Der Generationenaspekt beim Zusammenbruch der Sowjetunion

Von Mikhail Anipkin (Alexander Consultancy Limited, Colchester)

Ein Hauptgrund für den Zusammenbruch der UdSSR ist wohl in der Generationenkrise innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu sehen, nämlich in der mangelnden oder gar völlig ausgebliebenen personellen Erneuerung an der Spitze der Parteihierarchie. Ein unzureichender oder gar fehlender Generationswechsel in den Führungsgremien war in der späten Sowjetunion und ist im modernen Russland ein angestammtes Problem, das bis heute anhält und die jüngeren Generationen betrifft.

Breschnews Generation konnte vor allem deshalb schnell in Spitzenpositionen aufgestiegen, weil es vor dem Krieg die Massensäuberungen unter Stalin gegeben hatte, die in Wirklichkeit eine Verjüngungskur in den herrschenden Strukturen der Nomenklatura bedeutete, auch wenn Stalin es nicht unbedingt als Instrument für einen Generationswechsel gesehen haben mag. Nachdem Leonid Breschnew 1964 an die Macht gekommen war, hatte diese Generation die führenden Posten inne – für die nächsten 20 Jahre (und manchmal gar länger). Sie machten der nächsten Generation, der Generation ihrer Kinder, die in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren geboren waren, den Weg nicht frei. Diese Generation der Schestidesjatniki (die Generation der »Sechziger« der Tauwetterperiode) wurde von der Breschnew-Generation übergangen und musste nahezu bis 1989/90 auf weniger bedeutenden Posten verharren. Selbst nach dem Antritt Michail Gorbatschows als Generalsekretär änderte sich die Lage nicht grundlegend. Bekanntermaßen hat Gorbatschow, nachdem er 1985 Führer der Sowjetunion wurde, den 76-jährigen Andrej Gromyko zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet der UdSSR gemacht.

Es hat meiner Ansicht nach eine Kluft zwischen den Generationen gegeben, die dann in den regionalen Parteihierarchien in eine »Meuterei der Vierziger« (der in den 1940er Jahren Geborenen) mündete. Dieses Aufbegehren richtete sich 1989/90 quer durch die Sowjetunion gegen die ältere Generation in den Gebiets-, Regions- und Republikskomitees der KPdSU. Der Fall Wolgograd ist nur ein Beispiel für diese Kluft zwischen den Generationen.

Der ausgebliebene Generationswechsel in den Führungsgremien war für die KPdSU ein riesiges Problem, das sich Mitte der 1970er Jahre weiter verschärfte. Das war die Zeit, als jüngere Männer und Frauen, die seinerzeit Ende dreißig, Anfang vierzig waren und bereits über beträchtliche Erfahrung verfügten, Führungspositionen in der Kommunistischen Partei hätten übernehmen können. Der Generationswechsel, der hier hätte stattfinden sollen, blieb aus. Das war eine wesentliche Ursache für den Unmut unter den Apparatschiks der KPdSU.

Die große Sehnsucht nach einem Generationswechsel in den oberen Etagen der Parteihierarchie und die immer größer werdende, gegen das Establishment gerichtete Volksbewegung in den großen Städten fielen zeitlich zusammen. Dadurch hat vor allem 1989 und 1990 in vielen Regionen der UdSSR an der Spitze der Parteistrukturen ein Verjüngungsprozess stattgefunden.

Dieser so sehr erwartete Generationswechsel setzte schließlich 1990 verbreitet auch bei den Schlüsselpositionen der Partei ein. In den Regionen war dieser Prozess besonders deutlich zu beobachten. Dies war auch der Grund, warum die Volksbewegungen in den Regionen von bestimmten Parteifunktionären unterstützt oder zumindest nicht behindert wurden. Ich bin überzeugt, dass ein Generationswechsel in den Hierarchien der KPdSU, sobald dieser Prozess vollendet worden wäre, eine neue Generation mit demokratischen Visionen an die Spitze befördert hätte, wie es 1990 in Wolgograd der Fall war. Nachdem die Tätigkeit der KPdSU im August 1991 unterbunden wurde (ein vorübergehendes Verbot folgte im November), fand dieser Prozess erzwungenermaßen ein Ende. Das kann als Beginn eines gegen die Perestroika gerichteten Kurses betrachtet werden. Beim Beispiel Wolgograd, das von einem Vorbild für Demokratisierung zu einem Ort tiefsitzender Stagnation verfiel, erfolgte dieser Prozess deshalb so schnell, weil die natürlichen Rotationsmechanismen ausgesetzt wurden. Die gleichen Prozesse fanden auch in ganz Russland statt, allerdings erst später. Sie kamen dort ungefähr seit 2004 in Gang. Das Problem besteht darin, dass das gesamte Land derzeit wieder das gleiche Generationenproblem erlebt: Die Putin-Generation hat keinerlei Absicht, die Macht abzugeben. Somit könnte es in Russland auch in Zukunft zu einem öffentlichen Aufbegehren kommen, angetrieben von der Unzufriedenheit mit dem erneuten Sastoj, der neuen Stagnation beim Generationswechsel. Das könnte sehr wohl in einen weiteren »August 1991« münden.

Die Generationsfrage in Russland ist, so wie es sich gegenwärtig darstellt, in erster Linie Fortsetzung und Folge der Ereignisse von 1991, als die Sowjetunion zusammenbrach. Gemeint ist hier der Umstand, dass die »Tauwetter-Generation« weggespült und die Generation der Babyboomer aus den 1950er Jahren, also die Putin-Generation, zum Nutznießer der Konterrevolution gegen die Perestroika wurde. Auf beunruhigende Weise zieht die Geschichte hier eine Grimasse: Russland erlebt jetzt das gleiche wie die UdSSR in ihren letzten Jahren, in der Zeit des Sastoj, nämlich eine Stagnation auf der personellen Ebene. Diese Wiederholung hat umso schlimmere Auswirkungen, als es nicht nur eine Generation betrifft, die deshalb verärgert ist, weil sie übersehen wird und auf weniger bedeutenden Posten landet, wie es in den 1970er und 1980er Jahren der Fall war: Die heutige Situation betrifft drei Generationen, und zwar längst nicht nur jene im Machtapparat. Eine dieser Generationen ließe sich als »letzte sowjetische Generation« bezeichnen (sie ist nach meinem Verständnis eine »verlorene Generation«). Hinzu kommen die Kinder dieser Generation sowie drittens einige Kinder der Putin-Generation. Der Fall der letzteren ist allerdings komplizierter. Putins Generation, die weiterhin die Macht in den Händen hält, hievt ihre Kinder Schritt für Schritt auf Schlüsselpositionen – allerdings nicht so schnell wie die es sich wünschten.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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