Wo beginnt die Arktis?
Die russländische Föderation verfügt unter den insgesamt acht Arktisanrainern über das größte Gebiet in polaren Breitengraden. Während Kanada als zweitgrößter Staat ein dichtes Netz arktischer Inseln besitzt, gehört der absolute Großteil der russischen Polargebiete zum Festland. »Arktika« meint dabei im russischen Sprachgebrauch nie nur den arktischen Ozean, sondern bezieht sich immer auch auf die nördlichsten Regionen des Landes, in dem zahlreiche Menschen lebten und leben. Damit sind auch weite Flächen südlich des Polarkreises und der Baumgrenze einbezogen. Seine nördlichen Territorien erbte Russland von der Sowjetunion, mitsamt den ökologischen, demographischen und militärstrategischen Problemen. Und genau wie diese Probleme sind auch die gegenwärtigen Visionen für eine wärmere Arktis nicht besonders neu. Die komplexe Geschichte ihrer Erschließung ist geprägt von den Wünschen nach Rohstoffen und einem Seeweg, der auf dem Papier betrachtet ohne Weiteres dem Suez-Kanal den Rang ablaufen könnte. Besonders einfach gestaltete sich die Nutzbarmachung der Arktis allerdings nicht: Mangelndes Wissen und ungenügende Technik verbanden sich mit Zwangsarbeit und militärischer Abschottung – zu oft auf Kosten der Umwelt und des Klimas.
Erste Anfänge: »Entdeckung«, Kolonisation und Wissenschaft im Zarenreich
In der Geschichte des russischen Zarenreichs nahm die Arktis eine untergeordnete Rolle ein, wobei es immer wieder Momente gab, in denen die nördlichsten Territorien des Reichs eine wichtige Bedeutung hatten. Ein frühes Beispiel hierfür ist der Aufstieg Michail Lomonossows, der, geboren und aufgewachsen am Weißen Meer unweit von Archangelsk, im 18. Jahrhundert zum einflussreichen Wissenschaftler werden sollte. Zwar hatte sich Archangelsk schon damals zu einer wichtigen Hafenstadt entwickelt, über die Waren aus Westeuropa importiert wurden, aber die Polargebiete waren im Grunde genommen der zaristischen Herrschaft und Nutzung weitestgehend entzogen. Die noch junge russische Akademie der Wissenschaften begann darum, Expeditionen auszurüsten, die das Umweltwissen über die Arktis und Sibirien vergrößern sollten. Zahlreiche junge Wissenschaftler wurden dafür zur Ausbildung in andere Länder geschickt. Auf diesem Wege gelangte auch Lomonossow nach Marburg und Freiberg, um sich in Fragen der Chemie und des Bergbaus unterrichten zu lassen. Gleichzeitig brach eine Zeit bahnbrechender Expeditionen an, die nicht nur erstes kartografisches Wissen über die Arktis in die westlichen Städte brachten, sondern auch wesentlichen Anteil an der Begründung der neuzeitlichen Naturwissenschaften in Russland hatten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts spielten sogenannte Entdeckungsfahrten die dominante Rolle in der Erschließung des Nordens. Immer wieder waren dabei ausländische Experten beteiligt, weswegen beispielsweise die nördlichste Inselgruppe der russischen Arktis 1873 nach dem damaligen österreich-ungarischen Kaiser Franz Joseph I. benannt wurde. Besondere Wichtigkeit besaß außerdem Fridtjof Nansens Fram-Expedition 1893—1896, während der zum ersten Mal ein Schiff planmäßig festfror, um so die zirkuläre Drift des arktischen Meereises zu nutzen und möglicherweise auf diese Weise den Nordpol zu erreichen. Er wurde dabei von russischen Unternehmern mit Interessen in Sibirien großzügig unterstützt. Nansens Expedition sollte der Auftakt für eine umfassende Messkampagne in der Arktis durch Driftstationen im 20. Jahrhundert sein. Trotz dieser spektakulären Expeditionen konnte um die Jahrhundertwende beileibe nicht von einer Herrschaft des Zaren, geschweige denn von einer systematischen Ausbeutung der Ressourcen in der Arktis gesprochen werden. Als sich 1897 Admiral Stepan Makarow bemühte, die Wichtigkeit der Arktis für das russische Zarenreich überzeugend darzustellen, wählte er einen bis heute viel zitierten Vergleich: Wenn Russland ein Gebäude sei, so sei es schwierig zu übersehen, dass dessen Fassade zur Arktis zeige. Makarow wollte so den Blick der Machthaber nach Norden wenden und vermitteln, dass es ein großer Vorteil wäre, den Arktischen Ozean befahren zu können. Zwar verfügte die russische Flotte alsbald über ihren ersten Eisbrecher, jedoch konnte von einer schiffbaren Nordostpassage, die entlang der Küste von Archangelsk bis zur Beringstraße verlaufen würde, keine Rede sein. Das sollte das Land alsbald schmerzhaft im russisch-japanischen Krieg erfahren. Eine durchfahrbare Nordostpassage, so wurde immer wieder argumentiert, hätte möglicherweise den Sieg gebracht. Die baltische Flotte war gezwungen, nicht nur den gigantischen Umweg durch den Suez Kanal, sondern auch um das Kap der Guten Hoffnung ins gelbe Meer nehmen zu müssen. Über die rund 5 600 Kilometer lange – und damit wesentlich kürzere – Nordroute hätte sie deutlich schneller zu den Kampfplätzen gelangen können.
Nach der Niederlage begann eine erneute Expeditionswelle, die auch einige Erfolge verzeichnen konnte. Immerhin wurde zum ersten Mal im 20. Jahrhundert die Passage komplett von zwei Schiffen durchfahren, wenn auch mit einer Überwinterung 1914–1915. Im Ersten Weltkrieg wirkte sich die vernachlässigte Erschließung der Arktis erneut negativ aus. Da die russische Flotte in den baltischen und Schwarzmeerhäfen schon in den ersten Monaten isoliert war, musste sich die zaristische Kriegsführung auf die Häfen im Osten des Reiches und auf Archangelsk verlegen, letzteres war nicht einmal ganzjährig eisfrei. Erst aufgrund dieses Drucks startete ein umfassenderer Versuch, die nordwestlichen Territorien des Reiches zu kolonisieren. Die Kola-Halbinsel wurde dabei in erster Linie durch eine Eisenbahnlinie erschlossen. Die Endhaltestelle lag in »Romanow am Murman«, dem späteren Murmansk, das 1916 gegründet wurde. Hierdurch sollte das russische Reich einen weiteren Hafen erhalten, der durch mildere Atlantikströmungen ganzjährig eisfrei blieb. Ein solch umfassendes Projekt mitten im Krieg zu beginnen, brachte jedoch zahlreiche Schwierigkeiten mit sich, was sich zuallererst in mangelnder Arbeitskraft äußerte. Zum ersten Mal wurden deshalb Formen der Zwangsarbeit in diesem schwer zugänglichen Terrain angewendet, wobei Legionen von Kriegsgefangenen unter den harschen Bedingungen des nördlichen Klimas zum Bau der »Murmanbahn« gezwungen wurden.
Die sowjetische Arktis: Ein Kanada mit GULag
Durch den Bau der Eisenbahnlinie entwickelte sich das erste groß angelegte Erschließungs- und Modernisierungsprojekt in den sowjetischen Polarregionen. Nach den Revolutionen des Jahres 1917 kämpfte die rote Armee im Bürgerkrieg auf der Kola-Halbinsel nicht nur gegen Weißgardisten, sondern auch gegen Truppen der Alliierten, die sich gegen die Bolschewiki gewandt hatten. Die Machtfrage war erst im Frühjahr 1920 entschieden und die Bolschewiki machten sich an den weiteren Ausbau der Infrastruktur der Region. Im Folgejahr forderte eine Hungersnot unzählige Opfer. Wohl gerade auch aus diesem Grund sollten die natürlichen Rohstoffvorkommen des Nordens intensiver erkundet werden. Dafür wurde die sogenannte »Nördliche wissenschaftlich-gewerbliche Expedition« gegründet, deren Protagonisten vor allem Technokraten aus dem ehemaligen Zarenreich waren. Die ersten Publikationen der Organisation widmeten sich dann vornehmlich biologischen Themen, um beispielsweise bei der Erfassung von Fischbeständen im Weißen Meer dienlich zu sein und so zur Ernährungssicherung der Bevölkerung beizutragen. In der Folge entwickelte sich die Kola-Halbinsel zu der am stärksten industrialisierten Polarregion der Sowjetunion. Die umfassende Erschließung und Nutzbarmachung der Arktis wurden endgültig zum staatlichen Programm.
Die neue Sowjetregierung nutzte die Expertise ehemals zaristischer Eliten und orientierte sich ebenfalls an den Kolonialplänen anderer Staaten. Im Falle der Arktis schien Kanada das geeignete Vorbild zu sein, weswegen bald von einer »Kanadaisierung« des Nordens gesprochen wurde: Die Verwaltung der Eisenbahn war bald umfassend für die wirtschaftliche Erschließung der Region zuständig und sie sollte eine als peripher und einsam wahrgenommene Landschaft nutzbar und zugänglich machen. In Regierungskreisen war man sich sicher: So wie der Bau der Eisenbahnen die US-amerikanische Nation geschaffen habe, würde die Eisenbahnlinie nach Murmansk das sowjetische Volk verbinden. Kanada wurde dabei als Vergleichsland vorgezogen, weil die klimatischen Bedingungen passender zu sein schienen. Mit »Kanadaisierung« drückte sich aber auch eine Sichtweise aus, die sich in den Erschließungsprojekten der Sowjetunion immer wieder zeigen sollte: Die Vorstellung einer unberührten oder rückständigen Natur, die nur darauf warten würde, erschlossen und nach Plan ausgebeutet zu werden.
Zunächst jedoch konzentrierte sich die Erschließung auf den Nordwesten des Landes. Seine Abgelegenheit von urbanen Zentren gab einer weiteren zentralen Entwicklung in der Sowjetunion den Vorzug: Der Entstehung des Systems der Arbeitslager und seiner zentralen Verwaltung – »GULag«. Es waren die kleinen Solowezki-Inseln im Weißen Meer, auf denen die Bolschewiki 1923 erste Modellager errichteten. Häftlinge der Lager wurden an zahlreichen Erschließungsprojekten zur Arbeit gezwungen, eine Dynamik, die sich während der Stalin‘schen Fünfjahrespläne ins Extreme steigerte. Gerade der Weißmeer-Ostsee-Kanal wurde zum sowjetischen Riesenprojekt schlechthin und war gleichzeitig Stalins erstes arktisches »GULag-Projekt«, bei dessen Bau unzählige Menschen aufgrund zu hoher Arbeitsbelastung und miserabler Versorgung starben. Die Erschließung von Rohstoffen und der Ausbau der Infrastruktur gingen in der Arktis Hand in Hand und schloss die weitere Verzweigung und Gründung von Lagern mit ein.
Polarhelden, oder: Kosmonauten im Eis
Als die New Yorkerin Ruth Gruber Mitte der 1930er-Jahre als erste Korrespondentin aus dem Ausland die sowjetische Arktis besuchte, wurde ihr freilich ein vollkommen anderes Bild geboten. Voller Hochachtung beschrieb sie dann auch die monumentale Anstrengung, die unternommen wurde, um die Nordostpassage zu erschließen. Denn im Grunde genommen sollte die arktische Küste und der »Nördliche Seeweg«, wie er im Russischen genannt wird, so erschlossen werden, wie die Halbinsel Kola durch die »Murmanbahn«. »Glawsewmorput« war die Abkürzung für die 1932 gegründete Hauptverwaltung des nördlichen Seewegs. Sie wurde im Verlauf des Jahrzehnts zu einer monolithischen Organisation, die alle Unternehmungen in der Region verwaltete. Im zweiten Fünfjahresplan standen »Glawsewmorput« dann auch erstmalig großzügig bemessene Mittel zur Verfügung, um ein Programm umzusetzen, das über gelegentliche Forschungsexpeditionen hinausging. Ein umfassendes Programm zur regelmäßigen Erhebung von Daten institutionalisierte die sowjetischen Polarwissenschaften in nie dagewesenem Ausmaß. Die gesamte Arktisküste sollte nun strukturiert für die Wirtschaft und die Seefahrt erschlossen werden. Damit setzte auch eine erste Urbanisierungswelle der (Sub-)Polarregionen ein. Ruth Gruber steckte sich förmlich an diesem arktischen Pionierfieber an, als sie aus dem neugegründeten Hafenstädtchen Igarka für den New York Herald Tribune berichtete. Sie beschrieb ganz im Ton der staatlichen Propaganda eine hart arbeitende Bevölkerung, die fest an das stalinistische Modernisierungsprojekt glaubte und die Tundra zum Leben erwecken wollte. In den Sommermonaten sollte der Flusshafen Igarkas zur Ausfuhr von Holz dienen, wodurch ein zwar nur saisonaler, aber durchaus reger internationaler Schiffsverkehr herrschte. Besonders beeindruckt und unkritisch zeigte Gruber sich über die Rolle der Frauen in diesen Aufbauprojekten: Igarka wurde von einer Bürgermeisterin verwaltet und sogar der charismatische Leiter von Glawsewmorput, Otto Schmidt, versicherte der staunenden Autorin: »Es gibt nichts, was Frauen in der Arktis nicht tun können und sie machen es ebenso gut wie die Männer. Manchmal denke ich, sogar besser.« Nur 220 Kilometer nördlich mussten Häftlinge beim Abbau von Nickel und anderen Rohstoffen im sogenannten »Norillag« arbeiten. Sie trugen dazu bei, die größte, auf Permafrost gebaute Industriesiedlung der Welt aufzubauen. Davon ist in Grubers Beschreibungen jedoch nichts zu finden.
In der öffentlichen Wahrnehmung, sowohl international wie in der UdSSR, waren die späten zwanziger und vor allem die dreißiger Jahre stattdessen geprägt von spektakulären Erfolgen sowjetischer Polarfahrer. Als 1928 der Zeppelin »Italia« auf seiner Rückkehr vom Nordpol abstürzte und die Crew vermisst wurde, starteten mehrere Rettungsexpeditionen. Der weltbekannte Entdeckungsreisende Roald Amundsen kam bei einem dieser Versuche ums Leben. Es war eine Sensation, als zwei sowjetische Eisbrecher die Mannschaft unbeschadet bergen und nach Hause bringen konnten. Nur vier Jahre später gelangten sowjetische Schiffe erstmals innerhalb einer Saison bis zum Hafen von Yokohama über die Nordroute. Und auch in der Luft wurden Rekorde verzeichnet: Es war ein sowjetisches Flugzeug, das zum ersten Mal über den Pol flog. Es war ein sowjetischer Fallschirmspringer, der zum ersten Mal über dem Pol absprang. Und es war ein sowjetisches Flugzeug, das den ersten Transarktis-Flug von Moskau nach Oregon erfolgreich absolvierte. Die sowjetischen »Poljarniki« wurden frenetisch gefeiert und sie waren gewissermaßen die ersten Kosmonauten, bevor es überhaupt ein Weltraumprogramm gab.
Die Arktis friert ein: Militarisierung und Abschottung
Denjenigen, die die Anstrengungen zur Erschließung der Arktis beobachteten, muss klar gewesen sein, dass das Wissen über die Polarregionen auch einen wichtigen strategischen Vorteil mit sich brachte. In der Tat wurde auch die militärische Infrastruktur an der arktischen Küste ab 1933 systematisch ausgebaut. Bereits 1926 hatte die Sowjetunion offiziell verlauten lassen, dass sie einen riesigen Sektor – vom jeweils westlichen und östlichen Ende des Staatsgebiets bis zum Nordpol – als eigenes Territorium beanspruchte. Die Expansion – gepaart mit dem großen Wissensschatz über die Polarregionen, den sich die Sowjetunion spätestens seit den 1930er Jahren aufgebaut hatte – wurde dann auch bestimmend in der militärischen Konfrontation im Kalten Krieg. Auf beiden Seiten der Supermächte wurde davon ausgegangen, dass in einer neuen Konfrontation die Arktis zum Kriegsgebiet werden würde, vor allem durch den Einsatz immer modernerer U-Boote. Für die Navigation und Ortung der Schiffe unter dem Eis war ein komplexes Wissen nötig, in dem sich die US-amerikanische Marine im Vorteil sah. Denn seit Mitte der fünfziger Jahre hatte sich die sowjetische Polarwissenschaft Nansens Prinzip zu eigen gemacht und kleine temporäre Observatorien auf dem arktischen Meereis errichtet. Diese Driftstationen wurden mit Flugzeugen versorgt. Auf ihnen wurden umfassende Messkampagnen bis zum Ende der Sowjetunion kontinuierlich durchgeführt.
Somit versank die Arktis im Nebel geostrategischer Überlegungen und verlor damit sein ökonomisches Potential als Handelsroute für die globale Schifffahrt. Wichtige polare Rüstungs- und Industriezentren wie Sewerodwinsk und Norilsk wurden zu geschlossenen Städten, in der die Bevölkerung zwar oft materiell begünstigt wurde, aber gleichzeitig mit Abschottung, Umweltverschmutzung und dem harschen Klima fertig werden musste. An ambitionierten Ideen zur Umgestaltung der natürlichen Verhältnisse mangelte es in der post-stalinistischen Ära indes nicht. Es wurden Versuche unternommen, Meereis großflächig und nachhaltig zu schmelzen, mit fossilen Brennstoffen, elektrischem Strom und Farbpulver. An der Kontrolle von Wolkenbildung und Niederschlagsmengen wurde nicht nur in der Sowjetunion, sondern weltweit intensiv geforscht. Und während der Aralsee langsam austrocknete, wurde noch bis in die 1980er Jahre ein gigantisches Projekt zur Umleitung sibirischer Flüsse nach Süden verfolgt, das mit Sicherheit zu einer verstärkten Vereisung der Flussmündungen in der Arktis geführt und somit an anderer Stelle verheerende ökonomische und ökologische Folgen gehabt hätte. Zwar war die sowjetische Flotte, vor allem durch den Bau nuklear getriebener Eisbrecher, deutlich gewachsen, aber wirtschaftliche Stagnation und militärische Abschottungspolitik trugen zu einer Vernachlässigung der Polarregionen bei. Abwanderung und marode Infrastruktur waren die Folgen.
Während der Perestrojka versuchte Gorbatschow wie an vielen anderen Stellen, auch die Arktis wiederzubeleben. 1987, in einer Rede im nunmehr zur wichtigsten arktischen Hafenstadt gewachsenen Murmansk, vollzog der Generalsekretär eine politische Kehrtwende: Er schlug verstärkte wissenschaftliche Kooperation vor und er stellte sogar eine Demilitarisierung in Aussicht, um schließlich die Nordostpassage wieder für den internationalen Verkehr zu öffnen. Die Rede war eine Sensation. Doch nur wenige Jahre später implodierte die Sowjetunion und mit ihr der Versuch zur erneuten Öffnung der Region mit ungebrochen großem Potential. Letzteres auszuschöpfen hat sich erst in den letzten Jahren die russische Politik wieder zur Aufgabe gemacht.
In den 1990er Jahren lag die Arktis weitestgehend brach. Eine marode Infrastruktur, Unmengen von Schrott und eine stete Abwanderung der Bevölkerung waren die Folgen. Erst mit dem Eingang in das neue Jahrtausend begannen russische Unternehmen und die Regierung, ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Arktis zu lenken. Die Rohstoffvorkommen, die schon in den 1930er Jahren erschlossen werden sollten, befeuern nun wieder die Vorstellungskraft der ökonomischen und politischen Eliten. Die Arktis, so Wladimir Putin »ist ohne Übertreibung die Schatzkammer der Welt und wir sind bereit, diesen Schatz zu bergen.« Der Zugang zu Bodenschätzen soll wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts über ambitionierte Infrastrukturprojekte ermöglicht werden. Der Eisenbahn kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, denn durch eine Polarmagistrale sollen der europäische und asiatische Teil des Landes verbunden werden. Auch hierzu gibt es einen historischen Vorläufer: Die Pläne für eine solche Linie von Tschum über Salechard bis Igarka wurden bereits Ende der 1940er Jahre ausgearbeitet und in Teilen umgesetzt. Der Versuch zum Bau einer arktischen Eisenbahnlinie wurde nach dem Tod Stalins abgebrochen – und erfährt nun ein Revival. Und selbstverständlich ist auch das schillerndste Großprojekt der Arktis unvergessen: Bis 2035 soll ein ganzjähriger, reibungsloser und kostengünstiger Verkehr durch die Nordostpassage möglich sein.