Die Regionalwahlen vom 13. September 2020. Weitere Erosion des Parteiensystems und elektoraler Autoritarismus unter Quarantäne-Bedingungen

Von Alexander Kynew (Stiftung Liberale Mission, Moskau)

Zusammenfassung
Die Regional- und Kommunalwahlen vom 13. September 2020 wiesen zwei zentrale Besonderheiten auf. Zum einen hat sich die Tendenz hin zu einer weiteren systemischen Schwächung der Parteien als politische Institution bei einer gleichzeitigen »Sanierung« des Parteiensystems fortgesetzt. Zweitens fanden die Wahlen vor dem Hintergrund drastisch verschärfter Vorschriften für die Registrierung von Kandidaten und unter neuerlichen Einschränkungen des passiven Wahlrechts sowie einer allgemeinen qualitativen Verschlechterung der Prozeduren statt, die zusätzliche Möglichkeiten für administrativen Druck auf Wähler wie auch für Wahlfälschungen schafft. Dadurch wird das politische System noch weiter personalisiert, während die Wahlergebnisse in noch stärkerem Maße den Beschränkungen des politischen Wettbewerbs und administrativem Druck unterworfen werden. Insgesamt waren am 13. September 9.086 verschiedene Wahlen und Referenden angesetzt, unter anderem:
- Nachwahlen zur Staatsduma in vier Direktwahlkreisen;
- In 18 Regionen die Direktwahl des Oberhaupts der Region (in weiteren zwei Regionen – im Autonomen Bezirk der Nenzen sowie dem der Chanten und Mansen – wurde das Oberhaupt unter den vom russischen Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten durch die jeweilige Gesetzgebende Versammlung gewählt);
- 11 turnusmäßige Wahlen des Regionalparlaments;
- Turnusmäßige Wahl des Stadtparlaments in 22 Regionshauptstädten;
- In zwei regionalen Hauptstädten – in Machatschkala und Samara – wurden die Stadtteilräte gewählt, aus denen wiederum per Delegierung die Stadtverordnetenversammlung Machatschkala und die Stadtduma Samara gebildet werden.

Fortgesetzte Erosion des Parteiensystems

Bei wichtigen Wahlen kommt (im Grabenwahlsystem Russlands, Anm. d. Redaktion) immer weniger das Verhältniswahlrecht (Listenmandate) zum Einsatz. Somit schwindet der Anteil der Abgeordneten in den Regionalparlamenten, die über Listen gewählt werden; bei Kommunalwahlen fallen Parteilisten immer häufiger vollständig weg. Amtierende Gouverneure stellen sich zudem vermehrt als parteiunabhängige Kandidaten zur Wahl. Beide Entwicklungen entspringen zweifellos taktischen Überlegungen, die durch rückläufige Umfragewerte für Einiges Russland angetrieben werden. Die »Partei der Macht« erzielt in Wahlkreisen mit Mehrheitswahlrecht erheblich mehr Mandate als über Listen. Folglich wurde der Anteil der Wahlkreise mit Direktmandaten sukzessive erhöht. Bei den Gouverneurswahlen ist es für die Kandidaten zunehmend aussichtsreicher, als »überparteiliche« Kandidaten anzutreten, um unbequeme »Verbindungen« [mit Einiges Russland, Anm. d. Redaktion] zu meiden und unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Die Folgen solcher taktischen Entscheidungen haben allerdings eine strategische Dimension. Sie wirken sich auf das Parteiensystem insgesamt aus und führen zu dessen weiterer Schwächung. Die Staatsmacht demontiert schrittweise die bedeutende Wahlrechtsreform vom Anfang der 2000er Jahre: Seinerzeit war bei Regional- und Kommunalwahlen mit äußerstem Nachdruck die Rolle der Parteien ausgebaut worden. Diese schrittweise Demontage führt zu einer Erosion des Parteiensystems und verstärkter Personalisierung. Unter diesen Umständen dürfte der Wert und die Bedeutung formal registrierter Parteistrukturen (auch jener der »Partei der Macht« Einiges Russland) weiterhin zurückgehen.

Bei den Wahlen vom 13. September nahmen die Segmente, in denen nach Verhältniswahl (Liste) gewählt wurde, weiter ab. Dies betrifft vor allem die Wahlen der Kommunalräte in den Hauptstädten jener Regionen, in denen Proteststimmung und unabhängiges Wahlverhalten am stärksten sind. Dort sind die Umfragewerte für Einiges Russland am niedrigsten, während die Erfolgsaussichten der anderen Parteien bei einer lediglich symbolischen Abstimmung im Listensegment insgesamt größer sind. In 8 der 22 regionalen Hauptstädte, in denen am 13. September Stadtratswahlen anstanden (u. a. in Nowosibirsk und Nischnij Nowgorod), sind Listenmandate gänzlich abgeschafft worden. In den übrigen 14 blieb ein gemischtes Grabenwahlsystem erhalten, wobei in 9 dieser Städte der Anteil der Mandate nach Mehrheitswahlsystem größer ist als jener, die nach dem Verhältniswahlrecht zugeteilt werden. In 11 Regionen fanden Wahlen zu den Regionalparlamenten statt. Dabei hatte es für die Wahl zur Gebietsduma Kostroma zuvor eine Reduzierung des Anteils der Mandate nach Verhältniswahlrecht gegeben.

Auch die Zahl der Gouverneurswahlen, bei denen die rechtliche Möglichkeit geschaffen wurde, als unabhängiger Kandidat anzutreten, ist weiter gestiegen. Dabei wurde dies – wie auch früher schon – nur dort zugelassen, wo das Oberhaupt oder das geschäftsführende Oberhaupt einer Region beabsichtigte, als unabhängiger Kandidat anzutreten. Das geschieht für gewöhnlich dort, wo entweder ein »technokratisches« Oberhaupt einer Region sich von Einiges Russland zu distanzieren versuchte und/oder die Proteststimmung stark ist. Zudem kandidieren formal Unabhängige in jenen Regionen, in denen der geschäftsführende Gouverneur eine der übrigen Parteien repräsentiert und versucht, über eine parteiunabhängige Kandidatur seine potenzielle Wählerschaft auszuweiten. Dieses Mal waren in 5 der 18 Regionen Gouverneurskandidaten als Unabhängige angetreten (in den Republiken Komi und Tschuwaschien, den Regionen Kamtschatka und Perm sowie im Gebiet Irkutsk). In allen fünf Regionen waren es die Amtsinhaber, die von diesem Recht Gebrauch machten.

Elektoraler Autoritarismus unter Quarantäne-Bedingungen

Vor dem Hintergrund der Quarantäne-Maßnahmen gegen Covid-19 und des Umstands, dass die öffentliche Meinung auf die Bekämpfung der Pandemie gelenkt wurde, sind weitere Verschärfungen der Vorschriften für die Wahlen erlassen worden. Dabei fehlt jeder Hinweis auf deren möglicherweise provisorischen Charakter. Ohnehin bedeuteten die Quarantäne-Beschränkungen (formal als »Regime erhöhter Bereitschaft« bezeichnet) in der Praxis, dass die Parteien und Kandidaten keine öffentlichen Massenveranstaltungen abhalten konnten, während das Regime und dessen Kandidaten in den offiziellen Medien dominant vertreten waren. Der ohnehin nicht sonderlich demokratische und offene Charakter der Wahlprozeduren wurde dadurch weiter beeinträchtigt und die Praktiken des elektoralen Autoritarismus verschärft. Als formale Begründung wurde der Kampf gegen das Coronavirus angeführt.

Mit dem Föderalen Gesetz Nr. 98-FZ vom 1. April wurde die Möglichkeit eingeführt, unter dem »Regime erhöhter Bereitschaft« oder in einem Notstand Wahlen und Referenden zu verschieben. Dabei werden die Fristen dieser Einschränkung in jedem konkreten Fall von der Wahlkommission festgelegt, und zwar auf Grundlage der spezifischen Bedingungen des Regimes auf dem jeweiligen Gebiet. Die Vollmachten der bis dato gewählten Organe würden dann bis zu deren Neuwahl verlängert. Auf dieser Grundlage wurden sämtliche Wahlen ausgesetzt, die für die Monate April bis Juni angesetzt waren (deren Anzahl wurde mit 102 beziffert). Die Abstimmung über die Verfassungsänderungen, die ursprünglich für den 22. April angesetzt war, wurde abgesagt und dann auf den 1. Juli neu angesetzt. Bei den Kommunalwahlen fand der erste Urnengang seit dem 29. März erst am 12. Juli statt.

Parallel zum »Regime erhöhter Bereitschaft«, dem Verbot öffentlicher Veranstaltungen und der Vereinnahmung der öffentlichen Meinung durch die Covid-19-Pandemie wurden zusätzliche Beschränkungen des passiven Wahlrechts sowie andere Regelungen eingeführt, die die Wählerrechte noch weiter beschneiden und die Teilnahmebedingungen für Angehörige der Opposition verschlechtern. Das Föderale Gesetz Nr. 153-FZ vom 23. Mai 2020 schreibt vor, dass Personen, die aufgrund eines von 50 Paragrafen des Strafgesetzbuches (eines mittelschweren Verbrechens) zu einem Freiheitsentzug verurteilt wurden, für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren nach Ablauf oder Löschung des Status eines Vorbestraften ihr passives Wahlrecht verlieren. Hier geht es u. a. um jene, die aufgrund offensichtlich politischer Paragrafen verurteilt wurden, etwa im Zusammenhang mit »Verstößen« bei Demonstrationen. Durch das Föderale Gesetz Nr. 154 v. 23. Mai 2020 wurde für Regional- und Kommunalwahlen bei den Unterschriftenlisten der zulässige Grenzwert für »Ausschuss« (also nach Ansicht der Wahlkommissionen fehlerhafte Angaben/Unterschriften) von 10 auf 5 Prozent reduziert, also an den Wert bei landesweiten Wahlen angeglichen (bis Mitte der 2000er Jahre hatte der Grenzwert noch bei 25 % gelegen). Gleichzeitig wurden auch die Vorschriften verschärft, wie die Unterschriftenlisten anzufertigen sind. Die Unterzeichnende muss von nun an nicht nur Unterschrift und Datum eigenhändig in die Liste eintragen, sondern auch Vor-, Vaters- und Nachname. Früher konnten andere Angaben früher vom Unterschriftensammler eingetragen werden.

Zudem ließ dieses Gesetz Teile der »Sonderordnung« für die Volksabstimmung über die Verfassungsreform vom 1. Juli auch für Regionalwahlen zu. Hierzu gehört die massenweise vorzeitige Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals – zwei Tage vor dem Wahltag und praktisch ohne Kontrolle, etwa mit einer mobilen Wahlurne auf Baumstümpfen, Ladeflächen usw. Das Recht zum Erlass dieser Verfahrensordnung hatte die Zentrale Wahlkommission erhalten, obwohl der Wahlzeitraum schon begonnen hatte. Begründet wurde dies mit dem »Gesundheitsschutz für Wähler« und der »Schaffung von möglichst annehmbaren Bedingungen«. Diese Verordnung über eine praktisch uneingeschränkte vorzeitige Stimmabgabe am 11. und 12. September hatte die Zentrale Wahlkommission bereits am 24. Juli erlassen, in der Mitte des Wahlzeitraums. Dadurch wurden die Regeln für die Wahlen praktisch geändert, als der Wahlprozess schon im Gange war.

Zudem gab es zahlreiche Fälle, in denen offener Druck auf politisch und gesellschaftlich engagierte Personen mit dem Urnengang zusammenfiel: Zu nennen wären das Strafverfahren gegen die Moskauer kommunale Abgeordnete Julija Galjamina (wegen angeblich mehrfacher Verstöße gegen die Vorschriften für Demonstrationen), die gegen die Verfassungsänderungen aufgetreten war; das Verfahren gegen den Polittechnologen Sergej Bespalow, Stabschef von Alexej Nawalnyj im Gebiet Irkutsk (angeblich wegen eines Überfalls auf eine Aktivistin der ultraputinistischen Nationalen Befreiungsbewegung (NOD), wobei bei diesem Verfahren jedwede Beweise fehlen und die Aussage der Aktivistin von sämtlichen Zeugen widerlegt wird); die Durchsuchung von Büros der Organisation Offenes Russland sowie von Wohnungen ihrer Aktivisten (Vertreter von Offenes Russland haben in mehreren Regionen bei den Wahlen vom 13. 09. kandidiert).

Auch die Festnahme des Chabarowsker Gouverneurs Sergej Furgal am 9. Juli – Furgal war der beliebteste Gouverneur in Russland und hatte 2018 mit 68 Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang gegen seinen Amtsvorgänger Wjatscheslaw Schport von Einiges Russland gesiegt –, sowie der Giftanschlag auf Alexej Nawalnyj, einen der Anführer der außersystemischen Opposition, am 20. August während dessen Wahlkampfreise durch die Regionen fielen zum Teil in die Phase der Nominierung der Kandidaten für die Gouverneurswahlen und sind offensichtliche Akte der Einschüchterung. Sie können auch als unzweideutiges Signal an die regionalen Eliten und die Opposition betrachtet werden, dass ein wirkliches Opponieren gegen die Zentralmacht und die von ihr genehmigten Kandidaten große Probleme nach sich ziehen werden.

»Sanierung« des Parteiensystems

Nachdem die Vorschriften zur Registrierung von Parteilisten und Parteikandidaten im Mai 2014 geändert wurden, haben die meisten neuen Parteien ihre Vorzugsbedingungen bei der Registrierung von Kandidaten oder Listen verloren. Dementsprechend gibt es für Kandidaten erheblich weniger Gründe, sich von einer Partei ohne diese Vorzugsbedingungen nominieren zu lassen, da dies jetzt sogar ungünstiger ist als eine unabhängige Kandidatur (Eigennominierung). Eine Kandidatin ohne Vorzugsbedingungen ist dazu verpflichtet, Unterschriften zu sammeln. Ebenso muss die Kandidatin ein umfangreiches Paket an Unterlagen über ihre Ausgaben, Einnahmen und Vermögen sowie die ihrer Familienangehörigen einreichen. Die Nominierung durch eine Partei macht ein drittes Paket mit Informationen über die Partei notwendig: Kopien der Registrierungsdokumente, Bescheinigungen, Protokolle usw. Jedes zusätzliche Dokument verursacht nicht nur organisatorischen und finanziellen Aufwand, sondern erhöht auch das Risiko, dass darin Fehler festgestellt werden und die Registrierung verweigert wird. Es verwundert nicht, dass die Parteien nun in eine politische Ohnmacht fielen. Es wurden fast keine neuen Parteien mehr registriert: die Anreize dafür sind geschwunden, und ein Teil der Parteien konnte zudem nicht den Gesetzesanforderungen genügen. Die Justizbehörden legten zum Teil einen demonstrativen Unwillen an den Tag, Parteien zu registrieren, so etwa beim Versuch von Anhängern Nawalnyjs, eine Partei zu gründen. Einige Parteien erlebten eine unverhohlene Säuberung und praktisch die politische Vernichtung (Rückzug von Michail Prochorow und dessen Anhängern aus der Bürgerplattform; Weigerung des Justizministeriums, die Ergebnisse des Parteikongresses der Bürgerinitiative hinsichtlich der Wahl von Dmitrij Gudkow zum Parteiführer zu bestätigen). Stellten Parteien ihre Teilnahme an Wahlen ein, so waren sie damit zur Auflösung in den Jahren 2019/20 verdammt. Die meisten neuen Parteien waren in den Jahren 2012 und 2013 registriert worden, wobei per Gesetz vorgeschrieben ist, dass sie zur Beibehaltung des Parteistatus im Lauf von sieben Jahren die erforderliche Mindestmenge an Wahlteilnahmen vorzuweisen haben, nämlich: entweder die Registrierung einer Parteiliste bei Dumawahlen oder eines Kandidaten bei Präsidentschaftswahlen; oder die Registrierung von 9 Kandidaten bei Gouverneurswahlen; oder die Präsenz auf dem Stimmzettel bei 17 regionalen Parlamentswahlen oder bei 43 kommunalen Wahlen.

Nach einer Reihe von Parteiauflösungen sind laut Angaben der Zentralen Wahlkommission am 1. Juni dieses Jahres 44 Parteien auf der Liste der zur Teilnahme an Wahlen berechtigten Parteien verzeichnet gewesen (am 17. Juli waren es nur noch 41 – gegenüber 59 Parteien am 30. Mai 2019).

Ungeachtet des Rückgangs der registrierten Parteien und des Ausbleibens neuer Registrierungen erfolgte Anfang 2020 plötzlich die Gründung von vier neuen Parteien. Bei allen vier Neugründungen waren eindeutig Politiker und Polittechnologen beteiligt, die dem Regime nahestehen. Im März und April wurden folgende Parteien registriert: Nowyje ljudi (»Neue Leute«), Sa prawdu (»Für die Wahrheit«), Seljonaja alternatiwa (»Grüne Alternative«) und die Partija prjamoj demokratii (»Partei der direkten Demokratie«). Die Partei Für die Wahrheit wurde von dem Schriftsteller Sachar Prilepin angeführt, der offen an Kampfhandlungen in der Ostukraine teilgenommen hatte. Prilepin hat eine Verbindung zwischen seinem politischen Projekt und dem Präsidentenberater Wladislaw Surkow dementiert und behauptet, dass er mit Surkow bereits während seiner Zeit im Donbas in Konflikt geraten sei. Die gemäßigt liberale Partei Neue Leute wurde auf Initiative von Alexej Netschajew gegründet, dem Besitzer des Kosmetikunternehmens Faberlic. An der Spitze des Projektes Partei der direkten Demokratie stand Wjatscheslaw Makarow, Entwickler einer Reihe populärer Computerspiele und nun schon ehemaliger Produktdirektor für World of Tanks bei der Firma Wargaming.net. Die Partei Grüne Alternative wurde von dem Polittechnologen Ruslan Chwostow angeführt, einem ehemaligen Mitglied der Bewegung Mestnyje (»Die Hiesigen«) aus dem Moskauer Umland. Zum öffentlichen Gesicht dieser Quasi-Umweltschutzpartei wurde der bekannte Maler und Autor politsatirischer Bilder Wassja Loschkin (eigentlich: Alexej Kudelin).

Die neuen Parteien hatten innerhalb eines halben Jahres in mindestens 43 Föderationssubjekten Regionalverbände zu gründen, um an Wahlen teilnehmen zu können. Diesen Prozess (der seit der Verabschiedung des Parteiengesetzes 2001 für viele neue Parteiprojekte zum Stolperstein geworden war) haben die vier neuen Parteien äußerst schnell durchlaufen, praktisch in anderthalb Monaten. Sie haben ihre Regionalverbände unter Quarantäne-Bedingungen bei den Justizbehörden registrieren lassen können, als in den Regionen viele offizielle Einrichtungen geschlossen waren.

Es ist davon auszugehen, dass diese »Sanierung« des Parteiensystems sowohl auf ein objektives »Absterben« jener Parteien zurückzuführen ist, die vor 2012/13 gegründet und dann vernachlässigt wurden, als auch auf Versuche, nicht genehme und nicht kontrollierbare Nominierungskanäle für Kandidaten auszuschalten. Gleichzeitig besteht für das Regime eine objektive Notwendigkeit, in der Nische der Protestwähler den Wettbewerb zu erhöhen und die Proteststimmen zu streuen. Die Frage ist, warum hierzu neue Parteien gegründet und nicht alte Parteien (etwa die Grünen, Bürgerkraft, die Wachstumspartei, Rodina usw.) wiederbelebt wurden. Womöglich liegt es daran, dass Personaländerungen bei den für die Innenpolitik verantwortlichen Bürokraten der Präsidialadministration automatisch auch einen Wechsel der Auftragnehmer bedeutet, die die polittechnologischen Projekte dann umsetzen.

Ergebnisse der Wahlen

Die äußerst kompakten und hinsichtlich der Wahlkampfmöglichkeiten eingeschränkten Wahlen stachen vor allem durch die Teilnahme der vier neuen, im Frühjahr 2020 gegründeten Parteien hervor. Bei den 11 regionalen Parlamentswahlen wurden 125 Parteilisten nominiert (11,4 pro Region), von denen 93 auch registriert wurden (8,45 pro Region). Eine Liste wurde später durch einen Beschluss des Obersten Gerichtshofes von den Wahlen ausgeschlossen. Diese Werte sind besser als die der Jahre 2016 – 2019 und verweisen darauf, dass das Niveau der Jahre 2014 und 2015 wieder erreicht wurde. Alle Parteien, die bei der Registrierung über Vorzugsbedingungen verfügten, haben ihre Kandidatenlisten registrieren lassen können. Alle Fälle, in denen Listen oder Kandidaten ausschieden oder nicht registriert wurden, sind auf die überaus strengen Anforderungen bei einer Registrierung aufgrund von Unterschriftenlisten zurückzuführen, die im Mai 2020 weiter verschärft worden waren. Insgesamt haben die Parteien versucht, 71 Kandidatenlisten aufgrund von Unterschriften registrieren zu lassen, von denen dann 39 registriert wurden; eine Registrierung wurde später per Gerichtsentscheid zurückgenommen (somit sind 43,6 % ausgeschieden). In 13 Fällen wurden Registrierungsanträge abgelehnt. 19 Listen haben keine Registrierung beantragt oder es wurde ihnen eine Beglaubigung der Unterlagen verweigert. Unter den 125 Listen wurden 20 von den vier neuen Parteien aufgestellt (17 wurden registriert, 3 erhielten eine Absage).

Bei den Stadtratswahlen in den regionalen Hauptstädten (jenen mit gemischtem oder Verhältniswahlsystem) wurden in 14 Städten 116 Listen nominiert (im Schnitt 8,29 pro Stadt), von denen 99 registriert wurden (7,07 pro Stadt). Die Quote der Nichtregistrierung betrug somit in dieser Phase 14,7 Prozent.

Hinsichtlich der Kandidatenregistrierung bei den wichtigsten Wahlen (in Wahlkreisen mit Mehrheitswahlsystem) ergibt sich allgemein das Bild, dass sich, nachdem im Mai 2020 hier die Vorschriften verschärft worden waren, die Situation im Vergleich zu 2017–2019 wieder verschlechtert hat. Die Daten zur Nichtzulassung kommen hier wieder den Spitzenwerten von 2015–2016 nahe. In diesem System hatten praktisch 9 von 10 Kandidaten der Parteien ohne Vorzugsbedingungen bei der Registrierung keine Chance, es bis auf den Stimmzettel zu schaffen (s. Tabelle 1 und 2 auf S. 8). Bei den Stadtratswahlen in den regionalen Hauptstädten war die Lage ein wenig besser, wohl, weil hier die absolute Zahl der erforderlichen Unterschriften geringer ist. Auffällig ist, dass bei den Kandidatennominierungen in den Direktwahlkreisen die neue Partei Neue Leute bei den wichtigsten Wahlen den fünften Platz belegte, direkt nach den Dumaparteien. Gleichzeitig wurden jedoch 91 Prozent ihrer Anwärter für die Regionalparlamente und 73 Prozent der Bewerber für die Stadträte der regionalen Hauptstädte nicht als Kandidaten registriert. Das kann zweierlei bedeuten. Zum einen zeigt es, dass das neue Registrierungssystem selbst für jene Parteien, die sogar auf föderaler Ebene eine gewisse Protektion genießen, viel zu streng ist. Zweitens könnte es belegen, dass Wohlwollen auf föderaler Ebene keineswegs eine administrative Obstruktion bei der Kandidatenregistrierung auf lokaler Ebene ausschließen muss, da hier die örtliche Bürokratie daran interessiert ist, die Wahlergebnisse zugunsten der vorab festgelegten und mit ihr abgestimmten Kandidaten zu dirigieren. Die innere Autonomie von Parteien, die über gewisse föderale Ressourcen verfügen, scheint also im Widerspruch zum Bestreben der lokalen Bürokratie zu stehen, unmittelbar festzulegen und zu verabreden, wer zu den Kandidaten gehört. Auch Jabloko, die Russische Rentnerpartei für soziale Gerechtigkeit sowie die Wachstumspartei mussten in den Direktwahlkreisen eine hohe Zahl an nicht zugelassenen Kandidaten verzeichnen.

Die Gouverneurswahlen standen unter strikter administrativer Kontrolle. In den 18 Regionen waren insgesamt 146 Kandidaten nominiert worden (im Schnitt 8,1 pro Region), anfänglich wurden 91 von ihnen registriert (5,05 pro Region). Beim Schritt von der Nominierung zur Registrierung betrug die Nichtregistrierungs-Quote somit 55 Kandidaten (37,6 %). Dann, bereits nach der Registrierung, zogen im Gebiet Irkutsk zwei Anwärter ihre Kandidatur zugunsten des geschäftsführenden Gouverneurs Igor Kobsew zurück. Gleichzeitig hatte Einiges Russland in den fünf Regionen, in denen die geschäftsführenden Gouverneure per Eigennominierung kandidierten, keine Kandidaten nominiert, wie auch im Gebiet Smolensk, wo der amtierende Gouverneur von der LDPR aufgestellt wurde. Also galt weiterhin die Regel: Einiges Russland wird niemals eigene Kandidaten gegen amtierende Gouverneure aufstellen, selbst wenn diese von anderen Parteien oder eigenständig nominiert worden waren. Insgesamt hatte Einiges Russland 12 Gouverneurskandidaten. Bei der Nichtzulassung von Kandidaten der Dumaparteien (6) wiederholte sich im Großen und Ganzen der Rekord von 2019. Dieses Mal waren 5 der 6 Nichtzugelassenen von der KPRF. In den Jahren zuvor war gewöhnlich nur einem der Kandidaten der KPRF die Registrierung verweigert worden; 2019 waren es gleich drei gewesen. Wir können also sagen, dass sich die Haltung des Regimes zur KPRF drastisch verschlechtert hat.

Die Wahlen haben gezeigt, dass sich mit ganz wenigen Ausnahmen nahezu überall die Tendenz zu einer niedrigen Wahlbeteiligung fortgesetzt hat. Diese lag jetzt oft noch niedriger als bei den entsprechenden Wahlen 2015.

Nach Angaben der Wahlbeobachter-Bewegung Golos wurden die Abstimmungen in einigen Regionen von einer verstärkten Obstruktion der Arbeit von Wahlbeobachtern und Medienvertretern begleitet. Besonders häufig entstanden Probleme, wenn versucht wurde, die vorzeitige Stimmabgabe zu kontrollieren, die dieses Mal einen entscheidenden Einfluss auf den Wahlausgang hatte. Die Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals im Lauf der zwei Tage vor dem Wahltag war von einer Vielzahl Signalen geprägt – von Stimmabgaben unter Druck (wenn administrativ abhängige Wahlberechtigte zur Stimmabgabe genötigt werden) und von unmittelbaren Wahlfälschungen (Einwurf zusätzlicher und Fälschung abgegebener Stimmzettel). Bei den meisten größeren Wahlen lag die Anzahl derjenigen, die vorzeitig ihre Stimme abgaben (u. a. außerhalb des Wahllokals), über der Zahl derjenigen, die am »regulären« Wahltag zur Urne gingen. Dergleichen wurde in Russland zum ersten Mal beobachtet und droht jetzt zu einer »neuen Norm« zu werden (s. Grafik 1 auf S. 9).

Sämtliche Gouverneurswahlen – bei denen es fast keinen realen Wettbewerb gab – endeten, wie zu erwarten, mit Siegen der Amtsinhaber. In einer Reihe von Fällen war dies nach Meinung unabhängiger Wahlbeobachter wohl eher die Folge von Fälschungen als das wirkliche Ergebnis.

Bei den regionalen Parlamentswahlen und den Kommunalratswahlen herrschte in höherem Maße Wettbewerb (s. Tabelle 3 auf S. 9 und 4 auf S. 10).

Der Ausgang der Wahlen lässt den Schluss zu, dass Einiges Russland bei einer geringen Wahlbeteiligung seine Dominanz aufrechterhält. Die Ergebnisse für Einiges Russland sind 2020 vergleichsweise besser als die Werte von 2019 und liegen eher im Bereich der Ergebnisse bei den Dumawahlen 2016 und weniger bei denen der entsprechenden letzten Wahlen des Jahres 2015. Gegenüber den regionalen Parlamentswahlen von 2015 betrug der Rückgang rund 11,5 Prozent. Dabei fällt auf, dass das Bild 2019 im Vergleich zu den Dumawahlen 2016 ein anderes war: Dies ist vielfach darauf zurückzuführen, dass 2019 in einer großen Zahl »anomaler Regionen« gewählt wurde (u. a. in den nationalen Republiken des Nordkaukasus und der Wolgaregion), in denen die Ergebnisse der »Partei der Macht« bei landesweiten und Regionalwahlen sich stets stark unterscheiden. In diesen Regionen weisen die Regionalwahlen formal in der Regel einen stärkeren Wettbewerbscharakter auf, während bei landesweiten Wahlen formal eine Hyperloyalität zur föderalen Partei der Macht demonstriert wird (s. Tabellen 5a und 5b auf S. 10).

Für die Parteien der »alten Systemopposition« hingegen sind die Wahlergebnisse 2020 sehr besorgniserregend. 2019 war deutlich sichtbar, dass die Stimmenverluste von Einiges Russland bei den Regionalwahlen zwischen 2014 und 2019 gleichzeitig zu annähernd vergleichbaren Stimmengewinnen der KPRF und der LDPR geführt haben. Die Gewinne erfolgten eher zugunsten der KPRF, während der Löwenanteil der Zugewinne der LDPR auf eine einzige Region entfiel, die Region Chabarowsk, wo man vor allem für den populären – heute schon ehemaligen – Gouverneur Sergej Furgal stimmte. Auch Gerechtes Russland verzeichnete leichte Zugewinne. 2020 bedeuteten die gegenüber den Regionalwahlen von 2015 verlorenen Stimmen von Einiges Russland allerdings fast keine Zugewinne für KPRF und LDPR, während Gerechtes Russland sogar 2 Prozentpunkte einbüßte.

Die verlorenen Stimmen von Einiges Russland gingen nun sowohl an die im Jahr 2020 neugegründeten wie auch an andere, bereits bestehende Parteien. Insbesondere die Enttäuschung über die alten Parteiführer [Gennadij Sjuganow, KPRF, und Wladimir Schirinowskij, LDPR, Anm. d. Redaktion] verlieh diesen Parteien Auftrieb. Hauptnutznießer waren die Parteien, die zwar keine markanten landesweiten oder regionalen Führungspersönlichkeiten vorzuweisen hatten, dafür aber auch keine »negative Popularität« besaßen: Insbesondere sind das die neue, gemäßigt liberale Partei Neue Leute (die in alle vier Regionalparlamente einzog, bei denen ihre Listen bei den Wahlen registriert waren) und die links-zentristische Russische Rentnerpartei für soziale Gerechtigkeit (RPPSS), die in 7 von 9 Regionen, in denen sie auf dem Stimmzettel stand, ins Parlament einzog, wobei sie oft auf Höhe von Gerechtes Russland abschnitt.

Diese Bild wird durch das erfolgreiche Abschneiden unabhängiger Kandidaten und anderer Opposition bei den städtischen Wahlen in Tomsk und Nowosibirsk vervollständigt. Bei den Wahlen zum Stadtrat von Nowosibirsk etwa gab es den Sieg von Sergej Bojko, der zwar Leiter des regionalen Wahlkampfbüros von Alexej Nawalnyj ist, aber als unabhängiger Kandidat antrat und sich in seinem Wahlkreis gegen Renat Sulejmanow durchsetzte, die Nummer Zwei der regionalen KPRF-Organisation. In Tambow errang die Partei Rodina des ehemaligen Tambower Bürgermeisters Maxim Kosenkow einen deutlichen Sieg (44 % nach Listenmandaten und 17 von 18 Direktmandaten). Bei den Gouverneurswahlen schnitten die neu ernannten Amtsträger in der Regel erheblich besser ab als die »alten« Gouverneure (mit einem Unterschied von fast 20 %).

All dies zeugt davon, dass sich ein bedeutendes Verlangen nach Veränderungen und einer Erneuerung der politischen Elite angestaut hat, das sich in der Folge sowohl gegen das Regime wie auch gegen die »alte« Opposition richtet.

Die jüngsten Wahlen sind zweifellos von besonderer Bedeutung, weil es der letzte größere Urnengang vor den 2021 anstehenden Dumawahlen war. Das gilt sowohl für die Strategie des Regimes, wie auch für das Schicksal der Systemparteien und deren Anführer. Das Regime könnte versuchen, diese Strategie in heutiger Form beizubehalten, oder womöglich einigen der Beteiligten zu einem Neustart zu verhelfen – oder aber sie zu ersetzen. Der naheliegendste Abschiedskandidat ist Gerechtes Russland. Als aussichtsreiche Kandidaten für einen Einzug in die Staatsduma können die Neuen Leute und die RPPSS gelten. Auch ist höchst wahrscheinlich, dass die Technologien von 2020 zur Wahlfälschung – u. a. ein Urnengang über einen Zeitraum von drei Tagen hinweg – auch 2021 bei den landesweiten Wahlen zum Einsatz kommen werden.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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