Pressemitteilung von Reporter ohne Grenzen zur Berichterstattung zu Covid-19 in Russland

Unabhängige Berichte über Pandemie zulassen

Reporter ohne Grenzen (RSF) ruft die russische Regierung auf, unabhängige Berichterstattung über die Covid-19-Pandemie im Land zuzulassen und Medienschaffende nicht unter dem Vorwand zu verfolgen, gegen angebliche »Fake News« vorzugehen. Mehrere hundert Inhalte wurden mit dieser Begründung seit Beginn der Pandemie bereits gesperrt. Auch der Deutschen Welle warfen russische Politiker vor, Falschinformationen zu verbreiten. Drei Medienschaffende sind in Russland bisher nach einer Infektion mit dem Corona-Virus gestorben.

»Indem die russische Führung versucht, unabhängige Berichte über die Corona-Krise zu verhindern, vergrößert sie nicht nur die Verunsicherung, sondern setzt die Bevölkerung auch realen Gefahren aus«, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. »Nur mithilfe realistischer Zahlen und Beschreibungen der Wirklichkeit können effektive Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Medienschaffenden in dieser Situation mit Gefängnisstrafen zu drohen, ist absolut kontraproduktiv.«

Überwachung hebelt Quellenschutz aus

Der russische Journalistenverband hatte in der vergangenen Woche kritisiert, die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie erschwerten die Arbeit von Medienschaffenden erheblich. In Moskau, St. Petersburg und anderen Städten dürfen die Menschen ihre Wohnungen nur noch verlassen, wenn sie einen digitalen Passierschein in Form eines QR-Codes auf ihrem Smartphone besitzen. Dies sowie der exzessive Einsatz von Gesichtserkennungssystemen zur Durchsetzung von Quarantäne-Vorgaben gefährde den Schutz journalistischer Quellen, so der Journalistenverband.

Ende April hatten sich Journalistinnen und Journalisten in einem offenen Brief über steigenden Druck und Zensur seit Beginn der Corona-Krise beschwert. »Probleme zu benennen, ist ein erster Schritt zu ihrer Lösung. Sie zu verschweigen, verschärft die Schwierigkeiten«, heißt es in dem Schreiben der Vereinigung Syndikat 100. Sie hatte sich Ende Februar auf Initiative der Zeitung Nowaja Gaseta gegründet und vereint unabhängige Medienschaffende aus ganz Russland. Seit dem 5. Mai bietet Syndikat 100 Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit, die Presse anonym über das Fehlen von Schutzausrüstung zu informieren. In mehreren Regionen war medizinischem Personal zuvor verboten worden, sich auf eigene Initiative an die Medien zu wenden.

Für die Verbreitung von „Fake News“ drohen Haftstrafen

Scharfe Kritik übten die Journalistenvereinigungen an der Verschärfung der »Fake-News-Gesetze«, die Präsident Wladimir Putin am 1. April 2020 unterzeichnet hat. Die neuen Bestimmungen sind vage formuliert und verbieten es, wissentlich Falschinformationen über Ereignisse zu verbreiten, die eine Gefahr für die Bevölkerung darstellen, sowie über Reaktionen der Behörden auf solche Ereignisse. Medien drohen dafür Strafen von bis zu fünf Millionen Rubel (ca. 58.000 Euro) bzw. zehn Millionen Rubel (116.000 Euro) im Wiederholungsfall. Einzelpersonen können sogar strafrechtlich belangt und zu bis zu fünf Jahren Haft verurteilt werden (Art. 207.1 und 207.2 russ. Strafgesetzbuch). Zuvor wurde die Verbreitung angeblicher Falschinformationen lediglich als Ordnungswidrigkeit geahndet. Das Oberste Gericht stellte am 30. April klar, strafrechtlich belangt könne nur werden, wer sich darüber im Klaren sei, dass er falsche Informationen verbreite.

Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hatte bereits am 18. März angedroht, Medien, die »falsche Informationen« über die Pandemie verbreiteten, die Lizenz zu entziehen. Ende März richteten sowohl die russische Regierung als auch das Ermittlungskomitee eigene Arbeitsgruppen zum Kampf gegen »Fake News« über die Corona-Pandemie ein. Die russische Generalstaatsanwaltschaft teilte am 22. April mit, sie habe seit Beginn der Pandemie 300 Fälle angeblicher Falschnachrichten auf russischsprachigen Internetseiten ausfindig gemacht, 260 dieser Inhalte seien entfernt oder blockiert worden.

Morddrohungen aus Tschetschenien

Das Mass Media Defense Center, das Journalistinnen und Journalisten in ganz Russland juristische Hilfe bietet, erhielt vom 1. April bis zum 10. Mai mehr als 80 Anfragen von Medienschaffenden im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Covid-19-Pandemie. Das teilte die Leiterin des Zentrums, Galina Arapowa, RSF mit. Dabei gehe es sowohl um angebliche Falschnachrichten als auch um Verletzungen der Privatsphäre oder des Rechts der Medien auf Informationen von staatlichen Stellen.

Mitte April musste die kremlkritische Zeitung Nowaja Gaseta auf Anweisung der Medienaufsicht einen Artikel von ihrer Seite nehmen, der über die Stigmatisierung von an Covid-19 erkrankten Menschen in der nordkaukasischen Teilrepublik Tschetschenien berichtete. Republikchef Ramsan Kadyrow hatte der Autorin des Textes, Jelena Milaschina, unverhohlen mit Gewalt und Mord gedroht. Die 42-jährige Investigativjournalistin war im Februar in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny zusammengeschlagen worden. Mehr als 100 russische Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten forderten in einem offenen Brief staatlichen Personenschutz für die Journalistin. Auch die Europäische Union sowie die Menschenrechtsbeauftragten von Deutschland und Frankreich verlangten von den russischen Behörden, die Drohungen gegen Milaschina aufzuklären und Medienschaffende zu schützen. Kremlsprecher Dmitri Peskow hingegen erklärte, er sehe in den Äußerungen von Kadyrow nichts Besonderes, der Kreml sei für den Schutz von Milaschina nicht zuständig.

Verhöre und gesperrte Nachrichtenseiten

Am 28. April wurde die Journalistin Ludmilla Sawizkaja aus der nordwestrussischen Stadt Pskow wegen eines Artikels auf der Seite Sewero-Sapad MBCh-Media verhört, in dem es um die Ausstattung der lokalen Krankenhäuser ging. Ein viel beachteter Prozess gegen die Pskower Journalistin Swetlana Prokopjewa, der Spionage und die »Rechtfertigung von Terrorismus« vorgeworfen werden, wurde hingegen bis zu einer »Normalisierung der Lage« verschoben.

Ebenfalls am 28. April ließ die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsorkurzzeitig das auf medizinische Themen spezialisierte Portal Vademecum sperren. Grund dafür war ein Artikel über die Abrechnung der Behandlungskosten von mit dem Corona-Virus-Infizierten, den die Generalstaatsanwaltschaft als Falschinformation eingestuft hatte. Die Redaktion belegte in einem offenen Brief ihre Quellen für den Bericht und beklagte Zensur, musste den Artikel jedoch entfernen, damit die Seite wieder entsperrt wurde.

Der unabhängige Sender TVK aus der sibirischen Stadt Krasnojarsk wurde am 23. April aufgefordert, ein satirisches Video über Rentnerinnen zu entfernen, die symbolisch Abbildungen des Corona-Virus und von US-Präsident Donald Trump verbrannt hatten und damit ihre Unterstützung für Präsident Putin ausdrücken wollten. Die Senderleitung erhielt eine Vorladung zur Medienaufsichtsbehörde, die mit einer Strafe von 500.000 Rubel (ca. 5.800 Euro) drohte. Zu den ersten Medien, die angebliche Falschmeldungen entfernen mussten, gehörten Ende März der Radiosender Echo Moskwy und die Nachrichtenseite Goworit Magadan, die über einen Todesfall mit Verdacht auf eine Corona-Infektion berichtet hatte.

Kritik an Berichterstattung der Deutschen Welle

Auch die Deutsche Welle wurde beschuldigt, Falschnachrichten zu verbreiten: Anfang April warf Wassili Piskarjow, Vorsitzender einer Duma-Kommission zur Untersuchung ausländischer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands, dem Sender vor, »die Meinung von Menschenrechtlern der als unerwünscht geltenden Organisation Open Russia« zitiert zu haben. Sie hatten die Fake-News-Gesetzgebung als Einschränkung der Meinungsfreiheit bezeichnet. Auch das in Lettland ansässige Online-Portal Meduzaund Radio Swoboda (der russischsprachige Dienst von RFE/RL) hätten Informationen verbreitet, die nicht den Tatsachen entsprächen, so Piskarjow.

Neben Medien stehen vor allem Blogger und Netzaktivistinnen im Fokus der Behörden. Eine der ersten, gegen die strafrechtlich wegen der Verbreitung angeblicher Falschnachrichten vorgegangen wurde, war Anfang April die St. Petersburger Aktivistin Anna Schuschpanowa. Am 22. April lud die Generalstaatsanwaltschaft Olga Romanowa vor, die im Exil lebende Chefin der NGO Rus sidjaschaja, die sich für Gefangene einsetzt. Es geht um ein Strafverfahren wegen Informationen über gehäuft auftretende Ansteckungen mit Covid-19 in einem Gefängnis in Nordwestrussland.

Drei Medienschaffende an Covid-19 gestorben

Dem russischen Journalistenverband zufolge starben bis zum 5. Mai bereits drei Medienschaffende an einer Covid-19-Infektion, etwa einhundert andere hatten sich angesteckt. Etwa 500 Journalistinnen und Journalisten befänden sich in häuslicher Quarantäne.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Platz 149 von 180 Staaten.

Die Pressemitteilung von Reporter ohne Grenzen vom 13.05.2020 zu Russland ist im Original unter https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/unabhaengige-berichte-ueber-pandemie-zulassen/ zu finden.

Die Redaktion der Russland-Analysen

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