Russland: Neue Regierung, alte Probleme

Von Vladimir Gel’man (Europäische Universität in St. Petersburg/Universität Helsinki)

Im Januar 2020 hat Wladimir Putin die Regierung unter Ministerpräsident Dmitrij Medwedew entlassen und deren Führung neu besetzt. Es wurde nicht nur Michail Mischustin zum neuen Ministerpräsidenten ernannt, sondern auch rund die Hälfte der Kabinettsposten neu besetzt. Gehen mussten umstrittene Kabinettsmitglieder wie der stellvertretende Ministerpräsident Witalij Mutko (verantwortlich für eine Reihe von Dopingskandalen im russischen Sport) und Kulturminister Wladimir Medinskij, der offen historische Wahrheiten leugnet und patriotische Mythen förderte, um das Bild von Russland als Großmacht zu polieren. Die neuen Kabinettsmitglieder sind eher Technokraten und jünger als ihre Vorgänger, doch hat keiner der Beobachter groß die Hoffnung geäußert, dass die neue Regierung politische Erfolge erzielen werde. Inwieweit ist diese Skepsis angebracht, und was hat Russland durch diese Veränderungen zu erwarten?

Seit der Sowjetära schon hat das Ministerkabinett in Russland nur wenig Autonomie gegenüber den eigentlichen Machtzentren erkennen lassen, sei es nun das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei oder später die Präsidenten Russlands und ihre Präsidialadministration. Die russische Regierung fungierte – mit einigen wichtigen Ausnahmen – meist als Teil des Staatsapparates und hatte die Aufgabe, die Politik der Führung im Innern umzusetzen (vor allem im Bereich der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung). Zwar haben einzelne Minister aufgrund persönlicher Verbindungen und politischer Patronage mitunter eine beträchtliche Macht gehabt, doch ist die Regierung insgesamt als kollektives Gremium sowohl politisch als auch institutionell seit langem eher schwach. Die Mitglieder des Kabinetts bilden kein geschlossenes Team, sie werden individuell vom Präsidenten ernannt, oft ohne Berücksichtigung der Vorstellungen des Ministerpräsidenten. Hinzu kommt, dass die für Verteidigung, Sicherheit, Inneres und auswärtige Angelegenheiten zuständigen Minister direkt dem Präsidenten unterstehen, und nicht dem Ministerpräsidenten. Eine Reihe stellvertretender Ministerpräsidenten ist für die Koordinierung der Arbeit von unterschiedlichen Behörden zuständig und soll die Umsetzung der staatlichen Programme und der vom Präsidenten initiierten Richtlinien beaufsichtigen. Im Kabinett Medwedew hatte es zehn stellvertretende Ministerpräsidenten gegeben, und nur einer von ihnen war gleichzeitig auch Minister, in diesem Fall Finanzminister. Mischustin hat die Zahl seiner Stellvertreter auf neun reduziert, von denen allerdings keiner einen Ministerposten innehat. Angesichts dieser Komplexität erscheint die Regierung eher ein Konglomerat unterschiedlicher Interessengruppen, in dem sich der Einfluss der diversen formalen und informellen politischen und wirtschaftlichen Akteure widerspiegelt. Mischustins Kabinett ist da keine Ausnahme, da viele Mitglieder als Protegés des Ministerpräsidenten oder aber des einflussreichen Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin gelten.

Die Regierung Medwedew hat sich ihre Absetzung aufgrund ihrer Leistungen verdient. Das Wirtschaftswachstum bleibt schleppend, die Realeinkommen der Bevölkerung in Russland stagnieren seit mehreren Jahren, und Putins wichtigste politische Initiative – nämlich die Entwicklung Russlands durch staatliche Finanzspritzen für zahlreiche »nationale Projekte« anzuregen – ist mangelhaft umgesetzt worden. In Wirklichkeit sind riesige Summen, die hierfür vorgesehen waren, nicht ausgegeben worden. Hierin ist der Grund zu sehen, warum Andrej Beloussow, Putins oberster Wirtschaftsberater und dezidierter Verfechter einer vom Staat geführten und dirigierten Wirtschaftsentwicklung, auf den Posten des für die Wirtschaftspolitik zuständigen stellvertretenden Ministerpräsidenten gehoben wurde. Einigen Quellen zufolge war Mischustin von dessen Ernennung, milde gesagt, nicht begeistert. Das Problem ist, dass Beloussows expansionistische Vorstellungen von Wirtschaftspolitik in starkem Kontrast zu Verfechtern einer konservativen Fiskalpolitik stehen, etwa zu Finanzmister Anton Siluanow und zur Chefin der russischen Zentralbank, Elwira Nabiullina. Es ist in Russland also kaum eine konsistente Wirtschaftspolitik zu erwarten.

In vielen anderen Politikbereichen scheinen die Personalwechsel nur eher kosmetischer Natur zu sein, da einige Minister durch ehemalige Untergebene aus der zweiten Reihe ersetzt wurden. So wurde die oft kritisierte Gesundheitsministerin Veronika Skworzowa, die für die notorisch ineffiziente »Optimierung« der Krankenhäuser sowie für Skandale im Bereich der Medikamentenversorgung verantwortlich war, von Michail Muraschko abgelöst, dem bisherigen Leiter des Föderalen Dienstes für die Aufsicht im Gesundheitswesen, einer eng mit dem Ministerium verbundenen Behörde. Ähnlich gelagert ist die Ablösung von Olga Wassiljewa, der ultrakonservativen und der Orthodoxie zugeneigten Bildungsministerin, die ihr Amt an Sergej Krawzow abgab. Dieser hatte zuvor den Föderalen Aufsichtsdienst für Bildung und Wissenschaft geleitet und sich Plagiatsvorwürfen in Bezug auf seine 2007 verteidigte Doktorarbeit gegenübergesehen. Überhaupt steht die Integrität der neuen Regierung in Frage, da Mischustin oder seine Minister in vielen Fällen in zweifelhafte Geschäftspraktiken verwickelt waren (so sind die Frau und die Schwester des Ministerpräsidenten äußerst wohlhaben, wobei die Quellen ihres Reichtums unerklärbar bleiben). Die neue Regierung hat, kurz gesagt, das Erbe vieler alter Untugenden ihrer Vorgängerin im Gepäck.


Mischustins politisches Programm lässt sich mit einer »3-D-Lösung« umreißen. Wie Medwedew favorisiert er Deregulierung, Digitalisierung und Dezentralisierung der russischen Wirtschaft als Instrumente, mit denen die Regierungsführung in Russland qualitativ verbessert werden soll. Die Verfechter dieser Ansätze mögen zwar vernünftig klingen, doch dürfte die politische Wirksamkeit ohne ein viertes D nur begrenzt sein, da ganz oben auf der Tagesordnung nämlich Demokratisierung stehen sollte. Derart gewagte politische Schritte fallen jedoch nicht unter das Mandat dieser technokratischen Regierung, und da politische Reformen fehlen, ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung Rechtsstaatlichkeit und Verantwortlichkeit fördern wird. Diese Entkoppelung könnte für die politischen Bestrebungen der Reformer, die weiterhin Putin und dessen Umgebung unterworfen sind, ganz erhebliche Beschränkungen bedeuten.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder


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