Mangelnde Transparenz
Am 10. März 2021 kündigte die für die Einhaltung der Medien- und Telekommunikationsgesetze zuständige russische Aufsichtsbehörde Roskomnadsor an, dass sie Twitter auf »100 Prozent des mobilen Datenverkehrs und 50 Prozent des Datenverkehrs von Desktopgeräten« drosseln werde. Der Grund, warum Russland Twitter drosselte: Das Social-Media-Unternehmen weigerte sich, über 3.000 Materialien zu löschen, die die Behörden als gesetzeswidrig erachteten.
Schon kurz nach der Ankündigung meldeten russische Nutzer:innen, dass sich der Zugang zu mehreren Websites und Online-Dienste verlangsamt hatte. Später bestätigten Expert:innen, dass über 40.000 Domains mit t.co (Twitters verkürzter Domainname) betroffen waren. Als Russland Twitter drosselte, verlangsamte es auch die Webseiten von wichtigen Regierungsinstitutionen, darunter dem Kreml und der russischen Staatsduma, sowie wichtigen Plattformen und Diensten wie Yandex, Google, YouTube und Qiwi.
Aufgrund der mangelnden Transparenz wissen wir nicht, welche technischen Mittel die russischen Behörden zum Einsatz brachten, um Twitter zu drosseln. Russische Bürgerrechtler:innen, etwa von der Internet Protection Society und Roskomswoboda, vermuten, dass die Drosselung mithilfe einer Reihe von Netzwerküberwachungs- und Zensurinstrumenten durchgeführt wurde, die angeblich erfolgreich als Teil des sogenannten »Gesetzes über das souveräne Internet« getestet wurden. Die Technologie zur Umsetzung des Gesetzes wird Berichten zufolge von der russischen Firma RDP bereitgestellt.
Roskomnadsor versuchte, einen Teil der Webseitensperrungen auf einen Brand bei der Cloud-Service-Firma OVHcloud im französischen Straßburg zu schieben. Darüber hinaus gab Rostelecom, Russlands führender Telekommunikationsanbieter, eine Erklärung heraus, in der behauptet wurde, dass die russischen Regierungswebseiten aufgrund eines Fehlers in einem Rechenzentrum von Rostelecom nicht erreichbar seien. Sowohl Tech-Unternehmen als auch die russische Zivilgesellschaft sind misstrauisch und kritisch gegenüber diesen Versuchen, die Schuld für die Drosselung und den dadurch verursachten Kollateralschaden von sich zu weisen.
Eine kurze Geschichte von Shutdowns und Sperrungen von sozialen Medien in Russland
Die Drosselung der Geschwindigkeit von Twitter ist Teil eines jahrelangen Bestrebens der russischen Zensurbehörde, um Twitter und andere Tech-Giganten zu zwingen, den Anordnungen von Roskomnadsor Folge zu leisten. Auch Google hat die Zensurbehörde im Blick: Das amerikanischen Unternehmen wurde bereits mehrfach zu Geldstrafen verurteilt, zuletzt im Dezember 2021 zu drei Millionen Rubel (ca. 41.000 US-Dollar) gemäß Artikel 13.40 des russischen Gesetzbuches für Ordnungswidrigkeiten. Im selben Monat legte das russische Parlament nach und verabschiedete ein Gesetz, das die Geldstrafen für Unternehmen, die sich den Zensuranordnungen widersetzen, auf bis zu 20 Prozent ihres Jahresumsatzes in Russland erhöht. Anfang dieses Monats reichten die russischen Behörden auch eine Klage gegen Google, Facebook, Telegram, TikTok und Twitter ein, weil die Unternehmen es versäumt hatten, Beiträge zu löschen, die Kinder dazu aufforderten, an den landesweiten Protesten zur Unterstützung des inhaftierten Oppositionsführers Alexej Nawalnyj teilzunehmen.
Die russischen Behörden haben auch Social-Media-Unternehmen blockiert und mit Geldstrafen belegt, weil sie das russische Gesetz zur Datenlokalisierung nicht eingehalten haben. Dieses verlangt von Unternehmen, die personenbezogenen Daten russischer Bürger:innen auf russischen Webservern zu speichern. 2016 sperrte Russland LinkedIn wegen Missachtung des Artikels 15.5 des Informationsgesetzes. 2019 verurteilten russische Friedensrichter Twitter und Facebook zu Geldstrafen wegen Verstößen gegen Artikel 19.7 des Gesetzbuches für Ordnungswidrigkeiten.
Russland versuchte auch erfolglos, Telegram zu sperren und verhängte gegen das Unternehmen eine Geldstrafe wegen Nichteinhaltung der Anti-Terror-Gesetzgebung aus dem Jahr 2018, die auch als »Jarowaja-Gesetz« nach der gleichnamigen Duma-Abgeordneten Elena Jarowaja bekannt ist. Dieses Gesetz verlangt von Telekommunikationsanbietern, den Sprach- und Nachrichtenverkehr sowie die für die Verschlüsselung von Nachrichten genutzten Algorithmen zu speichern und sie dem russischen Föderalen Sicherheitsdienst FSB auf Anfrage zur Verfügung zu stellen. Der Versuch, Telegram zu blockieren wies ähnliche Merkmale auf wie die Drosselung von Twitter in diesem März: Sie führte ebenfalls zu massiven Internetproblemen bei vielen Onlinedienstleistern in ganz Russland.
Russland verlangsamt nicht nur jene Dienste, die sich nicht an die Zensuranweisungen der Behörden halten. Bei Protesten wird nicht selten das mobile Internet gedrosselt. So schaltete die Regierung der nordkaukasischen Republik Inguschetien in den Jahren 2018 und 2019 das mobile Internet während friedlicher Proteste gegen das Grenzabkommen mit dem benachbarten Tschetschenien ab. Im Juli und August 2019 blockierten die Moskauer Behörden das mobile Internet während lokaler Wahlproteste.
Außerdem meldeten im Jahr 2019 einige Betreiber anonym Netzstörungen im Zusammenhang mit Tests der DPI-Technologie, die im Rahmen der Umsetzung des »Gesetzes über das souveräne Internet« im Ural aufgetreten waren.
Laut humanitärem Völkerrecht ist das illegal
Twitter und andere Unternehmen, die von der Drosselung betroffen sind, haben das Recht, die Entscheidung von Roskomnadsor vor russischen Gerichten anzufechten. Der russische Anwalt Stanislaw Selesnjow hat bereits den Generalstaatsanwalt gebeten, zu prüfen, ob die Maßnahmen von Roskomnadsor, die dazu führten, dass »Nutzer:innen in Russland und außerhalb der russischen Staatsgrenzen Schwierigkeiten beim Zugriff auf offizielle Websites russischer Regierungsbehörden, Banken, Zahlungssysteme und Betreiber von Telekommunikationsdiensten« hatten, rechtmäßig waren.
Die Chancen, dass die russischen Behörden dem Schutz des Rechts der Nutzer:innen auf freie Meinungsäußerung und Zugang zu Informationen Priorität einräumen, sind jedoch gering. Während die russische Verfassung das Recht, Informationen zu suchen und zu vermitteln sowie die Meinungsfreiheit garantiert, erlaubt das russische Informationsgesetz die Einschränkung von Inhalten, die die Regierung für gesetzeswidrig hält. Das »Gesetz über das souveräne Internet«, das kürzlich geändert wurde, um Ordnungsstrafen für Verstöße einzuführen, enthält auch Bestimmungen, die es Roskomnadsor erlauben, Gefahren im Internet durch »Eingriffe in das Routing von Telekommunikationsnachrichten« und »Änderung der Konfiguration von Kommunikation« zu beseitigen.
Russische Gerichte haben sich in Bezug auf die Sperrung von Inhalten in sozialen Medien und Internet-Shutdowns auf die Seite der russischen Behörden gestellt. Im Fall von LinkedIn bestätigte ein Moskauer Gericht die Entscheidung der unteren Instanz, die Roskomnadsor angewiesen hatte, LinkedIn-Domainnamen, Webadressen und IP-Adressen in ein Register von Unternehmen einzutragen, die gegen russische Datenschutzgesetze verstoßen, wodurch das Unternehmen später mit einer Sperrung belegt wurde.
Das Gericht in Magas in der Republik Inguschetien wies ebenfalls eine Klage des in Inguschetien lebenden Murad Chasbijew gegen die von der Regierung angeordneten Internetshutdowns ab und entschied, dass die Shutdowns im Einklang mit Artikel 64 des russischen Kommunikationsgesetzes stehen, das Telekommunikationsunternehmen verpflichtet, die Strafverfolgungsbehörden bei operativen Ermittlungsmaßnahmen zu unterstützen.
Das humanitäre Völkerrecht lässt jedoch keine Zweifel daran, dass Internetshutdowns und wahlloses Sperren von Websites nicht zulässig sind. Tatsächlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer Reihe von Entscheidungen, u. a. in den Verfahren »Wladimir Charitonow gegen Russland« und »OOO Flawus und andere gegen Russland«, entschieden, dass eine breit angelegte, flächendeckende Sperrung von Websites eine extreme und unverhältnismäßige Maßnahme ist, die die Meinungsfreiheit und das Recht auf eine wirksame Beschwerde (Artikel 10 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention) verletzt. Access Now erwarten weitere Urteile des EGMR zu diesen Themen, da seit letztem Jahr die Sperrung und Geldstrafe von Telegram in »Telegram gegen Russland« und die Beschwerde von Murad Chasbijew gegen die mobilen Internetshutdowns in Inguschetien beim Gerichtshof anhängig sind.
Wie geht es weiter? Die russische Zivilgesellschaft stellt sich auf weitere Zensur und Internetshutdowns ein
Die russischen Behörden drosseln weiterhin für bestimmte Nutzer:innen Twitter und viele andere Websites, zu denen auch Regierungsseiten gehören. Roskomnadsor hat angedroht, Twitter komplett zu sperren, wenn es sich nicht an die russische Gesetzgebung hält. Ob die russischen Behörden diese Drohung wahr machen oder ob es ihnen gelingt, die Sperrung umzusetzen, ohne die russische Internet-Infrastruktur weiter zu zerstören, bleibt abzuwarten. Russische Nutzer:innen und Aktivist:innen, die sich für digitale Rechte stark machen, wehren sich gegen die zunehmende Zensur, indem sie Tools entwickeln, um die Ladegeschwindigkeit von Twitter und anderer Webseiten zu testen. Ebenso nutzen sie Virtual Private Networks (VPNs) und andere Apps und Technologien, die es erlauben, die Sperrungen zu umgehen und auf blockierte Online-Inhalte zuzugreifen.
Unabhängig davon, wie es mit Twitter weitergeht, erwartet Access Now, dass die russischen Behörden weiterhin versuchen werden, den Zugang zum Internet und die Meinungsfreiheit einzuschränken. Am 19. September 2021 finden in Russland die Parlamentswahlen statt. Aufgrund der niedrigen Zustimmungswerte der Regierungspartei »Einiges Russland«, die sich auf einem historischen Tief befinden, gehen Expert:innen davon aus, dass sich die russische Regierung nicht an der Macht halten kann, ohne massiven Wahlbetrug zu begehen. Dies erhöht das Potenzial für Internetshutdowns und Sperrungen von Webseiten während der Wahlen und der damit verbundenen Proteste.
Quelle: Access Now, 15. März 2021, https://www.accessnow.org/russia-throttled-twitter/.