Der Traum von den warmen Gewässern
Die Geographie wollte es, dass Russland eine Kontinentalmacht ist, doch der strategische Anspruch seiner Herrscher war beharrlich darauf ausgerichtet, diese Zwickmühle zu überwinden, seit Peter der Große seine noch im Entstehen begriffene Marine einsetzte, um einen Sieg gegen das mächtige Schweden zu erringen. Dem Status einer Seemacht am nächsten kam Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts – um dann vom aufstrebenden Japan in der Seeschlacht von Tsushima, einer der größten Seeschlachten der Geschichte, vernichtend geschlagen zu werden. Die Sowjetunion arbeitete intensiv daran, eine Hochseemarine aufzubauen, die Anfang der 1980er Jahre über rund 300 große Kriegsschiffe und 350 U-Boote verfügte (darunter 85 strategische U-Boote, die mit ballistischen Raketen bestückt waren).
In den 1990er Jahren schrumpfte diese Armada auf ein Zehntel zusammen, der Traum von einem »Besitz« der angrenzenden Seegebiete hielt jedoch an. Präsident Putin hat die Tradition von Marineparaden ins Leben gerufen; Ende Juli wird er in St. Petersburg stolz die dritte abnehmen.
Paraden erzeugen stets schöne Bilder, die russische Führung hat jedoch den tatsächlichen Wert erkannt, der in der Präsentation der St. Andreas-Flagge bei unterschiedlichen Anlässen liegt – angefangen von Patrouillen gegen Piraten im Indischen Ozean bis hin zu gemeinsamen Marinemanövern mit China im umstrittenen Südchinesischen Meer. Die anhaltende Intervention in Syrien umfasst eine Vielzahl anspruchsvoller Marineaufgaben, von Angriffen mit Langstreckenraketen bis zu umfangreichen Nachschublieferungen. Das sperrig betitelte Dokument »Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation im Bereich der Tätigkeit der Marine bis 2030«, das von Präsident Putin am 20. Juli 2017 erlassen wurde, bekräftigt – ungeachtet der schnell zunehmenden Gefahren – diese Entschlossenheit, den Status einer »maritimen Großmacht« aufrechtzuerhalten, und es legt die recht eigenartige Richtlinie fest, die »Position der zweitstärksten einsatzfähigen Marine der Welt zu sichern«. Eine Gleichrangigkeit mit der US-Marine liegt eindeutig außer Reichweite, aber auch der Anspruch auf den zweiten Platz hat bereits zu enttäuschenden Begegnungen mit der Realität geführt.
Das Staatliche Rüstungsprogramm bis 2027, das mit Verspätung im Frühjahr 2018 verabschiedet wurde, wirft einen realistischeren Blick auf die Fähigkeiten und Ressourcen für eine militärische Aufrüstung als das Vorgängerdokument, das 2011 verabschiedete Rüstungsprogramm bis 2020. Die schmerzhaftesten Einschnitte bei der Finanzierung der Streitkräfte treffen jetzt die Marine. Die heftigen Kämpfe zwischen den rivalisierenden Lobbygruppen um die schrumpfenden Geldflüsse werden wohl weitergehen, doch dürfte der Schiffbau einer der sicheren Verlierer sein. Einige der im Rüstungsprogramm bis 2027 revidierten Punkte werden bereits umgesetzt, vor allem, weil Putin einen neuen Schwerpunkt auf die Entwicklung und Stationierung einer Reihe fantastischer neuer Waffensysteme gelegt hat. Von diesen gehört nur eines, nämlich die atomgetriebene Unterwasserdrohne »Poseidon« (NATO-Code: »Kanyon«), zur Marine. Der Umstand, dass jetzt die Modernisierung des russischen Atomarsenals wieder stark Priorität genießt, bedeutet, dass die einzige Komponente der Seestreitkräfte, die auf eine nachhaltige Finanzierung hoffen kann, die Flotte der strategischen Atom-U-Boote ist.
Auf dem Atompfad
In der zweiten Amtszeit Putins war die Notwendigkeit, die alternden strategischen Atom-U-Boote (SSBN) der Klassen »Delta III« (in den späten 1970er Jahren gebaut) und »Delta IV« (in den späten 1980er Jahren gebaut) zu ersetzen, als dringend und massiv wahrgenommen worden. Folglich war das Projekt zur Entwicklung und zum Start der U-Boote der »Borej«-Klasse (Projekt 955) der teuerste Einzelposten im Rüstungsprogramm bis 2020. Das erste U-Boot war 1996 auf Kiel gelegt worden, zwei weitere 2004 und 2006. Diese drei Schiffe (die »Jurij Dolgorukij«, die »Aleksandr Newskij« und die »Wladimir Monomach«) wurden 2013 und 2014 in Dienst gestellt. Fünf weitere Schiffe wurden zwischen 2012 und 2016 auf Kiel gelegt. Diese Verzögerungen hatten eine endgültige Indienststellung für die Marine erst 2023 erwarten lassen. Weitere Pläne sehen noch zwei Schiffe der »Borej«-Klasse vor, die bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts fertiggestellt werden sollen, wenn das letzte Schiff der »Delta IV«-Klasse außer Dienst gehen soll. Das Hauptproblem dieses langfristigen Projekts waren nicht die Schiffe an sich, sondern hing mit der ballistischen Rakete vom Typ »Bulawa« zusammen (NATO-Code: SS-N-32; GRAU-Code [des russischen Verteidigungsministeriums]: 3M30), die eine bunt gescheckte Testbilanz aufweist und erst im Juni 2018 endgültig zum Einsatz zugelassen wurde – nach einem salvenartigen Start von vier Raketen von der »Jurij Dolgorukij«, dem ersten U-Boot der »Borej«-Klasse.
Diese kostspielige Aufrüstung des maritimen Teils der nuklearen Triade Russlands stellt für die globale strategische Stabilität kein Problem dar, und auch keine Beschleunigung des Rüstungswettlaufs. Mit der atomgetriebenen »Poseidon« ist es allerdings eine andere Geschichte. Dieses unbemannte Unterwassergefährt soll eine Reichweite von 10 000 Kilometern haben und mit einem Sprengkopf von 10 Megatonnen bestückt werden, was es zu einer neuen Klasse strategischer Waffensysteme macht. Es sind nur fragmentarische und verwirrende Informationen zu dieser Unterwasserdrohne verfügbar, so dass sogar zweifelhaft ist, ob der geplante Atomantrieb realisierbar sein wird. Gleichzeitig wird wild über Geschwindigkeit, Reichweite und das Navigationssystem spekuliert. Immerhin gibt es eine Information, die relativ solide ist: Das Trägerschiff des Gefährts soll die »Belgorod« sein, ein U-Boot, das 1992 seinen Dienst aufnahm, zusammen mit ihrem Schwesterschiff »Kursk« (die im August 2000 bei einem tragischen Unfall verloren ging). Die »Belgorod« wurde 2012 zu einem U-Boot für »Sonderzwecke« umkonzipiert und im April 2019 schließlich fertiggestellt; die Indienststellung wird 2020 erwartet. Dieses Projekt wird, wenn es erfolgreich ist, eine neue, hochriskante Dimension in einem atomaren Rüstungswettlauf eröffnen.
Das Verschwinden der Schlachtschiffe
Große Geschwader großer Schiffe sind ein höchst wichtiger Bestandteil des russischen strategischen Wunschdenkens, ganz wie die Paraden und das Flaggezeigen. Diese Sehnsucht dürfte aber über viele künftige Jahre hinweg unerfüllt bleiben, da die Zahl einsatzbereiter Überwasser-Kampfschiffe wohl abnehmen wird. Der Plan, einen atomaren Volldeck-Flugzeugträger zu bauen, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Die »Admiral Kusnezow«, der einzige Flugzeugträger der russischen Marine, erlebt nach der ruhmlosen Entsendung ins östliche Mittelmeer Ende 2016 langwierige Reparaturen. Das Versprechen, eine Reihe von amphibischen Angriffsschiffen zu bauen – das nach der Entscheidung Frankreichs vom Herbst 2014 erfolgte, zwei Hubschrauberträger der »Mistral«-Klasse nicht an Russland auszuliefern –, wurde klammheimlich wieder zurückgenommen. Der Atomkreuzer »Pjotr Welikij« (dt.: »Peter der Große«) ist mehr als reif für eine Überholung, die Modernisierung des Schwesterschiffs »Admiral Nachimow« schreitet nur mit Verzögerungen voran, während zwei weitere Schiffe dieser Klasse zur Verschrottung außer Dienst gestellt wurden. Der Kreuzer »Moskau«, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte ist in Reparatur, ihr Schwesterschiff »Warjag«, das Flaggschiff der Pazifikflotte, ist als nächstes an der Reihe. Die Zeitpläne für diese Reparaturen sind durcheinandergeraten, weil das größte Trockendock, der PD-50, im November 2018 nach einem ungeschickten Auslaufmanöver der »Admiral Kusnezow« gesunken ist. Ein Ersatz ist nicht abzusehen.
Kreuzer mögen vor allem gut dazu taugen, Flagge zu zeigen, doch was die russische Marine wirklich braucht, und wo sie kritische Defizite feststellen wird, ist die Fähigkeit, amphibische Operationen durchzuführen. Die Intervention in Syrien hat einen großen Bedarf an der Lieferung großer Nachschubmengen erzeugt, und die sieben alternden Landungsschiffe der Schwarzmeerflotte (die beiden ältesten der Mitte der 1960er Jahren gebauten »Alligator«-Klasse und das 1990 in Dienst gestellte jüngste der »Roputscha«-Klasse bzw. des »Projekts 775«) sind in eine ununterbrochene Shuttle-Operation eingebunden, die sie aufs Extremste an ihre Leistungsgrenze bringt. Zwei genauso alte Landungsschiffe der Nordmeerflotte (der »Roputscha«-Klasse, Mitte der 1970er Jahre gebaut) zeigten beim Manöver »Wostok-2018« (dt.: »Osten 2018«) bemerkenswerte Leistungen, als sie eine Kompanie Marineinfanteristen die ganze Strecke von Seweromorsk (Gebiet Murmansk) nach Tschukotka brachten. Die Außerdienststellung dieser Arbeitspferde wird aber wohl kaum bis über Mitte des nächsten Jahrzehnts hinausgezögert werden können. Erst ein Landungsschiff der »Iwan Gren«-Klasse wurde 2018 nach 14 Jahren Bauzeit in Dienst gestellt. Das Schwesterschiff soll 2019 folgen, während zwei weitere im April 2019 auf Kiel gelegt wurden. Für die Vernachlässigung dieser so äußerst wichtigen Komponente der Marine lässt sich keine strategische Begründung finden. Der Rückgang der amphibischen Potentiale ist somit vorgegeben.
Der Umstand, dass der Plan zum Bau einer Reihe von Zerstörern der »Lider«-Klasse auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, bedeutet, dass nun die Fregatten der »Gorschkow«-Klasse, von denen das erste 2018 in Dienst gestellt wurde, die größten der neueren Kriegsschiffe sind (das zweite soll 2019 folgen, das dritte 2022, während zwei weitere 2019 auf Kiel gelegt wurden). In einer vereinten Einsatzflottille, beispielsweise um einen »Mistral«-Hubschrauberträger gruppiert, hätten diese Schiffe nützliche Verbände sein können. Ein einzelnes Schiff allerdings kann nur begrenzt Aufgaben übernehmen, vor allem Raketenangriffe auf das Festland. Einige modifizierte Versionen von Korvetten der »Stereguschtschij«-Klasse und der »Karakurt«-Klasse sind im Bau und die Hauptstärke dieser »Moskitoflotte« liegt in ihrer Fähigkeit, lenkbare Langstreckenraketen vom Typ »Kalibr« (NATO-Code: SS-N-27) zu starten. Dieselgetriebene U-Boote der »Warschawjanka«-Klasse sind ebenfalls mit diesem Raketentyp ausgestattet. Die Schwarzmeerflotte wurde von 2015 bis 2017 um sechs dieser relativ kostengünstigen Schiffe erweitert. Sechs weitere wurden für die Pazifikflotte in Auftrag gegeben. Angesichts schrumpfender Geschwader wird diese Fähigkeit, aus großer Entfernung (womöglich ohne den Hafen zu verlassen) Raketenangriffe auf das Festland auszuführen, von den Spitzen des Regimes in Russland als wichtigste Funktion der Marine betrachtet, die in Syrien eingehend getestet wurde.
Schwerer See entgegen
Ungeachtet aller Probleme beim Schiffsbau, bei der Wartung und der Finanzierung wird die russische Marine in den kommenden Jahren die Kontrolle der NATO über die wichtigsten Verbindungslinien herausfordern, und zwar auf drei Arten, denen nur schwer begegnet werden kann. Die erste besteht in einem Ausbau der unterseeischen Fähigkeiten, vor allem, wenn die Atom-U-Boote der »Jasen«-Klasse ihren Dienst aufnehmen (trotz der Verzögerungen aufgrund der nicht näher benannten Probleme mit der »Sewerodwinsk«, mit deren Bau 1993 begonnen und die Ende 2013 in Dienst gestellt wurde). Die »Kasan« soll die Nordmeerflotte ab 2019 verstärken, fünf weitere Schiffe sind in Bau. Die nächste Generation der Atom-U-Boote der »Husky«-Klasse wird kaum vor Ende des nächsten Jahrzehnts einsatzbereit sein, doch dürfte die Kombination aus atom- und dieselgetriebenen Mehrzweck-U-Booten (unter anderem der »Lada«-Klasse) eine ernste Bedrohung für die Schifffahrt des Westens im Nordatlantik sowie in anderen Regionen darstellen.
Die zweite Herausforderung besteht in den Hyperschall-Waffensystemen, mit deren Stationierung Russland Mitte des kommenden Jahrzehnts beginnen könnte. Lässt man einmal die politische Kraftmeierei und die Übertreibungen der Propaganda beiseite, ist es dennoch möglich, dass Russland bei der Entwicklung von Hyperschalltechnologien einen verwertbaren Vorsprung erreicht hat. Zudem könnte die Einführung von Antischiffsraketen des Typs »Zirkon« (NATO-Code: SS-N-33; GRAU-Code: 3 M 22), die 2017 und 2018 erfolgreich mit landgestützten Startvorrichtungen getestet wurden, erhebliche Auswirkungen auf die Taktiken der Seekriegsführung haben. Die Verwundbarkeit von großen Überwasserschiffen gegenüber diesen Raketen könnte ein Ausmaß annehmen, durch das die Stationierung dieser wertvollen Aktivposten der Marine in umstrittenen Gewässern wie dem Schwarzen Meer oder der Ostsee von den Kommandostrukturen der USA und der NATO als ein zu großes Risiko wahrgenommen werden könnte.
Die dritte Herausforderung liegt in Russlands zunehmender Fähigkeit, Abwehr- und Antischiffsraketen zu integrieren und auf See weitreichende sogenannte Area Denial-Zonen um die Krim, die Exklave Kaliningrad oder die Kola-Halbinsel herum zu errichten. Eine wirksame Integration von Elementen wie den Boden-Luft-Raketen vom Typ S-400 und den »Bastion«-Raketensystemen zur Verteidigung der Küsten erfordert jedoch eine größere Interoperabilität und eine bessere Zielgenauigkeit auf langen Strecken, als die Streitkräfte Russlands derzeit herstellen können. Somit dürften die angestrebten »Schutzhauben« in näherer Zukunft für »Nadelstiche« verwundbar bleiben. Die sich anhäufenden Probleme im russischen Weltraumprogramm könnten dazu führen, dass die Netze zur Kommunikation und Satellitenaufklärung, die für die Leistung moderner Waffensysteme entscheidende Bedeutung haben, zusammenbrechen.
Schlussfolgerungen
Die zügige Ausweitung einiger Bereiche der Kampfbereitschaft der russischen Marine erfolgt parallel zu einem Niedergang anderer Fähigkeiten, so dass sich die Situation in erheblichem Maße unausgewogen entwickelt und ungeeignet erscheint, die Bandbreite der gestellten Aufgaben zu bewältigen. Die hohe Intensität der Manöver und die langwierige Stationierung in entfernten Regionen führen zu einer technischen Überlastung vieler Schiffe, was die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Unfälle erhöht. Die strategischen Anforderungen an die überlasteten Flotten, die die Bereitschaft demonstrieren sollen, der wahrgenommenen Bedrohung durch die USA und die NATO an vier voneinander getrennten Schauplätzen zu begegnen (Arktis, Ostsee, Pazifik und Schwarzes Meer), nehmen weiterhin zu. Hieraus erwächst die Notwendigkeit und Gewohnheit, größere Risiken als der Gegner einzugehen. Ein drastischer Schritt könnte hier sein, dass Manöver mit Kampfschiffen wieder mit taktischen Atomwaffen an Bord durchgeführt werden, die seit den frühen 1990er Jahren ausgemustert und zentral eingelagert wurden.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder