Die russische Förderung der Landwirtschaft im globalen Kontext
Im Zuge seiner aggressiven Verfolgung des Ziels der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln stellt Russland dem landwirtschaftlichen Sektor erhebliche Haushaltsmittel zur Verfügung. Zwischen 2017 und 2019 stattete der Staat den Sektor durchschnittlich mit beeindruckenden 0,7 Prozent des jährlichen BIP aus. Um das in eine globale Perspektive zu setzen: Australien und Argentinien gaben im selben Zeitraum jährlich 0,1 Prozent für ihre Landwirtschaft aus und selbst die EU mit ihrer massiven Gemeinsamen Agrarpolitik, die 34,5 Prozent des EU-Haushalts ausmacht, wendete nicht mehr als 0,4 Prozent ihres BIP für die Landwirtschaft auf. Im Vergleich mit anderen Ländern transferiert die russische Landwirtschaftspolitik also eine große Summe öffentlicher Gelder in den landwirtschaftlichen Sektor. Russland unterscheidet sich von anderen Ländern außerdem dahingehend, dass nur ein relativ kleiner Teil seiner Unterstützung für die Landwirtschaft (13 Prozent) in ländliche Infrastruktur und Beratungsangebote fließt. Umgekehrt bedeutet das, dass die landwirtschaftlichen Produzenten in Russland vor allem Direktzahlungen und verbilligte Kredite erhalten. Die offiziellen Ziele dieser Politik sind eine Ankurbelung der landwirtschaftlichen Produktion und eine Verbesserung des ländlichen Lebensstandards. Es wäre jedoch naiv anzunehmen, dass die Vertreter staatlicher Stellen mit diesen großen Transfersummen nicht auch noch andere Ziele verfolgen.
Die Unterstützung ist auf die verschiedenen Regionen Russlands sehr unterschiedlich verteilt und ein Großteil dieser Unterschiede lässt sich nicht über wirtschaftliche Faktoren und fiskalische Verteilungsschlüssel erklären. Die auf die landwirtschaftliche Nutzfläche umgerechneten ausgezahlten Subventionen unterscheiden sich in der Höhe teilweise um das 20fache. Auch die Zusammensetzung der verschiedenen Arten der Förderung (beispielsweise unterschiedlicher Ackerfrüchte oder Vieh) variiert stark. Da landwirtschaftliche Subventionen große und wichtige staatliche Transferleistungen an Produzenten sind, beziehen wir uns auf die politökonomische Literatur, um zu erklären, wie russische Politiker möglicherweise die Subventionierung der Landwirtschaft für Rent-Seeking und zur Maximierung ihrer politischen Unterstützung nutzen. Dabei ist es unerlässlich, den russischen Kontext mit seinen schwachen Institutionen und seiner Zentralisierungstendenz in den Beziehungen zwischen Regierungsebenen zu verstehen.
Zentrale Regierungsstrukturen und ländliche Politik
Die in den letzten zwei Jahrzehnten entstandene Zentralisierung in den Beziehungen zwischen den russischen Regierungsebenen hat den diskretionären Spielraum bei der Verteilung von Transfergeldern wie landwirtschaftlichen Subventionen vergrößert. Die Regierung Putins festigte ihre Macht auf der Zentralebene und nahm den Regionen viel von deren Verhandlungsmacht ab, die sie während der Präsidentschaft von Boris Jelzin rege eingesetzt hatten. Das führte formal zu klareren Regeln zur Verteilung der landwirtschaftlichen Subventionen, die sich aus föderalen und regionalen Mitteln zusammensetzen. Über die Vergabe ihrer Anteile entscheiden die Regionen relativ frei, hierbei handelt es sich in erster Linie um regionalpolitische Maßnahmen. Um ergänzende föderale Mittel zu beziehen, müssen sie allerdings eine Reihe föderaler Anforderungen erfüllen. Entsprechend dem allgemeinen Zentralisierungstrend hat die Bedeutung dieser ergänzenden föderalen Mittel zugenommen. Die Zuweisung der föderalen Gelder sollte zwar auf Grundlage fester Formeln zur Berechnung der Verteilung geschehen, informelle Verhandlungen zwischen Regionen und Zentralregierung sind jedoch üblich. Diese Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt und sind sehr intransparent, denn es gibt keine Institutionen, die diesen Prozess unterstützend begleiten könnten (vgl. Grafik 1).
Parteipolitik ist ein zentrales Instrument der russischen Regierung zur Zementierung ihrer Macht. Die derzeit amtierende vom Präsidenten kontrollierte Partei Einiges Russland lag bei den Wahlen 2007 und 2011 in sämtlichen Regionen in Führung, ihr Vorsprung war jedoch unterschiedlich groß (vgl. Grafik 2). Eine Hauptursache für diesen Erfolg ist, dass Regionalpolitiker über die Schaffung von Anreizen motiviert wurden, Wähler für Einiges Russland zu mobilisieren – und im Gegenzug an der Macht bleiben konnten. Solchermaßen unter Druck gesetzt, wandten die Regionalpolitiker sich an lokale Eliten, die ihnen helfen sollten, ihre politische Unterstützung zu erhöhen. Besonders interessant sind für Regionalpolitiker in diesem Zusammenhang große Unternehmen mit vielen Angestellten, denn die Mobilisierung beziehungsweise Nötigung von Wählern findet meist am Arbeitsplatz statt. Ob Lokalpolitiker zur Mobilisierung von Wählern eher befriedende oder sanktionierende Methoden anwenden, könnte hauptsächlich vom regionalen Demokratisierungsgrad und der Stärke der lokalen Institutionen abhängen. In westlichen Regionen gehen die Ergebnisse eher auf politischen Wettbewerb zurück, während im Nordkaukasus und in ölproduzierenden Regionen (wie Tjumen oder Tatarstan) autokratische Regierungsformen vorherrschen, die entsprechend eher auf Zwang setzen.
Ländliche Wählerschichten sind für verteilungspolitische Praktiken aus verschiedenen Gründen eine attraktive Zielgruppe. Erstens sind die Bewohner ländlicher Gegenden im Durchschnitt ärmer – so lagen die Löhne auf dem Land zwischen 2015 und 2017 bei 60 Prozent des landesweiten Durchschnittseinkommens – und die politökonomische Literatur legt nahe, dass ärmere Bevölkerungsschichten durch Transferzahlungen leichter zu beeinflussen sind. Zweitens ist die Landwirtschaft von zentraler Bedeutung für das Wachstum der lokalen Wirtschaft. Obwohl 2016 nur sieben Prozent der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft angestellt waren, ist die Wirtschaft auf dem Land in hohem Maße abhängig von der landwirtschaftlichen Produktion und den mit ihr zusammenhängenden wirtschaftlichen Aktivitäten, etwa in den Bereichen Dienstleistung, Zulieferung, Weiterverarbeitung und Handel. Über Subventionen für die Landwirtschaft kann das Stimmverhalten der ländlichen Bevölkerung also überproportional beeinflusst werden. Und nicht zuletzt hat die Bevölkerung auf dem Land möglicherweise weniger Zugriff auf Medienangebote und zuverlässige Informationen und wird dadurch auch leichter zum Opfer staatlicher Propaganda – was kombiniert mit Transferleistungen den Ausgang von Wahlen entscheidend beeinflussen kann.
Aneignung landwirtschaftlicher Subventionen durch behördliche Funktionsträger
Bevor wir die politischen Motivationen betrachten, die für die Verteilung landwirtschaftlicher Subventionen eine Rolle spielen können, untersuchen wir, ob sich lokale Eliten diese Gelder aneignen können. Da die Unterstützung der Landwirtschaft in Russland hauptsächlich auf regionalpolitischer Ebene angesiedelt ist, liegt es nahe, die Motive von Regionalpolitikern zu untersuchen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Abgeordnete von Regionalparlamenten (anders als ihre Kollegen auf föderaler Ebene) neben ihren Hauptpositionen zusätzlich auch als Unternehmer tätig sein dürfen (sie werden dann als »moonlighting politicians« bezeichnet). Daraus ergibt sich, dass Abgeordnete bei der Zuweisung und Verteilung landwirtschaftlicher Subventionen persönliche Interessen verfolgen oder voreingenommen sein können. Wir stellen daher die Hypothese auf, dass Regionalparlamente mit mehr landwirtschaftlichen Unternehmern als Abgeordneten dem landwirtschaftlichen Sektor tendenziell mehr Subventionen zuweisen werden.
Zur Prüfung dieser Hypothese arbeiten wir mit einem einzigartigen Datensatz des russischen Landwirtschaftsministeriums zu landwirtschaftlichen Subventionen in den Jahren 2008 bis 2015. Diesen ergänzen wir durch Parlamentarierverzeichnisse aus 78 russischen Regionen und weisen unter Verwendung einer SPARK-Datenbank außerdem alle Unternehmen aus, die lokalen Parlamentsabgeordneten gehören. Anhand offizieller Unternehmensklassifizierungen konnten wir für ein vorgegebenes Parlament und einen vorgegebenen Zeitpunkt errechnen, wie hoch der Anteil der Abgeordneten ist, die ein landwirtschaftliches Unternehmen besitzen, und wie hoch die Anzahl der landwirtschaftlichen Unternehmen ist, die auf jeden Abgeordneten entfallen. Grafik 3 zeigt, wie sich das landwirtschaftliche Interesse auf sämtliche russische Regionalparlamente verteilt. Neben einer Häufung von Regionen mit mehr als 30 Prozent an Parlamentariern mit landwirtschaftlichen Unternehmen im Nordkaukasus sehen wir große Unterschiede, die unabhängig davon sind, wie wirtschaftlich bedeutsam der Agrarsektor für die jeweilige Region ist. Zusätzlich weisen wir für die Zeit von 2008 bis 2015 Unternehmen aus, die Gouverneuren und Landwirtschaftsministern gehören. Als ein Ergebnis konnten wir das Verhältnis zwischen landwirtschaftlichen Interessen in Regionalparlamenten und Zuweisungen von Subventionen an die Landwirtschaft ökonometrisch modellieren; hierzu haben wir dynamische Paneldatenmodelle verwendet.
Die ermittelten Ergebnisse legen nahe, dass es bei der Verteilung der landwirtschaftlichen Subventionen in Russland zu Aneignungen durch Behördenvertreter und offizielle Funktionsträger kommt. Insbesondere haben wir herausgefunden, dass es dann zu höheren Kofinanzierungen durch die Regionen kommt, wenn der Anteil der Abgeordneten mit einem landwirtschaftlichen Unternehmen höher ist. Interessanterweise können Landwirtschaftsminister, die mindestens ein Unternehmen besitzen, häufiger mit höheren regionalen Kofinanzierungen in Zusammenhang gebracht werden, während dies für Gouverneure nicht gilt. So scheinen Regionalpolitiker, die in ihren Landwirtschaftsbetrieben tätig sind, stärker dem Anreiz ausgesetzt zu sein, auf eine landwirtschaftliche Förderung in ihren Regionen zu drängen.
Verteilungspolitische Praktiken und landwirtschaftliche Subventionen
Landwirtschaftliche Subventionen können nicht nur der Generierung eigener wirtschaftlicher Vorteile (Rent-Seeking) dienen, sondern auch von amtierenden Regierungen zur Maximierung ihrer politischen Unterstützung instrumentalisiert werden. Dabei können sowohl regionale Regierungen als auch die Zentralregierung Subventionen strategisch zuweisen und verteilen, um die Macht von Einiges Russland zu zementieren. Etliche Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Zentralregierung Transferzahlungen an Regionalregierungen zu diesem Zweck eingesetzt hat. Diese Transferzahlungen basieren genauso wie landwirtschaftliche Subventionen auf fiskalpolitischen Verteilungsschlüsseln und belaufen sich auf etwa ein Prozent des BIP. Wir wenden uns nun dieser Literatur zu und betrachten die Debatte darüber, welcher Strategie die derzeitige Regierung zur Maximierung ihrer politischen Unterstützung folgt. Zum einen könnte sie sich auf ihre loyalen Wähler oder ihre Kernwählerschaft konzentrieren und diese für ihr Stimmverhalten bei den letzten Wahlen belohnen. Umgekehrt könnte sie aber auch die Wechselwähler in den Blick nehmen – also jene Gruppen, die als potentielle Wähler von konkurrierenden Parteien für Einiges Russland bei den nächsten Wahlen gewonnen werden könnten. Außerdem könnte die Regierung mit großen landwirtschaftlichen Unternehmen zusammenarbeiten, um Wähler zu mobilisieren. Da die Überzeugung am Arbeitsplatz als wichtige Strategie zur Wählermobilisierung in Russland ausgemacht wurde, könnte die Ausschüttung von Subventionen an große landwirtschaftliche Betriebe mit vielen Angestellten für die Regierung ein Motiv sein – in der Hoffnung, im Gegenzug mehr Stimmen für Einiges Russland zu erhalten.
Wir überprüfen diese Hypothesen unter Verwendung desselben Datensatzes zu landwirtschaftlichen Subventionen und ergänzen diesen mit Daten zu den Ergebnissen der Föderal- und Regionalwahlen in den Jahren 2008 bis 2015. Um zu testen, ob eher versucht wurde, Wechsel- oder Stammwähler zu beeinflussen, ermitteln wir den Vorsprung mit dem Einiges Russland die jeweilige Wahl gewonnen hat. Niedrige Vorsprünge deuten auf einen stärkeren politischen Wettbewerb und damit auch darauf hin, dass es in diesen Regionen überwiegend Wechselwähler gibt. Außerdem gehen wir davon aus, dass Stammwähler vor allem in den Regionen mit hohen Gewinnvorsprüngen zu finden sind. Zusätzlich zu den Proxies für den politischen Wettbewerb berechnen wir den Gini-Koeffizienten als Maß zur Erfassung der in einer Region vorhandenen großen landwirtschaftlichen Betriebe. Der Gini-Koeffizient drückt aus, wie stark die Vermögenswerte sämtlicher landwirtschaftlicher Betriebe einer Region in einem Jahr in wenigen Betrieben konzentriert sind.
Die Ergebnisse des dynamischen Paneldatenmodells weisen auf strategische Verteilungspraktiken hin, in deren Rahmen große landwirtschaftliche Betriebe als Hebel zur Wählermotivation fungieren. Ökonometrische Schätzungen deuten außerdem darauf hin, dass sowohl die Subventionen seitens der Zentralregierung als auch seitens der Regionalregierungen in denjenigen Regionen höher sind, in denen Einiges Russland bei den letzten Wahlen in einem stärkeren Wettbewerb stand. Das stützt die Wechselwähler-Hypothese. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass die landwirtschaftlichen Subventionen tendenziell eher an Regionen fließen, in denen es große landwirtschaftliche Unternehmen gibt. Außerdem scheinen Regionalregierungen großen landwirtschaftlichen Betrieben dann überproportional viele Subventionen zuzuweisen, wenn es einen starken politischen Wettbewerb in ihren Regionen gibt, wenn also Einiges Russland bei den letzten Wahlen nicht gut abgeschnitten hat. Am deutlichsten zeigt das Grafik 4 auf der nächsten Seite. Wir sehen, dass der »Wechsel-Regionen-Effekt« auf der Zentralebene additiv zum Tragen kommt, während er sich auf regionaler Ebene multiplikativ auswirkt – hier verläuft die Kurve steiler, die das Verhältnis zwischen dem Proxy der großen landwirtschaftlichen Betriebe und den Subventionen darstellt. Das legt nahe, dass Stimmenfang für die Zuweisung regionaler Subventionen eine größere Rolle spielt.
Schlussfolgerung
Dieser Beitrag liefert eine kurze Zusammenfassung zweier Forschungsarbeiten zur politischen Ökonomie der Verteilung von landwirtschaftlichen Subventionen in Russland. Da die regional unterschiedliche Höhe der Subventionen über wirtschaftliche Faktoren kaum erklärt werden kann, untersuchen wir die Motive der wichtigsten Akteure für die Zuweisung der landwirtschaftlichen Subventionen als Transferleistungen. Dabei finden wir erstens Hinweise auf die Aneignung landwirtschaftlicher Subventionen durch behördliche Funktionsträger, denn Regionalparlamente mit einem höheren Anteil von Abgeordneten mit landwirtschaftlichen Unternehmen vergeben tendenziell mehr regionale Subventionen. Aufgrund fehlender Datengrundlagen können wir nicht feststellen, ob die entsprechenden Abgeordneten direkt von den Subventionen profitieren oder ob sie als »Politiker mit Nebentätigkeit« aus ideellen Motiven positiv gegenüber der Unterstützung der Landwirtschaft eingestellt sind. Dass die Gesetze auf regionaler Ebene weniger restriktiv in Bezug auf die Kombination von politischen Ämtern und unternehmerischer Tätigkeit sind, könnte Rent-Seeking-Motive begünstigen.
Zweitens scheinen die Motive der russischen Regierung bei der Verteilung staatlicher Subventionen abhängig zu sein von den Strategien der Weiterverteilung, die wiederum die politische Unterstützung der amtierenden Machthaber maximieren sollen. Wir können zeigen, dass die Zentralregierung wie auch die Regionalregierungen mehr landwirtschaftliche Subventionen an die »Regionen mit Wechselwählern« vergeben, in denen Einiges Russland bei den letzten Wahlen mit stärkerem politischen Wettbewerb konfrontiert war. Womöglich sorgt ein gewisses Maß an Verschwiegenheit dafür, dass beide Regierungsebenen sich der beschriebenen Instrumente zur Mobilisierung ländlicher Wähler bedienen können. Außerdem könnten die Transferleistungen noch effizienter werden, wenn über sie große landwirtschaftliche Unternehmen als Stimmenfänger gewonnen werden können.
Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit Ergebnissen aus der Literatur über nichtlandwirtschaftliche Sektoren. Dabei ist der russische Fall keineswegs einzigartig. Ähnliche Effekte wurden auch in anderen Kontexten beobachtet, unter anderem in den USA und der EU. Treffen schwache Institutionen auf autoritäre und zentralistische Beziehungen zwischen Regierungsebenen, entsteht eine besonders fruchtbare Umgebung für strategische Verteilungspraktiken im Rahmen landwirtschaftlicher Subventionspolitik.