Vor den Dumawahlen weitet Russland die elektronische Stimmabgabe aus – warum und mit welchen potenziellen Folgen?

Von Stas Gorelik (George Washington-Universität, Washington D.C./Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Verbreitung neuer Technologien zur Stimmabgabe

2019 wurde recht überraschend bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma eine Online-Stimmabgabe (russ. offiziell: »distanzionnoje elektronnoje golosowanije«) eingeführt (https://meduza.io/en/feature/2019/09/07/shut-up-and-trust-them), allergings vorerst nur in drei städtischen Wahlkreisen (»okrugi«). Im Jahr darauf, im Frühjahr 2020 wurde beschlossen, dass unabhängige Kandidat:innen, die Unterschriften sammeln müssen, um bei regionalen Parlamentswahlen antreten zu können, dies online über das Portal gosuslugi.ru tun können. Darüber hinaus konnten über eine Million Wähler:innen aus Moskau und dem Gebiet Nischni Nowgorod online an der Volksabstimmung über die Verfassungsänderung teilnehmen (https://tass.com/society/1173463;https://www.rbc.ru/politics/01/07/2020/5efccdb09a7947b892449d6a). In diesem Jahr können laut der Zentralen Wahlkommission Russlands neun Regionen bei den Dumawahlen und den anderen Wahlen eine elektronische Stimmabgabe organisieren (https://www.golosinfo.org/articles/145084).

Einerseits mögen diese Neuerungen angesichts der Corona-Pandemie vernünftig erscheinen. Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass damit Wahlbetrug eingedämmt werden kann. In der Tat hatte der begrenzte Einsatz einer elektronischen Stimmabgabe 2019 bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma zu einem Skandal geführt, als in einem der »Online-Stimmbezirke« ein anomal hoher Stimmenanteil für einen Kandidaten festgestellt wurde, den die Stadtverwaltung unterstützt hatte (Einer der Kandidat:innen in diesem Stimmbezirk hatte offiziell Beschwerde eingelegt und sogar eine Internetseite über diesen Fall eingerichtet: https://evoting.ru/en). Im Allgemeinen sind die Instrumente zur Online-Stimmabgabe in Russland übereilt und ohne eine richtige unabhängige Aufsicht entwickelt worden. So ist zum Beispiel immer noch unklar, wie bei den kommenden Wahlen ein System zur Online-Stimmabgabe genau funktionieren soll, und wie die Zivilgesellschaft hier ein Monitoring durchführen könnte (https://www.golosinfo.org/articles/145084).

Wie der Kreml aus den neuen Technologien Kapital schlagen kann

Zunächst kann die Einführung und der zunehmende Einsatz dieser Instrumente für eine Erhöhung der Legitimität genutzt werden, indem demonstriert wird, dass das Regime tatsächlich auf die Unzufriedenheit einiger Wähler:innen dadurch reagiert, dass die Qualität der Wahlen verbessert wird. So kann die Neuerung, dass potenziellen Kandidat:innen eine Unterschriftensammlung über gosuslugi.ru erlaubt wird, als Antwort auf die Moskauer Proteste 2019 betrachtet werden. Diese hatten begonnen, als viele Oppositionskandidat:innen unter dem Vorwand nicht zugelassen wurden, dass die gesammelten Unterschriften in ihren Registrierungsunterlagen ungültig seien.

Wichtiger ist jedoch, dass die Behörden, wenn sie mit Hilfe eines Online-Wahlsystems jemandem Stimmen »entziehen« oder der oder dem »richtigen« Kandidaten:in zusätzliche Stimmen organisieren wollen, nicht mehr auf Mittelsleute wie Mitglieder lokaler Wahlkommissionen oder Direktor:innen staatlicher Unternehmen angewiesen sind. Illegale Maßnahmen, etwa der stapelweise Einwurf manipulierter Stimmzettel oder die Drohung mit Entlassung an Angestellte, die sich dem Regime gegenüber nicht loyal zeigen, können von Aktivist:innen aufgedeckt werden, was diese Mittelsleute mitunter vorsichtig und skeptisch macht, wie Cole J. Harvey zu bedenken gibt. Gleichzeitig zeigen einige Forschungsarbeiten, etwa der Beitrag von Sutton, Butcher und Svensson zu Protestmobilisierung als Antwort auf Repressionen durch die Polizei und der von Philipp Kuntz und Mark Thompson zu Demonstrationen nach Wahlen, dass sichtbare und/oder schnell verfügbare Belege für Verfehlungen der Behörden die Wahrscheinlichkeit von Protesten beträchtlich erhöhen können. Solche Belege während der Wahlen zu erlangen, ist schwierig. Und selbst wenn es zu wachsender öffentlicher Kritik kommt, können neueingeführte Technologien einfach wieder ausrangiert werden. So wurden beispielsweise in Kasachstan die in den frühen 2000er Jahren eingeführten elektronische Wahlmaschinen 2011 wieder abgeschafft, schreibt Maxat Kassen. Würde der Kreml so vorgehen, könnte er wiederum Punkte für seine Legitimität sammeln, weil er vorgeblich eine Reaktion zeigt. Und schließlich können die Behörden elektronisches Wählen und das Online-Sammeln von Unterstützerunterschriften in der Praxis auf strategische und sichere Weise einsetzen. So könnte elektronisches Wählen nur in den Hochburgen des Regimes zugelassen werden. Bei den Parlamentswahlen 2008 in Aserbaidschan war in potenziell »problematischen« Wahlkreisen, in denen auf unverfrorenen Wahlbetrug zurückgegriffen werden musste, die Wahrscheinlichkeit geringer, dass Videokameras installiert wurden, so das Ergebnis einer Studie von Sjoberg. In Russland war es so, dass die Zustimmungsraten zu den Verfassungsänderungen bei denen, die in Moskau und in Nischni Nowgorod online abgestimmt haben, unter dem landesweiten Wert von 78 Prozent lagen, nämlich bei rund 62 bzw. 60 Prozent. Allerdings ist auffällig, dass die Verfassungsänderungen hier nicht einmal von einer Mehrheit jener abgelehnt wurden, die online abgestimmt hatten und von denen anzunehmen ist, dass sie liberaler eingestellt sind als der oder die russische Durchschnittswähler:in. Was die Unterstützerunterschriften anbelangt, so könnte Anwärter:innen für das Regionalparlament erlaubt werden, höchstens die Hälfte der Unterschriften online zu sammeln. Das würde den Behörden immer noch reichlich Raum lassen, sie unter dem gewohnten Vorwand nicht anzuerkennen, dass zu viele der konventionell gesammelten Unterschriften ungültig seien.

Neue Technologien zur Stimmabgabe könnten also die Lage mit den Wahlfälschungen bei den anstehenden Wahlen und in der Folgezeit verschlechtern. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sie massenhafte Unzufriedenheit verhindern werden, wenn die Voraussetzungen hierfür herangereift sind. Einige vergleichende Forschungen zeigen, dass Proteste nach Wahlen nicht oder nicht allein wegen Wahlfälschungen an sich erfolgen. Sie sind wahrscheinlicher, wenn Bürger:innen vom herrschenden Regime aufgrund der sozio-ökonomischen Belastungen enttäuscht sind und beginnen, auf einen Wandel zu hoffen, wie Dawn Brancati und Adrián Lucardi herausgearbeitet haben. In einer solchen Situation kann jedes Ergebnis zugunsten des herrschenden Regimes zum Auslöser werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

  • Bækken, Håvard: Selections before Elections: Double Standards in Implementing Election Registration Procedures in Russia?, in: Communist and Post-communist Studies, 48.2015, Nr. 1, S. 61–70.
  • Brancati, Dawn: Pocketbook Protests: Explaining the Emergence of Pro-democracy Protests Worldwide, in: Comparative Political Studies, 47.2014, Nr. 11, S. 1503–1530.
  • Harvey, Cole J.: Principal–Agent Dynamics and Electoral Manipulation: Local Risks, Patronage and Tactical Variation in Russian Elections, 2003–2012, in: Europe-Asia Studies, 72.2020, Nr. 5, S. 837–862.
  • Kassen, Maxat: Politicization of E-voting Rejection: Reflections from Kazakhstan, in: Transforming Government: People, Process and Policy, 14.2020, Nr. 2, S. 305–330.
  • Kuntz, Philipp; Mark R. Thompson: More than Just the Final Straw: Stolen Elections as Revolutionary Triggers, in: Comparative Politics, 41.2009, Nr. 3, S. 253–272.
  • Lucardi, Adrián: Strength in Expectation: Elections, Economic Performance, and Authoritarian Breakdown, in: The Journal of Politics, 81.2019, Nr. 2, S. 552–570.
  • Sjoberg, Fredrik M.: Autocratic Adaptation: The Strategic Use of Transparency and the Persistence of Election Fraud, in: Electoral Studies, 33.2014 (März 2014), S. 233–245.
  • Sutton, Jonathan; Charles R. Butcher, Isak Svensson: Explaining Political Jiu-jitsu: Institution-building and the Outcomes of Regime Violence against Unarmed Protests, in: Journal of Peace Research, 51.2014, Nr. 5, S. 559–573.

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