Implikationen des Bergkarabach-Konflikts für Georgien und die regionale Stabilität

Von Belinda Nüssel, Minna Ålander (beide Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)

Das unter der Vermittlung Russlands am 09. November zustande gekommene Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan hat vorerst zu einem Ende der Kampfhandlungen im Konflikt um Bergkarabach geführt. Der nunmehr als »re-frozen« eingestufte Konflikt hat jedoch auch nach dem jüngsten Waffenstillstand grundsätzlich weiterhin Potential für schwerwiegende destabilisierende Konsequenzen im gesamten regionalen Kontext des Südkaukasus. Hier befindet sich Georgien in einer besonders komplexen Situation.

Als direktes Nachbarland Armeniens und Aserbaidschans ist die georgische Führung stets darum bemüht, nicht unter die Räder der Konfliktparteien zu geraten. Gute Beziehungen zu beiden Nachbarn sind aufgrund der geopolitischen Lage Georgiens essentiell. Regionale Stabilität und Neutralität im Konflikt zwischen seinen Nachbarn haben daher für Georgien die höchste Priorität. Dies betonten zuletzt sowohl die georgische Präsidentin Salome Zurabischwili als auch der Nationale Sicherheitsrat. Nicht nur ist Georgien der wichtigste Transportkorridor für Armenien, dessen Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan seit den 1990er Jahren aufgrund des Bergkarabach-Konflikts geschlossen sind. Auch für Aserbaidschan spielt Georgien eine wichtige Rolle als Transportroute zwischen Aserbaidschan und der Türkei. Zu nennen sind hier die Baku–Tbilisi–Ceyhan-Ölpipeline, die Baku–Tbilisi–Kars-Eisenbahnroute und die Südkorridor-Naturgaspipeline. Aserbaidschanische Direktinvestitionen (FDI) sind wiederum wichtig für die georgische Wirtschaft. Hinzu kommt, dass Georgien im Norden an Russland grenzt und im Süden an die Türkei – beides Akteure, die im Bergkarabach-Konflikt involviert sind.

Die jüngste Eskalation machte das vitale Interesse Georgiens deutlich, eine weitere Intensivierung des Konflikts abzuwenden, denn der Konflikt trifft Georgien zu einem schwierigen innenpolitischen Zeitpunkt. Unruhen über das Ergebnis der Parlamentswahlen am 31. Oktober halten weiter an. Eine potentielle Mobilisierung der armenischen und aserbaidschanischen Minderheiten in Georgien oder ein Spill-over auf die »eigenen« Konflikte in Abchasien und Südossetien könnten die interne Lage weiter zuspitzen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat Georgien erstmals seit 1991 angeboten, anstelle von passiver Neutralität eine aktive Vermittlerrolle einzunehmen. Das Angebot wurde von den Konfliktparteien jedoch nicht angenommen. Der Grund hierfür war wohl, dass Georgien sowohl das nötige politische Gewicht als auch die Ressourcen fehlen. Wie zentral und empfindlich die Neutralität Georgiens sowohl für die zwischenstaatlichen Beziehungen als auch die innenpolitische Stabilität des Landes ist, zeigt die Desinformation, die sowohl in Aserbaidschan als auch in Armenien über Social Media und anderen Webseiten über Georgien verbreitet wurde. Die fälschlicherweise zirkulierenden Meldungen, Georgien unterstütze zumindest indirekt die aserbaidschanische Seite, indem es Waffenlieferungen aus der Türkei nach Aserbaidschan über sein Territorium zulasse und den Fernsehturm in Tbilisi in aserbaidschanischen Nationalfarben anstrahle, führte sowohl innerhalb der armenischen Minderheit in Georgien als auch in Armenien selbst zu Protesten (https://idfi.ge/en/disinformation-karabakh_conflict, https://civil.ge/archives/374094).

Das Abkommen über den Waffenstillstand ist aus georgischer Sicht zwar grundsätzlich zu begrüßen. Ob das Ende der Kampfhandlungen wie von Präsidentin Zurabischwili auf Twitter verkündet tatsächlich als neue »Ära« zu betrachten ist, bleibt jedoch fraglich. Zum einen, weil der Konflikt auch mit dem Moskauer Neun-Punkte-Plan noch nicht grundsätzlich gelöst ist. Zum anderen, weil sich die regionale Machtkonstellation durch die Einbeziehung Russlands und der Türkei nicht weniger komplex gestaltet. Die Worte des ehemaligen US-Botschafters in Georgien, Ian Kelly, geben Anlass, die Aussage Zurabischiwilis aus georgischer Sicht kritisch zu überdenken: »How can a Georgian President congratulate an agreement that locks in another Russian occupation in the Caucasus and locks out the West?« (https://www.interpressnews.ge/en/article/110237-ian-kelly-how-can-a-georgian-president-congratulate-an-agreement-that-locks-in-another-russian-occupation-in-caucasus/).

Die Einschätzung Kellys, der Einsatz russischer Friedenstruppen sei als neuerliche »Okkupation« zu bewerten, ist an dieser Stelle kritisch zu hinterfragen und als voreilig einzustufen. Tatsächlich aber ist die russische Präsenz im Konflikt um Bergkarabach für Georgien als zwiespältig zu bewerten. Zwar war das Parteienbündnis Georgischer Traum als Regierungspartei in den letzten Jahren um ein weniger konfliktreiches Verhältnis zu Russland bemüht. Dennoch zeigen allein die Massenproteste des Jahres 2019 in Tbilisi, dass die Beziehungen zwischen den Ländern weiterhin angespannt sind. 2018 gaben 85 Prozent der Befragten einer Studie in Georgien Russland als politische Bedrohung an (https://www.iri.org/sites/default/files/2018-5-29_georgia_poll_presentation.pdf). Mit Blick auf die Erfahrungen Georgiens mit dem Einsatz russischer (Friedens-)Truppen in Abchasien und Südossetien ist eine verstärkte russische Präsenz in Bergkarabach aus georgischer Sicht somit als besorgniserregend einzuordnen. Russland hat in anderen Konflikten (beispielsweise im sogenannten 5-Tage-Krieg mit Georgien 2008 oder bei der Krim-Annexion 2014 und dem darauffolgenden Ukraine-Konflikt) bewiesen, dass es nie nur als neutraler Vermittler in der postsowjetischen Region agiert, sondern Eigeninteressen verfolgt. Zwar zeichnet sich ab, dass Russlands Rolle als Hegemon in der Region zunehmend bröckelt: Obwohl Russland den Waffenstillstand vermittelt hat, ist der militärische Erfolg Aserbaidschans zum großen Teil auf die Unterstützung der Türkei zurückzuführen. Armenien wiederum, das auf russische Unterstützung gesetzt hatte, musste eine Niederlage erleiden. Dennoch bedeutet diese Entwicklung nicht, dass Russland seine bereits bestehenden Interessen im Südkaukasus in naher Zukunft aufgeben wird. Die Entsendung der Friedenstruppen markiert den Anspruch Russlands, zentrale Ordnungsmacht in der Region zu bleiben. Dies betrifft schließlich auch Georgien und bestätigte sich erneut durch das jüngste Treffen Putins mit dem Präsidenten des abchasischen De-facto-Regimes Aslan Bschania: Etwa zwei Tage nach der Unterzeichnung des Neun-Punkte-Plans betonte Putin bei dem persönlichen Treffen, Russland sei weiterhin »partner number one« für die abtrünnige Republik (https://tass.com/politics/1223101).

Für Georgien bedeutet das Auftreten der Türkei als Schlüsselakteur im Südkaukasus, dass sich die Dynamik der Region deutlich verändern könnte. Zwar unterhält Georgien mit der Türkei solide Konnektivitäts- und Wirtschaftsbeziehungen. Allerdings können weder neue russische Friedenstruppen in einer Konfliktzone, in der Russland bisher keine physische Präsenz besaß, noch ein Kräftemessen zwischen zwei Regionalmächten, zwischen die Georgien zumindest geographisch zwangsläufig gerät, im georgischen Interesse sein.

Georgiens westliche Partner, mit denen die Türkei wiederum zunehmend in Konflikt steht, fallen vor allem durch ihre Abwesenheit auf. Während den USA sowohl für Georgien als auch für die Region eine strategische Vision fehlt und das Land von den Präsidentschaftswahlen innenpolitisch eingenommen war, agierte die EU im Kern vor allem rhetorisch. Nach der Ankündigung des Waffenstillstands versprach der Hohe Vertreter der EU, Josep Borrell Fontelles, nahezu eine Million Euro für humanitäre Hilfe für die Opfer des Konflikts bereitzustellen. Darüber hinaus betonte die EU ihre Unterstützung für die Minsk-Gruppe der OSZE, dessen Vorsitz auch Frankreich angehört. Allerdings blieb die Minsk-Gruppe bei der Aushandlung des durch Russland vermittelten Abkommens außen vor.

Die lediglich rhetorische Beteiligung der EU ist symptomatisch für die fehlende sicherheitspolitische Komponente in den Initiativen, die die EU den südkaukasischen Ländern im Rahmen der Östlichen Partnerschaft (ÖP) bietet. Über 10 Jahre nach Verabschiedung der ÖP finden die ungelösten Territorialkonflikte hier nach wie vor keine ausreichende Berücksichtigung. Vielmehr blockieren sie die EU-Beitrittsperspektive Georgiens aufgrund mangelnder territorialer Integrität zusätzlich. Durch das Fehlen der sicherheitspolitischen Unterstützung dürften die Erwartungen der georgischen Seite an die EU enttäuscht worden sein, denn das Konfliktgeschehen wirkt sich unmittelbar auf die Stabilität der gesamten Region aus.

Derzeit ist unklar, inwiefern der Neun-Punkte-Plan nachhaltig zur Konfliktlösung beitragen kann. Punkt neun des jüngsten Abkommens sieht die Wiederaufnahme der Transport- und Wirtschaftsverbindung in der Region vor (http://kremlin.ru/acts/news/64384). Sollten die Grenzen Armeniens zu Aserbaidschan und der Türkei tatsächlich geöffnet werden, könnte auch Georgien von dem Potential profitieren, das sich für die Region im Bereich der Wirtschaft und der regionalen Zusammenarbeit ergibt. Während die Zukunft der Minsk-Gruppe zunächst ungewiss bleibt, ist eine aktivere Rolle der EU bei der Konfliktlösung in der Region derzeit nicht abzusehen. Die USA sind zwar etablierter strategischer Partner Georgiens. Dennoch wird selbst ein stärkeres Engagement in der Region unter der neuen Biden-Administration kein Allheilmittel für die ungelösten Konflikte im Südkaukasus bieten können.

Lesetipps / Bibliographie

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Analyse

Postsowjetische De-facto-Regime

Von Andreas Heinemann-Grüder
Weltweit gibt es circa 25 De-facto-Regime, fünf davon im postsowjetischen Raum: Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Bergkarabach und den russisch kontrollierten Donbas. De-facto-Regime resultieren aus einer Pattsituation. Das »Mutterland« ist dabei nicht mehr in der Lage, die Souveränität über die Bevölkerung und das Territorium des De-facto-Regimes auszuüben, während ein Patron das Überleben sichert und es faktisch, bisweilen auch de jure, anerkennt. Die Gewalt schwelt über längere Phasen mit geringer Intensität, periodisch flammt sie wieder auf, um die Eskalationsbereitschaft des Gegners zu testen. Jenseits der Bewahrung des Status quo wird von der internationalen Gemeinschaft kaum in Konfliktregelung investiert. (…)
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