Eine lange Zeit in der Politik

Von Edwin Bacon (University of Lincoln, Vereinigtes Königreich)

Zusammenfassung
Zeit lässt sich in der Politik auf verschiedene Art messen. Während einschneidende Ereignisse in nur kurzer Zeit die politische Landschaft verändern können, zeigt uns Präsident Putin, was er in den vergangenen zwei Jahrzehnten für ein beständiger Staatsführer gewesen ist, was er unter Stabilität versteht, welche Veränderungen er bei den Vorstellungen hinsichtlich der Identität vorgenommen hat, und was Familienwerte damit zu tun haben. Mit Hilfe der Datenbank Worte des Präsidenten, erfahren wir, welche Worte des Präsidenten aktuell Gewicht haben, und welche verschwunden sind.

Kontinuität und Brüche

Dem früheren britischen Premierminister Harold Wilson (der 1964 – 1970 und 1974 – 1976 im Amt war) wird der Satz »eine Woche ist in der Politik eine lange Zeit« zugeschrieben. Wenn eine Woche politisch eine lange Zeit ist, dann sind die zwei Jahrzehnte der bisherigen Ära Putin in Russland ein ganzes Jahrhundert.

Beschäftigt man sich etwas philosophischer mit Wilsons Spruch, sollte die Unterscheidung zwischen kairologischer und chronologischer Zeit beachtet werden. Um es ganz einfach darzulegen: Erstere bezieht sich auf Diskontinuität, letztere auf Kontinuität. Worauf Wilsons berühmter Satz anspielt, ist kairologische Zeit, und zwar insbesondere die Vorstellung, dass innerhalb einer kurzen Zeitspanne, einer Woche, ein Ereignis eintreten kann, das zum Bruch und Wandel einer stabilen Kontinuität führt. Chronologische Zeit hingegen bezieht sich auf die unermüdliche lineare Abfolge von Tagen, Wochen und Jahren.

Bei der Arbeit mit der Datenbank Die Worte des Präsidenten (https://putin.dekoder.org/worte), mit der sich die Worte der Präsidenten Russlands aus 20 Jahren analysieren lassen, ergibt sich ein chronologischer Blick. Wir können vergleichen, was dem russischen Präsidenten zu Beginn des 21. Jahrhunderts wichtig war, und was ihm heute wichtig ist. Das zentrale legitimierende Narrativ der Putin-Jahre trägt zwar die Überschrift »Stabilität«, doch interessiert mich hier viel mehr, was sich verändert hat. In diesem kurzen Beitrag arbeite ich einige Worte des Präsidenten heraus, die aus dem Gebrauch verschwunden sind, wie auch einige derjenigen, die hinzugekommen sind.

Stetige Staatsoberhäupter

Der Umstand, dass Wladimir Putin im modernen Russland derart lang an der Macht oder in dessen Nähe blieb, wäre sehr bemerkenswert, wenn dies in einer Demokratie nach westlichem Muster erfolgen würde. Sämtliche Staats- und Regierungschefs im Westen, die 2000 im Amt waren und sich eine Erwähnung durch den frisch gewählten Präsidenten verdient hatten, sind jetzt von der Bühne verschwunden und werden nur im Falle ihres Ablebens mit einer Äußerung Putins bedacht, wie etwa Jacques Chirac 2019.

Angela Merkel, seit 2005 deutsche Bundeskanzlerin, ist diejenige westliche Regierungschefin, die Putin hinsichtlich ihrer Zeit an der Macht am nächsten kommt. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder wird trotz seiner in den Medien kolportierten Nähe zu Wladimir Putin in den Worten des Präsidenten nicht erwähnt. Merkel, die drei Viertel der Zeit, die von der Datenbank abgedeckt wird, präsent ist, fällt allerdings regelmäßig gegenüber dem französischen Präsidenten ab, rangiert aber fast immer vor dem britischen Premierminister.

Lassen wir allerdings die vier Jahre unberücksichtigt, in denen Dmitrij Medwedew Präsident war und Putin Ministerpräsident (2008 – 2012), könnte man argumentieren, dass Wladimir Putin und Angela Merkel eine ähnlich lange Zeit an der Spitze der Macht waren, Putin 16 Jahre als Präsident und Merkel 15 Jahre als Bundeskanzlerin. Doch selbst dann, wenn wir davon ausgehen, dass beide gleich lang das wichtigste Amt innehatten, bleiben drei wichtige Unterschiede, die bei einem solchen Vergleich zu beachten sind:

  • Zum einen war Putin auch in den Jahren als Medwedews Ministerpräsident wohl der wichtigste Entscheidungsträger in Russland. Seine 16 Jahre als Präsident können durchaus als 20 Jahre an der Macht bezeichnet werden.
  • Zweitens hat Merkel angekündigt, dass sie sich 2021 zurückziehen werde, während Putin versucht, die Verfassung so umzubauen, dass er nach 2024 weitere 12 Jahre Präsident bleiben kann.
  • Drittens ist Merkels Regierungszeit für einen demokratischen Staat außerordentlich lang, während es für einen autoritären Staatsführer nicht ungewöhnlich ist, die Macht derart lang in seinen Händen zu halten. Zu Putins Kollegen im Club namens »20 Jahre und kein Ende in Sicht« gehören u. a. die Staatschefs Emomalij Rahmon in Tadschikistan, Aljaksandr Lukaschenka in Belarus und Baschar al-Assad in Syrien.

Während die langjährigen postsowjetischen Staatschefs Lukaschenka und Rahmon all die Jahre zwar regelmäßig, aber eher weniger prominent in den Reden des russischen Präsidenten Putin Erwähnung fanden, ist Assad dort etwas unstetiger. Er ist kaum Teil der rhetorischen Agenda des Präsidenten gewesen, bis das russische Engagement im Konflikt in Syrien 2014 drastisch zunahm. In den jüngeren Daten zu den Erwähnungen durch Putin nähern sich die drei auf niedrigem Niveau wieder an.

Es ist jedem Demokraten geraten, sich Sorgen zu machen, wenn eine Person zu lang ein Amt innehat, da sich Demokratie auf eine Stabilität der Verfahren stützt, und nicht auf die einer Person. In gefestigten Demokratien wissen die Menschen, wie ihr künftiger Regierungschef gewählt wird, auch wenn bis zum Wahltag ungewiss bleiben sollte, wie der Wählerwille aussieht, dem die Macht innewohnt und der diese verleiht. Autoritäre Regime hingegen machen viel Aufheben über die Stabilität, die der einen Person entspringt, welche die Macht über das Volk ausübt. Allerdings wird diese Stabilität dadurch eingeschränkt, dass nur in diese eine Person investiert wird und deren Abgang letztlich eher zu Krisen aufgrund einer instabilen Nachfolge führt.

Ein stabil besetztes Amt bedeutet darüber hinaus nicht immer auch eine Stabilität der Politik und der Prioritäten. Der abschließende Satz meines jüngsten Buches lautet: »Man sollte nicht heute mit ewig verwechseln.«

Identitätsbildung

Das Projekt Die Worte des Präsidenten bietet Analytikern die Möglichkeit, jene Themen zu finden, die zu Beginn des Jahrhunderts vom Kreml kaum als wichtig registriert wurden, jetzt aber sehr bedeutsam geworden sind. Genauso interessant ist der Vergleich von Begriffen, die widerstreitende Vorstellungen repräsentieren und deren relative Gewichtung sich umgekehrt zu haben scheint, zumindest, wenn es um die Beachtung durch den russischen Präsidenten geht.

Betrachten wir die erste Variante. Welche Themen sind heute im Wortschatz des Präsidenten bedeutsam, während sie vor zwei Jahrzehnten kaum, wenn überhaupt, angesprochen wurden? Ich führe hier zwei Beispiele an, die beide im Zusammenhang mit der sich wandelnden Natur der offiziell vermittelten Identität Russlands stehen.

Das erste ist unkompliziert und vielleicht zu offensichtlich, doch es ist bemerkenswert, dass das Wort »Krim« bis zur Annexion der Halbinsel im Jahr 2014 kaum über die Lippen des Präsidenten kam.

Die Annexion der Krim stellt ein Ereignis dar, durch das sich das Regime grundlegend definiert. Sie ist ein entscheidender Moment, der die Abwendung weg von internationalen Verhaltensregeln besiegelt, welche Russland zunehmend als etwas wahrnahm, das von den Staaten des Westens geschaffen wurde und gegen russische Interessen gerichtet ist.

Das zweite bemerkenswerte Wort, das im Vergleich zu früher stark an Bedeutung gewonnen hat, ist »eurasisch«. Etwa seit Beginn der dritten Präsidentschaft Wladimir Putins 2012 und insbesondere nach der Annexion der Krim war die russische Führung bestrebt, den eurasischen Charakter des Landes zu betonen. Das betraf sowohl die nationale Identität Russlands wie auch – mit der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion 2014 – die wirtschaftliche Ausrichtung.

In den ersten Jahren der Ära Putin war das Eurasiertum das Lieblingsprojekt von rechtsgerichteten russischen Politikern, von denen sich Putin zu distanzieren suchte, da er eine engere Bindung zwischen Russland und dem Westen anstrebte. Erst seit Beginn seiner dritten Amtszeit 2012 rückte der Begriff derart stark in den Vordergrund, dass Aleksandr Dugin, der Erzpriester des Eurasiertums, sogar – und sei es fälschlicherweise – in der führenden US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs als »Putins Hirn« bezeichnet wurde.

Der Beginn von Putins Narrativ über die russische Identität

Bislang ging es um Begriffe, die in früheren Reden des Präsidenten nicht auftauchten, jetzt aber sehr prominent sind. Wie sieht es aber mit Worten aus, die widerstreitende Vorstellungen repräsentieren und deren relative Gewichtung sich im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte in den Prioritäten des Präsidenten umgekehrt zu haben scheint? Hier möchte ich drei interessante Beispiele vorstellen, an denen sich die national-konservative Wende im Diskurs des russischen Präsidenten ablesen lässt.

Im ersten Beispiel geht um eine Frage, die mich bei meinen Arbeiten über den Einsatz von Narrativen in der Politik etliche Jahre interessiert hat. Jede Erzählung hat ihren Anfang. Wo beginnt also Putins Narrativ über russische Identität? Es war einst die Geschichte vom Aufbau eines postsowjetischen Russland und begann demzufolge mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Heute jedoch umfasst und beinhaltet das Narrativ der russischen Identität sehr viel stärker die sowjetische Erfahrung als Großmacht. Das lässt sich unter anderem anhand der Frage aufzeigen, wie häufig der Kalte Krieg und der Große Vaterländische Krieg vom russischen Präsidenten erwähnt werden. Lässt man die Spitzenwerte zu den runden Jahrestagen des Sieges im Zweiten Weltkrieg 2005 und 2015 beiseite, ist es bemerkenswert, dass in den ersten Jahren von Putins Regentschaft der Kalte Krieg stärker im Diskurs des Präsidenten präsent war, während in den letzten Jahren der Große Vaterländische Krieg dominierte, und zwar mit zunehmender Tendenz.

Offen oder bewahrend

Das zweite Beispiel von Konzepten, die beim Präsidenten in ihrer Gewichtung eine Umkehrung erfuhren, bezieht sich auf die allgemeine Trennlinie, die im politischen Diskurs zwischen liberal und konservativ besteht. Während Liberale eher das Individuum hervorheben, betonen Konservative eher die Familie. In Putins frühen Jahren als Präsident wurde das Individuelle (wenn auch nur geringfügig) häufiger erwähnt als die Familie. Heute ist es umgekehrt und die Kluft ist zudem beträchtlich gewachsen. Bezeichnend ist auch, dass der einzige Zeitraum, in dem das Individuum wieder stärker als die Familie in den Vordergrund rückte, in die Amtszeit von Medwedew fällt. Dessen eher liberalere Ausrichtung lässt sich anhand einer Reihe von Suchanfragen in den Worten des Präsidenten feststellen.

Das dritte und letzte Beispiel einer solchen Umkehrung sind einige grundlegende Konzepte zur Richtung, die Russland politisch einschlägt, und hinsichtlich der konservativen Wende im Land: Reform gegenüber Bewahrung des Bestehenden und Stabilität. Auch hier ist die graphische Darstellung des Wortgebrauchs aufschlussreich. Während Reform mit einer klaren Vorstellung einhergeht, liegen die Dinge bei deren Gegenstück nicht so klar auf der Hand. Nach einigen Versuchen in der russischsprachigen Version der Datenbank Die Worte des Präsidenten habe ich zwei Begriffe gewählt, die »Reform« gegenüberstehen, nämlich das Verb »bewahren« und das Nomen »Stabilität«.

Wie bereits erwähnt, ist Stabilität von Anfang an ein Leitmotiv des Putin-Regimes gewesen. Gleichwohl stand Reform in den ersten Jahren des Jahrhunderts sogar noch stärker im Vordergrund als Stabilität, und die Vorstellung des Bewahrens wurde wenig erwähnt. Heute ist die Gewichtung umgekehrt. »Reform« ist auf der präsidialen Agenda weit nach unten gerutscht, »bewahren« ist aufgestiegen und »Stabilität« liegt an der Spitze. Beachtenswert ist auch hier das vertraute Muster von Medwedews Präsidentschaft von 2008 bis 2012, dass die Tendenz bestätigt: Nur in jenen Jahren rückte Reform in den Stellungnahmen des Präsidenten wieder in den Vordergrund.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

  • Edwin Bacon: Inside Russian Politics, London et al., 2017.
  • Bacon, Edwin: Public political narratives: developing a neglected source through the exploratory case of Russia in the Putin-Medvedev era, in: Political Studies, 60.2012, Nr. 4, S. 768–786; https://eprints.bbk.ac.uk/7330/1/7330.pdf.

Bei der Volksbefragung zur Verfassungsänderung stimmten knapp 78 Prozent der Wahlbeteiligten für die Änderung der russischen Verfassung, die es Putin erlaubt bis 2036 im Amt zu bleiben. Die Wahlbeteiligung lag dabei bei über 65 Prozent, so die offiziellen Zahlen des Zentralen Wahlkomitees. Wahlanalysten wie Sergej Schpilkin halten dieses Ergebnis für falsch. Er verweist in seinen Ausführungen auf Anomalien, die sich auf der von dekoder erstellten interaktiven Karte (https://elections.dekoder.org/de/russia/constitution/2020/) nachvollziehen lassen.

 

Multimedia-Special: »20 Jahre Putin«

Das Special 20 Jahre Putin (putin.dekoder.org/worte) ist ein Versuch, Putin zu entschlüsseln – und zwar nicht nur in einem übertragenen Sinne, sondern tatsächlich in einem technischen. Hierzu hat dekoder ein Tool entwickelt, das die Texte der offiziellen Webseite des russischen Präsidenten aufbereitet, und die Häufigkeit der von Wladimir Putin (2000 – 2008 und 2012 – 2020) und Dimitrij Medwedew (2008 – 2012) verwendeten Worte in Grafiken darstellt. Wissenschaftler aus europäischen Universitäten greifen sich einzelne dieser Begriffe heraus und schreiben dazu ihre Beiträge.

Das Special entstand im Rahmen des Projektes »Wissenstransfer hoch zwei – Russlandstudien«, einer Kooperation zwischen der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und dekoder.org. Das Projekt wird von der VolkswagenStiftung finanziell unterstützt.

dekoder und Redaktion der Russland-Analysen

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