»Schau mich gefälligst an!«

Von Andrej Archangelski (Moskau)

Einleitung Dekoder

»Schau mich gefälligst an!« Rüde und duzend fuhr der russische stellvertretende UN-Botschafter Wladimir Safronkow seinen britischen Kollegen Mitte April 2017 an, als es im UN-Sicherheitsrat um den Giftgasan- griff auf die syrische Stadt Chan Scheichun ging.

Andrej Archangelski nimmt diese jüngste Verbalattacke zum Anlass, um auf Colta.ru den Umgangston mit dem Westen genauer anzuschauen.

»Wage nicht, Russland weiter zu beleidigen! // Ihr tut alles dafür, dass ein Zusammenwirken (zwischen Russland und den USA) // untergraben wird. Grade deshalb … Schau mich gefälligst an! // Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen! // … Genau deswegen hast du heute nichts gesagt über den politischen // Prozess. Hast absichtlich beim Vortrag von Mistura nicht hingehört … « (https://www.youtube.com/watch?v=I-a3DcZHq8o, 0:17 bis 0:52)

»Schau mich gefälligst an! Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen!« Das ist also die besagte »neue Aufrichtigkeit«, die Russland der internationalen Gemeinschaft anbietet. Bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsche geht die Intonation verloren – übrig bleibt nur ein »Wir haben recht und ihr unrecht, weil ihr immer unrecht habt«.

Das Argumentationsschema ist auch schon lange bekannt: »Wenn ihr dürft – dann dürfen wir erst recht.« Und deswegen war das externe Publikum (internationale Agenturen und Medien) nicht sonderlich erstaunt über diesen Auftritt, der eigentlich nur eine Wiederholung aller vorangegangenen ist.

In Russland wird Safronkows Rede von der Mehrheit aufgefasst als »er hat’s ihnen gezeigt«, »hat ihnen eins reingedrückt«, sie »bestraft«.

Russland putzt alle runter und macht sich über alle lustig, herrlich! Dass das der Intelligenzija aufstößt, umso besser: Dann kriegen die auch gleich eins rein.

Nun denn, diese Ausdrucksweise zeigt in verschiedenen Milieus unterschiedliche Wirkung – und erzielt überall den gewünschten Effekt.

Die Antwort auf die Frage »Warum reden die so?« ist: Weil es sich lohnt und leicht geht. Kulturelle Normen – was soll’s, man wird’s überleben, und der Kreml gibt mit seinem Lob für Safronkow zu verstehen, Normen seien jetzt nicht so wichtig, es gehe vor allem darum, »die Interessen Russlands zu behaupten«. Bleibt nur die Frage: Warum gefällt das ihnen, den Diplomaten? Wie rechtfertigen sie das vor sich selbst, außer dass es »fürs Vaterland« ist? Was für eine »neue Denkart« steht dahinter? Was für ein Weltbild?

Oleg Kaschin hat die Psychologie der neuen Eliten wohl am besten beschrieben – nämlich, dass weder eine Maria Sacharowa noch, sagen wir, der Abgeordnete Degtjarjow schon immer so waren. Sie haben nur begriffen, dass ein solches Gebaren heute die Norm ist, die sozialen Erfolg garantiert. Du fällst sofort auf und wirst als ranghoch vermerkt.

Diese neue Stilistik entspringt aber weder einem Gossenjargon noch einer »Verhörsprache«, wie viele annehmen. Der Autor geht vielmehr davon aus, dass das eine relativ junge Sprache ist, entstanden an den sonnigen Stränden der 2000er Jahre – damals hatten Reisen von Russen in den Westen Hochkonjunktur. Und da entwickelte sich auch eine seltsame Tradition: Nach der Rückkehr wurde über alles geschimpft. Es ist dreckig, die Leute sind bösartig, zu viele Migranten, da fahren wir nicht mehr hin, und das soll euer hochgelobter Westen sein.

Ablehnung dieses »überzogenen Lächelns«

Leute, die zehn bis 15 Jahre davor von so einem Urlaub nicht mal hatten träumen können, taten so, als hätten sie ihre ganze Kindheit in Miami Beach verbracht – warum? Meine Hypothese: Die Leute nahmen viel Geld mit – der Ölpreis war gerade am Zenit – und dachten, wie es in der sowjetischen Zeitschrift Krokodil hieß, »im Westen kann man für Geld alles kaufen«. Und waren auf einmal damit konfrontiert, dass man, um sich wohl zu fühlen, noch etwas anderes mitbringen muss als Geld. Diese oftmals verlachte westliche »Fähigkeit zu lächeln« bedeutet in Wirklichkeit einfach, für Kommunikation und eine freundliche Atmosphäre zu sorgen.

Damit diese Kommunikation gelingt, muss man andere Menschen und Verschiedenheit an sich wenigstens ein bisschen mögen. Das gehörte aber erstens nicht in die Psychologie der neuen Herren, und zweitens galt es als demütigend, sich »anzupassen«.

Aus diesem Schock heraus entstand ein Abwehrmechanismus: das aggressive Auslachen und eine Ablehnung dieses »überzogenen Lächelns«. Zur Selbstberuhigung braucht man diese Welt nur als scheinheilig und verlogen zu bezeichnen: Die sind deshalb höflich, weil sie Weicheier und Gauner sind. Diese Erklärung macht aus der eigenen Grobheit eine spezielle Art Anstand.

Dann bekam diese Position einen existenziellen Stützpfeiler in Form von Stolz auf die Siege Russlands. Die patriotische Propaganda prägte uns schnell ein, wir seien die Besten, die ganze Welt sei uns verpflichtet. Dadurch erlangen wir das eigentümliche Recht, im Namen absoluter Legitimität zu sprechen.

Die Strandphilosophie hatte plötzlich eine moralische Grundlage, und jeder Kampf um eine freie Liege wurde zum Kampf um die Wahrheit auf Erden. Als psychologischen Schutz legte man sich diese verächtlich-spöttische Intonation zu, die sich dann endgültig im propagandistischen Diskurs etablierte.

Ein Sprechen im Namen absoluter Legitimität bedarf keiner Beweise: Wir haben recht, weil wir recht haben. Diese Idee wurde schon in den Filmen Brat und Brat-2 formuliert, mit der Formel »in der Wahrheit liegt die Macht«, bei der unklar bleibt, was zuerst da ist: Die Wahrheit oder die Macht? Und genau diese Unklarheit birgt die versteckte Drohung »Wir können das wiederholen« in sich, die eben allen recht ist.

Wichtig ist, dass diese Sprache jegliche Komplexität leugnet und die Welt ignoriert. Das Gegenteil dieser gewaltsamen Sprache ist der Dialog.

Bei den Begriffen »Dialog« und »Kommunikation« denkt der gebildete Mensch sofort an das Zauberwort »Habermas«.

In den frühen 2000er Jahren war der deutsche Philosoph bei uns vorübergehend ein Star. Bezeichnend ist, dass im Endeffekt nur ein verdrehtes, unanständiges Sprichwort über sexuelle Orientierung im kollektiven Gedächtnis hängengeblieben ist. Das Hauptwerk von Habermas, die Theorie des kommunikativen Handelns, ist bis dato nicht ins Russische übersetzt.

Sehr vereinfacht besagt diese Theorie: Der Dialog ist nicht das Reden, nicht das Mund-Aufmachen, sondern vor allem die Bereitschaft, den anderen wahrzunehmen, oder sich auf den anderen einzulassen, wie der Philosoph Paul Ricœur meinte.

Die Bereitschaft zum Dialog selbst ist wichtiger als das Sprechen; es geht darum, »die Welt anzunehmen«, sich auf die Welt einzustellen.

Genau das ist Kommunikation: Der einzige Weg, den unvermeidbaren kulturellen Graben zwischen den Menschen wenigstens irgendwie zu überbrücken.

Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann; man soll nicht darauf fokussieren, den Streit zu gewinnen, sondern darauf, das Gespräch selbst zu erhalten, die Gesprächspartner.

Unser Dialog ist die Abkehr vom anderen, und dass man ihm diese Abkehr auf jede erdenkliche Art und Weise vorführt, vor allem im Unterton. »Ich hör dich nicht, ich huste dir was, du bist ein Niemand«, das ist die Kurzform unserer Antwort auf Habermas.

Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis. Wir werden uns wehren bis zum Letzten, aber geben dem anderen nicht die geringste Chance. Dieses »Schau mich gefälligst an!« ist eine symbolische Ausformung dieser »Kultur der Dialogverweigerung«.

Im Gefolge ihres Obersten Befehlshabers verweigern sie (unsere Diplomaten) bewusst die Sprache des Dialogs. Das bedeutet zugleich eine Lossagung von menschlicher Selbstbeherrschung, von der gesamten modernen Kultur, ein Ausscheiden aus der Welt. Diese Lossagung wird sofort über die Kapillaren auf die ganze Gesellschaft übertragen – und von ihr als Norm verinnerlicht.

Wir beobachten das bereits am Beispiel skurriler Dialoge zwischen Lehrern und Schülern, die nach dem 26. März im Netz auftauchten – so etwas kann man schon als umfassenden »Disconnect« bezeichnen. Abwärts geht immer leichter als aufwärts, und wundern muss einen dieser beschleunigte Fall nicht.

Der wunde Punkt: die Moral

Aber es gibt bei dieser Begebenheit am 12. April vor der UNO noch einen Aspekt. Was hatte Großbritanniens UN-Vertreter, Matthew Rycroft, denn eigentlich gesagt, was hat unserem Vertreter so zugesetzt? Er hatte das Gespräch auf eine universelle Ebene gebracht, es in die Sprache der Ethik übersetzt – die Handlungen Assads moralisch bewertet und den Gegenüber dazu aufgefordert, sich auf dieselbe Ebene zu begeben. Das ist unerträglich, hier hat Rycroft einen wunden Punkt getroffen.

Im aktuellen Russland wurde die Moral nicht erdacht, nicht durchdacht, nicht durchformt. Jedes Mal, wenn du unsere Vertreter hörst, willst du fragen: Welche universellen Werte vertreten Sie? Aus welcher menschlichen Position heraus? Wie auch immer man die sowjetische Diplomatie dreht und wendet, sie appellierte an universelle Werte – an Ideen des Internationalismus oder die Solidarität der Werktätigen. Doch der aktuellen Ideologie Russlands fehlt dafür der Begriffsapparat; für die Artikulation einer moralischen Position gibt es dort schlicht keine Wörter.

Und deswegen kommt die Phrase »vom moralischen Standpunkt aus sprechen« als Beleidigung an, als Schlag in die Magengrube. Zwecks Abwehr greift man dann zu dem Postulat, Moral sei bloß Druckmittel, Spekulation, PR. »In der Welt betrügt jeder jeden, und Moral ist nur ein Wort.« Diese negative Ethik ist uns auch wohlbekannt.

»Guck her! Schau mich gefälligst an!«, ist auch eine Sprache der Moral, aber auf einem anderen Niveau. Das ist die Position einer apriorischen Schuld des Gegenübers.

Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan – aber so weit wird es hoffentlich nicht kommen.

Übersetzung (gekürzt) von Ruth Altenhofer

Stand: 25.04.2017

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