Wird das Putin-Regime überleben?

Von Andreas Heinemann-Grüder (Universität Bonn)

Das Putin-Regime ist ein lernendes autoritäres Regime; es ist zwar nicht gegen Krisen gefeit, jedoch widerstandsfähig. Russland ist keine elektorale Autokratie mehr, weil die Wahlen zu Plebisziten verkommen sind, bei denen es keine echte Alternative gibt. Viele Entscheidungen werden ad hoc getroffen, jenseits von Institutionen und rechtlichen Beschränkungen, die Legitimität verleihen und Qualität sichern. In Putins Russland verstärken sich der Absolutismus des Autokraten, der Autismus der führenden Kreise und die Autonomie der Sicherheitsapparate gegenseitig. Seit 2012 ist Putin mit juristischen Schritten und Repressionen vorgegangen und hat viel in Medienkampagnen investiert, um sein Regime abzusichern und vor Störfaktoren zu schützen, die ihm gefährlich erscheinen. Putins präventive Konterrevolution ist bisher erfolgreich gewesen, wobei er die unabhängige Zivilgesellschaft kriminalisiert, oppositionelle Kräfte als fünfte Kolonne des Westens diffamiert, die Massenmedien kontrolliert und die sozialen Medien instrumentalisiert, die Reichweite der Sicherheitsapparate ausdehnt und Cyberattacken in Auftrag gibt.

Putins Regime wird so lange überleben, wie es hinreichend staatliche Strukturen unter Kontrolle hat. Die Sicherheitsdienste und das Justizsystem haben das Gewaltmonopol; der Staat ist in der Lage, Steuern zu erheben und andere Ressourcen zu mobilisieren; er gewährt die grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen und die Verfahren der Bürokratie funktionieren. Russland hat keinen Krieg verloren. Putins Herrschaft hat Kompensationen für den Verlust von Russlands Status nach der Auflösung der Sowjetunion geliefert und das Unbehagen vergessen lassen, dass das Land von den ehemaligen sowjetischen Verbündeten in Osteuropa und China wirtschaftlich überholt wurde. Putin hat es zudem geschafft, der nie eingestandenen kollektiven Scham über die massenhaften Verbrechen in der Sowjetunion etwas zum Ausgleich entgegenzusetzen, indem er die Vorstellung von der historischen Größe Russlands und der Sowjetunion vorantrieb. Putins Rache für die gefühlte Erniedrigung, für die russische Variante des Versailles-Syndroms, stößt bei jenen Altersgruppen auf Resonanz, die ihre prägenden Jahre in der Sowjetunion und in den 1990er Jahren erlebt haben.

Russlands Rückfall in die Autokratie fügt sich in den globalen Trend der vergangenen 20 Jahre, bei dem die Demokratie zum Stillstand gekommen ist und eine Umkehr erfährt. Gleichzeitig halten sich hartnäckig Militär-, Einparteien- und personalistische Regime. Das Problem der Nachfolge für Putin ist nicht gelöst, allerdings sollten Thronfolgekrisen auch nicht überbewertet werden: Aserbaidschan, China, Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan haben die Nachfolgefrage ohne Systemkrise bewältigt.

Gleichwohl werden politische Regime für gewöhnlich instabil, sobald die aufwärts gerichtete soziale und politische Mobilität unterdrückt wird, sobald eine Gerontokratie wie die der Breschnew-Ära zementiert ist und sobald die Zahl der Nutznießer schrumpft. Die Kleptokratie der Kamarilla in Russland konnte auf schweigende Zustimmung rechnen, solange das Regime in der Lage war, Güter an die Klientelen zu verteilen. Die soziale Klientel schrumpft jedoch und das sorgt für Unzufriedenheit, insbesondere in der städtischen Mittelschicht.

Das Regime Putins radikalisiert sich umso stärker, je mehr Quellen seiner Legitimität verpuffen, etwa Putins Image als Gegenentwurf zu Jelzin und als Messias in James-Bond-Manier. Das Appellieren an die Werte des Homo Sovieticus, an orthodoxe Traditionen oder den Hurra-Patriotismus nach der Annexion der Krim verlieren an Zugkraft. Die Generation, die nach der Auflösung der UdSSR geboren wurde, wird von der Propaganda des Kremls und dem staatlichen Fernsehen nicht mehr erreicht. Staatlich geförderte Bewegungen wie früher Naschi können die Jugend schon nicht mehr mobilisieren. Die Unterstützung für das Regime nimmt eher ab. Russlands Modell als Ölstaat ist außer Mode, das Zeitalter fossiler Brennstoffe neigt sich seinem Ende zu.

Die Radikalisierung des Putin-Regimes entspringt auch der Struktur politischer Macht. Radikalisierung entstammt nicht ideologischer Weltsichten; der führende Kreis im Kreml ist antiliberal, aber sonst frei von jeder Weltanschauung. Entscheidungen werden von einem sehr kleinen Kreis aus Putins Kumpanen getroffen, ohne Gegengewichte in institutioneller oder persönlicher Form. Der innere Kreis geht auf autistische, stereotype Weise vor. Während Nähe zum Präsidenten Macht bedeutet, gibt es allerdings mehrere »Vertikalen der Macht«. Jeder der Akteure im institutionellen Gefüge muss abwägen, welcher der Einflusskanäle vorteilhafter ist. Russland besteht aus einem System konkurrierender Sonderbeauftragter (»kuratory«). Allerdings ist es nicht immer leicht herauszufinden, wer nun gerade von Putin favorisiert wird. In Russlands politischem Regime herrscht eine Kombination aus Autokratie und Anarchie. Das führt zu schlechten Entscheidungen, die dann vertuscht oder korrigiert werden müssen. Der ständige Druck, Fehler und Mängel unter den Tisch zu kehren, erzeugt Nervosität, Schuldzuweisungen und radikale Lösungen. Der fehlgeschlagene Versuch, Alexej Nawalnyj umzubringen, passt hier ins Bild. Bellingcat und Nawalnyjs Team haben die Täter enthüllt. Diese Art von Scheitern provoziert eine Suche nach Schuldigen, denn das jeweilige Syndrom des Scheiterns muss korrigiert werden.

Und schließlich wird die Radikalisierung durch die Autonomie der Sicherheitsdienste und die Konkurrenz zwischen ihnen befeuert, insbesondere der Geheimdienste. Die Vorgehensweise des Kadyrow-Regimes in der russischen Teilrepublik Tschetschenien ist von der Peripherie ins Zentrum gesickert, unter anderem mit Auftragsmorden und dem Einsatz irregulärer paramilitärischer Kräfte.

Die Entwicklungsbahn des Regimes in den kommenden Jahren wird vom Verhalten der Sicherheitsdienste bestimmt werden: Sie können dem Herrscher zur Seite stehen, neutral bleiben oder überlaufen. Ihre Kalkulation wird davon abhängen, wie sie die Machtkonstellation einschätzen (niemand möchte auf der Seite der Verlierer stehen). Und von der Aussicht auf Amnestie (keine Tribunale), von der Gefahr von Instabilität, die auch ihre Organisationen erfassen könnte (kein Niedergang der Armee oder der Polizei wie in der späten Sowjetzeit und den ersten postsowjetischen Jahren), von den zu erwartenden Auswirkungen auf die Protektion (wer wird seine Privilegien verlieren?) und von den Angeboten derer, die das Regime herausfordern und mit einem Seitenwechsel locken. Die Ermordung des ehemaligen Spions Litwinenko in London und der Mordversuch an dem ehemaligen Spion Skripal im englischen Salisbury schrecken potenzielle Überläufer ab. Das Regime wird die Zivilgesellschaft einschüchtern, um autonome Aktivitäten zu unterbinden, und zielgerichtet Gewalt gegen Oppositionsführer einsetzen, wird aber wohl vor Schüssen auf Massendemonstrationen (wie es sie unter Gaddafi, Assad oder Janukowytsch gegeben hat) zurückschrecken. Putin wird eher auf eine harte Unterdrückung von Aufruhr setzen denn auf Blutsonntage.

Mit seinen Enthüllungen über die Fäulnis von Putins Kleptokratie und das sultanhafte Gebaren seiner Kumpane ist Alexej Nawalnyj vorübergehend in der Lage gewesen, die Agenda der öffentlichen Debatte zu bestimmen. Nawalnyj hat wie ein Amokläufer versucht, Putin zu einer Entscheidungsschlacht zu zwingen und die Unzufriedenen um sich zu scharen. Putins Technologen mussten reagieren, und sie taten dies durch die Diffamierung, Verhaftung und Verurteilung von Nawalnyj. Nawalnyj hat den personalistischen Charakter von Putins Regime ins Visier genommen und dabei selbst den Politikstil eines charismatischen, populistischen und polarisierenden Führers gepflegt. Jedoch muss in Russland jede Gruppe potenzieller Herausforderer eine programmatische Alternative zum Putinismus anbieten, also mehr als nur einen Ersatz für den Amtsinhaber, und sie müsste Anreize liefern, die derzeit siegreiche Koalition zu verlassen. Ein Ende von Putins Herrschaft wird eher durch eine Spaltung der Eliten verursacht werden als durch Proteste.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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