Einleitung
Tiefgreifende Veränderungen im Gesundheitswesen sind ein weltweiter Trend (Currie, Spyridonidis 2016). Die Dominanz von Managerialismus und den Marktprinzipien der Regulierung und Finanzierung im Gesundheitswesen – im Rahmen einer neoliberalen Politik – werden von Sozialwissenschaftlern als allgemeine weltweite Entwicklungstendenz anerkannt (Martin et al. 2015: 378). Internationale Untersuchungen haben gezeigt, wie New Public Management-Reformen zur Entstehung verschiedener »hybrider« Formen des öffentlichen Sektors, so zur Etablierung von Quasi-Märkten und zu Behörden mit Einnahmen aus privater Hand, führen (Denis et al. 2015: 273). Die Studien zeigen, dass die jüngsten Reformen der öffentlichen Dienstleistungen die Grenzen zwischen den zuvor voneinander abgegrenzten privaten und öffentlichen Einrichtungen auflösen und zu einer Erweiterung von Werten, Logiken und Organisationsprinzipien im Gesundheitswesen führen (ibid.: 274). Vor diesem Hintergrund muss man das russische Gesundheitswesen (und seine Transformation) betrachten. Das längerfristige Fehlen autonomer Berufsverbände (Brown 1987) und die Dominanz der staatlichen Regulierung machen den Fall des russischen Gesundheitswesens jedoch sehr besonders.
Gesundheitsversorgung in der Sowjetunion
Eine weitere Besonderheit im Zusammenhang mit den im Folgenden genauer beschriebenen Reformen des russischen Gesundheitswesens ist ihr Ausgangspunkt: das in der Sowjetzeit etablierte und praktizierte sogenannte Semaschko-System der Gesundheitsversorgung. Das von Nikolai Semaschko (von 1918 bis 1930 Volkskommissar für Gesundheit der RSFSR) eingeführte Modell hatte zum Ziel, den allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, und zeichnete sich durch die Dominanz staatlich finanzierter medizinischer Einrichtungen, durch angestelltes Gesundheitspersonal und durch einen ausgedehnten staatlichen Verwaltungsapparat aus (Sheiman et al. 2018: 209). Es handelte sich um ein mehrstufiges System mit Krankenhäusern auf Land-, Landkreis-, Stadt-, Regions- und föderaler Ebene – ergänzt durch zahlreiche Spezialkliniken –, das durch Überweisungen von einer Ebene zur nächsten koordiniert wurde (Sheiman, Shevski 2014:130). Wie die anderen Bereiche des allmächtigen Sowjetstaats gilt sein Gesundheitswesen in Bezug auf Regulierung und Versorgung als besonders stark zentralisiert (Yonger 2016: 1086).
Zu Beginn der Sowjetzeit zeichnete sich das Gesundheitssystem durch einen Mangel an modernen Geräten, Medikamenten und Verbrauchsmaterialien sowie durch überfüllte Stationen und spärliche Annehmlichkeiten in den Krankenhäusern aus (Paton 1989: 45). Sozialwissenschaftler kritisierten das sowjetische Gesundheitswesen für »mangelnde Anreize, eine deformierte Struktur der stationären Versorgung, für die Dominanz der Verwaltung gegenüber dem Management und für das Bestreben, durch zentrale Verwaltungsinstrumente Zusammenschlüsse zu fördern« (Younger 2016: 1086). Die Perestroika leitete einen Wandel des Gesundheitswesens ein.
Umgestaltung in den 1990er Jahren
In den 1990er Jahren führte die von Veränderungen und Transformationen geprägte Situation zu Besonderheiten bei der Umgestaltung des Gesundheitswesens. In dieser Zeit kam es zu einer starken Kommerzialisierung der Gesundheitsdienstleistungen, mit der Entstehung von Privatkliniken und mit kostenpflichtigen Dienstleistungen in den vom Staat getragenen Einrichtungen. Der institutionelle Wandel vollzog sich in dieser Zeit im Allgemeinen durch Prozesse, die als »chaotische Privatisierung und Dezentralisierung der Zuständigkeit für das soziale Wohlergehen« (Jäppinen et al. 2011: 2–3) bezeichnet werden können.
Die entscheidenden Formen der Umstrukturierung in dieser Zeit waren die Liberalisierung und Internationalisierung des Gesundheitswesens. Die ökonomische Liberalisierung wurde im Gesundheitswesen insbesondere durch die Reformen zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung und die Einführung des Modells einer obligatorischen Krankenversicherung im Jahr 1993 verwirklicht (Younger 2016: 1087). Dieses Modell wurde als Marktmechanismus eingeführt – die staatliche Regulierung des Gesundheitssektors wurde verringert –, was die bedeutenden Mängel der Gesundheitsversorgung in vielerlei Hinsicht nicht ausgleichen konnte (Twigg 1998). Gleichzeitig trieb der Staat den Prozess der Internationalisierung voran: durch die Teilnahme an verschiedenen internationalen Programmen und die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen.
Durch den Umbau des sozialen Sicherungssystems in den 1990er Jahren kam es in Bezug auf die Qualität und Zugänglichkeit der sozialen Dienstleistungen im Allgemeinen und der Gesundheitsdienstleistungen im Speziellen zu extremer Ungleichheit. Diese Fragmentierung führte zu neuen Formen der sozialen Ungleichheit, die jedoch auf gesamtstaatlicher Ebene nicht immer erkannt wurden (Cook 2017: 13). Außerdem entstanden neue regionale Unterschiede in der Zugänglichkeit und Qualität der Gesundheitsdienstleistungen (Shishkin et al, 2017: 9). Um diese Herausforderungen zu bewältigen, führte der Staat nach der Jahrtausendwende eine Reihe neuer Reformen ein, die von Sozialwissenschaftlern als »die etatistische Wende in der russischen Sozialpolitik« (Cook 2011) bezeichnet werden.
Reformen seit den 2000er Jahren
Der politische Kurs wandelte sich also seit 2006 von einem liberalen zu einem stärker »etatistischen«. Der Staat begann, seine Verantwortung für die öffentliche Gesundheit und die Verbesserung der Gesundheitsdienstleistungen explizit zu bekunden und zu betonen. Im Jahr 2006 wurde das »Nationale Schwerpunktprojekt ›Gesundheit‹« initiiert, das dem Gesundheitssystem mehr finanzielle Mittel einbrachte und das darauf abzielte, die Qualität und Zugänglichkeit der Gesundheitsdienstleistungen, die materielle medizinische Versorgung und die Arbeitsbedingungen des medizinischen Personals zu verbessern. Das Projekt wurde bereits mit vielzähligen Initiativen auf gesamtstaatlicher und regionaler Ebene in die Tat umgesetzt; die Diskussion darüber und die Umsetzung laufen jedoch weiter (Ministry of Health 2018). Obwohl sich sowohl die Regierung als auch die regionalen Behörden häufig auf dieses Bündel politischer Maßnahmen beziehen, gibt es keinen klaren Bezugsrahmen für die Umstrukturierung des Gesundheitswesens, und die Ergebnisse der Reform sind je nach Region, Bereich des Gesundheitswesens und medizinischem Fachgebiet sehr unterschiedlich.
Zu Beginn der 2010er Jahre wurde das »Nationale Schwerpunktprojekt ›Gesundheit‹« durch ein neues Programm zur »Modernisierung« ergänzt. Dieses wurde zwischen 2011 und 2013 auf regionaler Ebene eingeführt, um folgende drei Hauptziele zu erreichen: Verbesserung der materiellen und technischen Ausstattung von Gesundheitseinrichtungen, Implementierung von Informationssystemen und Einführung von Standards für die medizinische Versorgung. Diese Maßnahmen zielten formal auf die technische Modernisierung unter anderem der medizinischen Versorgung in Russland ab und wurden in der Praxis durch zusätzliche staatliche Zuschüsse an öffentliche Einrichtungen – die für den Kauf neuer Geräte und die Erhöhung der Gehälter der Bediensteten vorgesehen waren – umgesetzt.
Eine weitere wichtige institutionelle Veränderung der vergangenen Jahre war die Modernisierung der obligatorischen Krankenversicherung zwischen 2011 und 2015 (Federal Law 2010). Im Jahr 2015 gingen alle Einrichtungen des Gesundheitswesens zur Finanzierung aus einer Hand über: Die obligatorische Krankenversicherung ist nun allein für die Finanzierung der Gesundheitseinrichtungen zuständig, während es zuvor ergänzende Haushaltzuschüsse gegeben hatte (Shishkin et al. 2015). In einigen Fällen führte die neue Regelung zu einer unzureichenden Finanzierung, da die Versicherungstarife nicht auf Grundlage einer ökonomischen Analyse und der zu erwartenden erforderlichen Kosten, sondern nach dem Umfang der Vorjahresfinanzierung festgelegt werden. Im Zusammenhang damit sind die konkreten Behandlungskosten für eine bestimmte Erkrankung je nach Region und Einrichtung sehr unterschiedlich hoch. Das derzeitige System liefert weder eine Informations- noch eine methodologische Grundlage für eine seriöse Einschätzung akzeptabler Kostenunterschiede (Shishkin et al. 2016: 51).
Bewertung der Ergebnisse durch Bevölkerung und Experten
Eine Analyse des Lewada-Zentrums aus dem Jahr 2016 hat gezeigt, dass die »Modernisierung« des Gesundheitswesens in Verbindung mit der Einführung von Standards und der Umstellung auf die Finanzierung aus einer Hand eine Reihe unbeabsichtigter Folgen mit sich gebracht hat, so Kürzungen im staatlichen Gesundheitswesen und Personalabbau. Außerdem haben sich die Spannungen zwischen den Anforderungen bzw. Erwartungen der Patienten und den Vorgaben für die staatliche Gesundheitsversorgung verschärft, sodass es für die medizinischen Fachkräfte schwierig ist, dazwischen zu navigieren (Levada-center 2016: 4). Sowohl die russischen Patienten als auch die im Gesundheitswesen Beschäftigten bewerten die Ergebnisse der Reformen negativ (vgl. Grafiken 1–3 und Tabelle 1 auf S. 6–8). Sie beklagen insbesondere, dass es zu einer schlechteren Finanzierung des Gesundheitswesens, zu einer Zunahme der Arbeitsbelastung für Ärzte, zum Abbau von Einrichtungen und Personal und zu weiteren Schwierigkeiten gekommen sei (Levada-center 2016).
Auch Gesundheitsexperten schätzen die Ergebnisse der jüngsten Reformen recht pessimistisch ein. Sie äußern die Ansicht, dass die »Reformen, die darauf abzielten, die Effektivität des Gesundheitswesens zu steigern, die Infrastruktur zu stärken, die Aufenthaltsbedingungen in medizinischen Einrichtungen für die Patienten zu verbessern, die Qualität der medizinischen Versorgung und die öffentliche Gesundheit zu verbessern, ihre Ziele nicht erreicht haben« (Rugol' et al. 2018: 2).
Einschätzung der Reformen vor dem Hintergrund längerfristiger politischer Trends
Es ist offensichtlich, dass die Reformen der Gesundheitsdienstleistungen in Russland den Logiken der Umstrukturierung im sozialen Bereich seit der Perestroika unterworfen waren. In den 1990er Jahren kam es zu einer Kommerzialisierung; Gesundheitsdienstleistungen wurden zu einem wichtigen Bestandteil des Gesundheitsmarktes. Die Wirtschaft befand sich im Abschwung, und es kam zu Prozessen der »Schattenkommerzialisierung« (Cook 2014). Dann die erwähnte »etatistische« Wende: Der Staat spielte nun eine größere Rolle bei der Regulierung und Finanzierung, insbesondere übrigens der Bereiche, die direkt mit der Geburtenrate zusammenhingen. Besonders Mutterschutzleistungen rückten in den Fokus der staatlichen Bemühungen, da dieser Bereich mit demografischen Konzepten und Bevölkerungswachstum verknüpft ist.
Im Gesundheitsbereich spiegelten sich also die wichtigsten politischen Trends der Zeit wider. Analysiert man die praktischen Folgen der Veränderungen im Gesundheitswesen – inklusive der Veränderungen durch die formal »etatistische« Reform –, zeigt sich eine längerfristige Tendenz zu einer tiefgreifenden Neoliberalisierung, insbesondere wenn man die Kürzungen im Gesundheitswesen und die Implementierung der Marktlogik betrachtet.
Widersprüchliche Ergebnisse
Einerseits gibt es technische Fortschritte in der Gesundheitsversorgung, das Leistungsspektrum hat sich erweitert und die Qualifikation des medizinischen Personals steigt – insbesondere in großen Krankenhäusern mit Hightechmedizin, die sich überwiegend in den regionalen Zentren befinden. Andererseits ist der Zugang zu den medizinischen Möglichkeiten für Patienten in abgelegenen Gegenden eingeschränkt: Sie müssen sich entweder ohne Wahlmöglichkeit an Einrichtungen mit einem geringen Leistungsspektrum wenden oder weite Wege auf sich nehmen, um alternative Einrichtungen zu erreichen.
Außerdem haben sich die Arbeitsbedingungen für die im Gesundheitswesen Beschäftigten verändert, und die formellen und informellen Regeln für die Berufspraxis sind komplizierter geworden. In der Praxis führt die statistisch ermittelte Reduzierung von Krankenhausbetten und -personal (Ministry of Health 2015) zu einer höheren Arbeitsbelastung für Ärzte, Hebammen, Pflegekräfte und Arzthelfer. Es besteht also ein Widerspruch zwischen den formal artikulierten politischen Zielen und den tatsächlichen Ergebnissen. Auch Kulmala (et al.) weisen darauf hin, dass »eine Politik auf gesamtstaatlicher Ebene, die auf den ersten Blick neoliberal oder etatistisch erscheint, auf lokaler Ebene ganz anders wirken kann« (Kulmala et al. 2014: 540).
Fazit
Im Ergebnis haben die im vorliegenden Beitrag beschriebenen Reformen dazu geführt, dass sich die Strukturen der Gesundheitsdienstleistungen seit der Sowjetzeit verändert haben; das aktuelle System weist jedoch immer noch einige Aspekte des Gesundheitssystems jener Zeit auf. Insbesondere leidet das medizinische Personal nach wie vor unter einem erheblichen zu betreibenden bürokratischen Aufwand (Barskova et al. 2018; Levada-Center 2016), und das Gesundheitssystem wird immer noch zentral reguliert – nicht durch einen Berufsverband, sondern durch staatliche Institutionen unter der Leitung des Gesundheitsministeriums. Aus Sicht der Patienten sind die Ergebnisse der mehrstufigen Reform des russischen Gesundheitswesens ebenfalls ambivalent. Einerseits haben sich besonders für diejenigen, die in großen Städten leben, die Wahlmöglichkeiten erhöht. Andererseits hat sich die Ungleichheit beim Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung verschärft, und auch das Problem informeller Zahlungen ist in vielen Bereichen noch nicht gelöst.
Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Hinz