Verkürzte akademische und politische Debatten
Der Krieg in und um Bergkarabach lenkte unsere Aufmerksamkeit auf zwei Phänomene, die ansonsten wenig Beachtung in akademischen und politischen Diskursen finden: De-facto-Staaten und deren ungelöste Territorialkonflikte. Diese mangelnde Beachtung ist auf den ersten Blick erstaunlich, sind diese Phänomene für die Europäische Union (EU) doch von besonderer Brisanz. An den Rändern der EU konnten sich mehrere Entitäten unilateral von ihrem »Mutterstaat« lösen. Neben dem bereits erwähnten Bergkarabach (Aserbaidschan) sind dies Abchasien und Südossetien (Georgien) und Transnistrien (Republik Moldau) im postsowjetischen Raum, ähnlich wie Kosovo (Serbien) und die ehemaligen Republika Srpska Krajina (Kroatien) auf dem Balkan, und Nordzypern (Zypern) im Mittelmeer. Darüber hinaus scheinen auch die selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk in der Ukraine diesen Weg einzuschlagen, und die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens brodeln fortwährend. Trotz dieser Relevanz werden die akademischen und politischen Debatten zu diesen Dynamiken häufig verkürzt geführt, insbesondere im deutschsprachigen Raum, was einige Fehlinterpretationen zur Folge hat.
De-facto-Staaten sind keine temporären Anomalien
Ein De-facto-Staat ist eine politische Einheit, die von großen Teilen der internationalen Gemeinschaft nicht als unabhängiger Staat anerkannt wird, jedoch aktiv nach Unabhängigkeit und Anerkennung strebt. Er übt dauerhaft territoriale Kontrolle über ein definiertes Territorium aus, erbringt wesentliche staatliche Leistungen für seine Bevölkerung und genießt weitreichende interne Souveränität und Legitimität. Seine externe Souveränität ist jedoch durch die weitreichende Nichtanerkennung und den (häufig) starken Einfluss eines Patronagestaates begrenzt und umstritten.
De-facto-Staaten werden häufig als temporäre Anomalien im internationalen System oder als illegitime und begrenzte Formen von Staatlichkeit betrachtet. Gerade im postsowjetischen Raum dominiert das Image der von Russland gesteuerten Marionettenregime. Jedoch zeichnet die Forschung ein deutlich differenzierteres Bild. Zum einem zeigt sich, dass einmal etablierte De-facto-Staaten nicht aufgrund von internen Entwicklungen wie mangelhafter Legitimität, Leistungsfähigkeit oder Stabilität aufhören zu bestehen. Die postsowjetischen Fälle existieren seit Beginn der 1990er Jahre, Nordzypern sogar schon seit 1974. Demnach scheinen De-facto-Staaten eher ein dauerhaftes Phänomen zu sein, auch wenn ihre Existenz fortwährend durch die Gefahr gewaltsamer Reintegration gefährdet ist, wie jüngst in Bergkarabach oder 2008 in Südossetien zu beobachten. Zum anderen weisen De-facto-Staaten trotz des massiven Einflusses externer Patrone – im postsowjetischen Raum insbesondere Russland (Abchasien, Südossetien, Transnistrien) und Armenien (Bergkarabach) – teils weitreichende interne Souveränität und Legitimität auf. Dies beschränkt sich nicht nur auf das Feld der Innenpolitik, sondern betrifft auch die Bearbeitung der ungelösten Konflikte.
Die ungelösten Territorialkonflikt sind keine »eingefrorenen Konflikte«
Insbesondere in Bezug auf die De-facto-Staaten im postsowjetischen Raum wird noch immer der Begriff des »eingefrorenen Konflikts« (frozen conflict) genutzt. Jedoch ist dieser Begriff sowohl analytisch irreführend als auch politisch problematisch. Der Begriff ist fehlleitend, da die ungelösten Territorialkonflikte alles andere als eingefroren oder statisch sind, was nicht nur in extremen Situationen wie den wiederholten gewaltsamen Eskalationen um Bergkarabach deutlich wird. Es ist essenziell zu verstehen, dass die postsowjetischen De-facto-Staaten komplexe und vielschichtige Konfliktsysteme sind. Dabei handelt es sich nicht nur um ethnische Konflikte oder russische Stellvertreterkämpfe. Das Beispiel Abchasiens illustriert diese Komplexität deutlich. Primär handelt es sich hier um einen historisch gewachsenen Sezessionskonflikt zwischen Abchasien und Georgien, in dem das Streben nach nationaler Selbstbestimmung der AbchasInnen der Wahrung der territorialen Integrität Georgiens gegenübersteht. Dieser Kernkonflikt ist jedoch eng mit lokalen interethnischen Gegensätzen innerhalb Abchasiens und insbesondere dem Russisch-Georgischen Konflikt verwoben, welcher im Augustkrieg 2008 seinen traurigen Höhepunkt fand. Darüber hinaus besitzt der Konflikt eine internationale Dimension, durch den wiedererstarkten Ost-West Gegensatz und der Westorientierung Georgiens. Auch wenn die Lösung des Konflikts um Abchasien festgefahren ist, verändern sich jedoch die Interessen, Strategien und Handlungsoptionen der vielfältigen Akteure auf den verschiedenen Ebenen. Darüber hinaus treten einzelne Konfliktdimensionen zeitweise stärker in den Vordergrund oder werden von Entwicklungen auf anderen Ebenen überlagert. Das Konzept der eingefrorenen Konflikte blendet jene Dynamiken und die Veränderungen der spezifischen Konfliktstrukturen und Akteursinteressen aus und ist daher analytisch irreführend.
Darüber hinaus birgt der Begriff auch im politischen Sprachgebrauch Risiken. Er suggeriert einerseits Stabilität und lädt damit zur Vernachlässigung in der internationalen Konfliktbearbeitung ein. Sowohl die mit geringem politischen Nachdruck geführten Verhandlungen in der OSZE-Minsk-Gruppe als auch das rückläufige internationale Engagement im Bereich der Konfliktbearbeitung und Dialogförderung im Falle von Bergkarabach waren nicht zuträglich, um eine solch extreme Gewalteskalation wie im September dieses Jahres zu verhindern. Andererseits liefert das frozen conflicts Konzept auch lokalen Konfliktparteien Ausflüchte und argumentative Rückzugsorte. Sind die Konflikte eingefroren, so bedarf es auch eines besonderen, häufig externen, Impuls, um sie zu lösen. Jedoch zeigt die Forschung deutlich, dass eine langfristige friedliche Konfliktbeilegung nicht ohne weitgehende lokale Teilhabe und Kompromissbereitschaft möglich ist. Genau hier liegt jedoch ein Grundproblem für die internationale Konfliktbearbeitung.
Die festgefahrenen Konflikte um postsowjetische De-facto-Staaten weisen, mit signifikanten Abstrichen im Fall von Transnistrien, einige gemeinsame Merkmale auf. Auch wenn ihre jeweiligen Ursprünge sehr unterschiedlich sind, ist die einseitige Sezession eine häufige Gemeinsamkeit. Die Interessen der »Mutterstaaten« und De-facto-Staaten sind entgegengesetzt und werden häufig als Nullsummenspiel wahrgenommen, wodurch auf beiden Seiten kaum Kompromissbereitschaft vorhanden ist. Politische und gesellschaftliche Diskurse werden von Maximalpositionen dominiert, womit die Chancen für eine friedliche Konfliktlösung gering sind, insbesondere wenn die Sezession in einem militärischen Konflikt stattfand. Diese häufig sehr brutal geführten Sezessionskriege haben sich tief in das kollektive Gedächtnis und Bewusstsein der betroffenen Gesellschaften eingebrannt. Sie führen durch Konfliktsozialisation zu einem chronischen, generationenübergreifenden Charakter und sind oft identitätsstiftend. Dabei sticht die enorme emotionale Polarisierung der Konfliktparteien ins Auge, die sich in Stereotypisierungen, Segregation und Vergeltungsstreben widerspiegelt. Ferner alternieren Phasen relativer Stabilität und Gewalteruptionen unterschiedlicher Intensität, wobei sich Konfliktepisoden in vielfacher Weise bedingen und Pfadabhängigkeiten auslösen. Letztlich hat sich Russland in den letzten zwei Dekaden zunehmend als dominierender Akteur etabliert, in einigen Fällen auch als Konfliktpartei, ohne den eine Konfliktlösung nicht durchsetzbar ist. Die Räume für konstruktive internationale Konfliktbearbeitung schwinden unter diesen Bedingungen zusehends.
Verstärktes internationales Engagement ist nötig
Die postsowjetischen De-facto-Staaten werden mittelfristig fortbestehen. Isolationspolitiken führen einzig zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung. Aufgrund der Besonderheiten der langwierigen Konflikte ist eine friedliche Wiedereingliederung unwahrscheinlich. Eine mögliche gewaltsame Reintegration würde zum einem zu massivem menschlichen Leid und regionaler Destabilisierung führen und zum anderen durch den Vetoakteur Russland ohnehin unterbunden werden. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen, der geringen Erfolgsaussichten und einzelner gravierender Rückschritte in der Konfliktbearbeitung ist gerade jetzt mehr internationales Engagement gefordert. Letztlich ist das verstärkte internationale Engagement in den postsowjetischen De-facto-Staaten und in der Bearbeitung der festgefahrenen Konflikte alternativlos. Gerade die EU, und damit auch Deutschland, ist besonders durch etablierte und sich entwickelnde De-facto-Staaten an ihrer Peripherie herausgefordert. Mit Georgien, Aserbaidschan, der Republik Moldau und der Ukraine sind vier Länder in der Östlichen Nachbarschaft mit etablierten oder sich entwickelnden De-facto-Staaten konfrontiert. Es ist essenziell, die Bemühungen um zivilgesellschaftlichen Austausch, innergesellschaftlichen Dialog und friedensbildende Maßnahmen in der Region zu intensivieren. Auch wenn die aktuellen und historischen Kampfhandlungen zu einem massiven Vertrauensverlust zwischen den lokalen Akteuren und Gesellschaften geführt haben, ist der (Wieder-)Aufbau von Vertrauen die Grundvoraussetzung für die gesellschaftliche Akzeptanz jeglicher politischer Zugeständnisse im Friedensprozess. Jedoch müssen auch die festgefahrenen Friedensprozesse mit weitaus größerem internationalem politischem Engagement vorangetrieben werden. Nur ein ambitionierter, koordinierter und kombinierter Ansatz aus zivilgesellschaftlicher Konfliktbearbeitung und politischen Verhandlungen vermag erneute Gewaltausbrüche zu vermeiden und positive Dynamiken im Friedensprozess zu initiieren.