keinen Grund zur Sorge.
Selbstsicherheit, imperialer Hochmut sowjetischer Machart und die Unterscheidung von Ausländern in »unsere« und »fremde« haben der russischen Diplomatie erneut einen bösen Streich gespielt. Erneut – denn genau das ist das Verhaltensmuster des Kreml in allen postkommunistischen Transformationsländern: In Serbien zu Zeiten Miloševićs, in der Ukraine zunächst unter Kutschma und dann unter Janukowitsch, in Georgien unter Schewardnadse sowie die ganze Zeit in Belarus und Moldau hat sich das Verhalten des offiziellen Russland vom Stil her nicht geändert. Moskau zieht jene vor, die Demokratie verachten, korrupt sind und bereit zum Westen, insbesondere zur NATO, auf Distanz zu bleiben. Im Kreml herrscht eine ungeheure Angst, dass auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR und auf dem Balkan (der aus unerfindlichen Gründen immer noch als prorussisches Aufmarschgebiet in Europa gilt) erfolgreiche, prosperierende Demokratien entstehen könnten.
Antiwestliche Pufferzone der Instabilität
Genau hierauf konzentriert sich die Außenpolitik Russlands: auf das Eindämmen und – falls das nicht gelingen sollte – auf die Unterminierung einer demokratischen Entwicklung des postsowjetischen Raumes und eines Teils Mittel- und Osteuropas. Das Ziel ist die Schaffung einer Art antiwestlicher Pufferzone der Instabilität – und die Verfolgung von Interessen staatlicher und staatsnaher Unternehmen in diesen Ländern. Diese Unternehmen dienen dabei ihrerseits auch als Instrument zur politischen Einflussnahme des Kreml und zur Korrumpierung der Eliten vor Ort. Ein solches Vorgehen Moskaus erfolgt auch im Westen, erinnert sei nur an den Kauf des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder.
Allerdings lässt sich in entwickelten Demokratien nicht dieselbe Politik verfolgen wie gegenüber Armenien oder der Ukraine.
Trotz seiner nicht geringen Ressourcen erlebt der Kreml eine Niederlage nach der anderen. Der Hauptgrund für dieses Scheitern liegt im Unwillen, anzuerkennen, welche Rolle die Gesellschaft in postkommunistischen Ländern spielt. Im Kreml kann man einfach nicht glauben, dass die Leute Korruption, »ewige« Regime und Willkür der Sicherheitsbehörden tatsächlich satthaben. Wenn jemand auf die Straße geht, dann kann das nur deshalb sein, weil er von westlichen NGOs oder der CIA bezahlt wurde – so sieht im Großen und Ganzen die Denkweise der russischen Führung aus. »Normale Leute wollen keine Freiheit – sie wollen Stabilität um jeden Preis.« So lautet im Grunde die Devise der russischen Politik gegenüber den postkommunistischen Transformationsstaaten. Der Kreml projiziert seine eigenen Vorstellungen von der Befindlichkeit der russischen Bevölkerung auf seine Nachbarn, und nicht nur auf die.
Das ist auch der Grund, warum Moskau aus seiner Niederlage in Armenien keinerlei Schlüsse ziehen wird. Allenfalls werden die 450 Mitarbeiter der Präsidialadministration, Verzeihung, ich meine die 450 Abgeordneten der Staatsduma, angewiesen, mit doppeltem Elan Gesetze zum Kampf gegen all die verschiedenen »Freimaurer« und »Einflussagenten« zu verabschieden.
Am Tag von Sargsjans Rücktritt schrieb Maria Sacharowa, die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, auf Facebook: »Ein Volk, das die Kraft hat, sich in den schwersten Momenten seiner Geschichte nicht zu entzweien und trotz aller grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten die gegenseitige Achtung zu wahren, ist ein großes Volk. Armenien, Russland ist immer bei dir!«
Übersetzt aus der Sprache des Smolenskaja-Platzes heißt das: »Ihr Undankbaren! Ihr habt unseren Mann gestürzt. Doch so einfach werden wir nicht von euch ablassen.«
Übersetzung aus dem Russischen von Hartmut Schröder
Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter https://snob.ru/entry/160150?utm_source=fb&utm_medium=social&utm_campaign=snob&utm_content=column, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter https://www.dekoder.org/ru/node/6393.
Dieser Beitrag wurde übernommen im Rahmen des Projektes »Wissenstransfer2 – Russlandstudien«, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und dekoder.org mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung durchgeführt wird.
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Die Redaktion der Russland-Analysen