Die Evolution der Duma

Von Leonid Klimov, Dmitry Kartsev (beide dekoder)

Im Herbst 2021 geht die Staatsduma in die achte Legislaturperiode. Wie es dazu kommen konnte, dass das russische Parlament immer weniger Vollmachten hat, während die Regierungspartei Einiges Russland und der Präsident immer stärker werden – das erklären wir in dieser Übersicht.

Geburt der Duma

Am 11. Januar 1994 tagt die russische Staatsduma zum ersten Mal. Sie löst den Volksdeputiertenkongress und den obersten Sowjet Russlands als legislative Organe ab. Die Konfrontation zwischen diesen beiden Institutionen und Präsident Boris Jelzin hatte im Herbst 1993 zur politischen Krise geführt, die im Beschuss des Weißen Hauses gipfelte. Daraufhin gab es eine Volksabstimmung über die Verfassung und es fand eine Dumawahl statt. Wobei die Dumaabgeordneten im Vergleich zu den vormaligen Parlamentsabgeordneten nun deutlich weniger Vollmachten haben. Auch zeitlich wird die Arbeit der ersten Duma eingeschränkt: Statt vier soll sie nur noch zwei Jahre tagen – im Januar 1996 wird erneut gewählt. Die erste Duma wird manchmal auch als fünfte Duma bezeichnet, wobei dabei die vorrevolutionären Dumas mitgezählt werden – die allerdings weder vom Status noch von den Vollmachten her mit der ersten Duma von 1994 bis 1996 vergleichbar sind.

Der Tschetschenienkrieg

Das wichtigste Ereignis in der Legislaturperiode der ersten Duma ist der Erste Tschetschenienkrieg, den Boris Jelzin am 11. Dezember 1994 als »Einsatz zur Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung« begonnen hat. Die Lage in Tschetschenien wird zum heftig und meistdiskutierten Thema. Nach der Schlacht um Grozny und der Offensive auf weitere Gebiete Tschetscheniens wird Russland von einer Welle an Terrorangriffen überrollt. Einer der ersten Anschläge, der die russische Gesellschaft besonders stark erschüttert ist die Geiselnahme in einem Krankenhaus von Budjonnowsk. Sie fordert mehr als 180 Menschenleben. Mehr Duma-Debatten zieht später nur die Geiselnahme in der Schule von Beslan 2004 nach sich.

Revision

Zentrales Thema der ersten Duma ist der erst kürzliche Zerfall der Sowjetunion und die Frage nach einer möglichen Wiedervereinigung mit den ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Abgeordneten diskutieren unter anderem eine Revision des Belowescher Abkommens von 1991 und die »Wiederherstellung eines einheitlichen Staates«. In diesem Kontext geht es vor allem um Belarus, Transnistrien, und um die Zukunft der Schwarzmeerflotte sowie der Republik Krim. Mit der Zeit rückt diese Frage in den Hintergrund, um dann 20 Jahre später mit neuer Wucht wieder aufzutauchen.

»Das Problem um die Krim ist ein Problem Russlands – es geht nämlich um die Wiederherstellung eines einheitlichen Staates.«

14. April 1995, Sergej Baburin, Abgeordneter der ersten, zweiten und vierten Duma, Fraktion Der russische Weg, später Partei Rodina (Heimat)

Die Duma und der Präsident

Veto

Im Dezember 1995 wird die zweite Staatsduma gewählt. Keiner der Parteien gelingt es, eine absolute Mehrheit zu erreichen, doch die deutliche Mehrheit der Stimmen geht an die kommunistische KPRF, die im klaren Widerstreit mit Jelzin steht. Gerade mal ein halbes Jahr später gelingt Jelzin eine sensationelle Wiederwahl im Präsidentenamt, was den Konflikt mit dem Parlament nur noch befeuert: 273 Mal macht Jelzin in den Jahren 1996 bis 1999 von seinem Vetorecht Gebrauch, das heißt er verhindert beinahe jedes vierte Gesetzesvorhaben.

Krise

Im Sommer 1998 kommt es zu einer der schwersten Finanzkrisen in der jüngeren Geschichte Russlands. Die Regierung schafft es nicht, ihre Versprechen einzulösen, wobei auch die oppositionelle Duma einen großen Teil der Verantwortung trägt, weil sie dringend notwendige Stabilisierungsmaßnahmen blockiert. Schließlich erklärt die Regierung am 17. August den bedingten Staatsbankrott (russ. Defolt), der mit einer rapiden Abwertung des Rubel einhergeht. Für viele Russen ist der 17. August 1998 bis zum heutigen Tag eines der zentralen Symbole für die stürmischen wilden 1990er Jahre. Nach der Krise scheint Jelzin das Vertrauen in die Fähigkeiten der jungen liberalen Wirtschaftler verloren zu haben und setzt auf die Silowiki, zu denen auch der neue Chef des FSB gehört: Wladimir Putin.

Amtsenthebung

Durch die Wirtschaftskrise verschärft sich der Konflikt zwischen Jelzin und der Duma. Im Frühling 1998 verhindert die Duma zweimal Sergej Kirijenkos Ernennung zum Ministerpräsidenten und stimmt dieser erst im dritten Anlauf zu, um eine Auflösung der Duma abzuwenden. Im August und September verweigern die Abgeordneten dann Tschernomyrdins Ernennung für denselben Posten (den er schon vor Kirijenko innehatte). Diesmal sind sie wohl bereit, aufs Ganze zu gehen, sprich, auch beim dritten Mal gegen den Kandidaten des Präsidenten zu stimmen und gleichzeitig ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einzuleiten. Das hätte eine politische Krise zur Folge: Laut Verfassung hat der Präsident bei der dreifachen Ablehnung eines Kandidaten das Recht, die Duma aufzulösen – jedoch nicht, wenn bereits ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn läuft. Die Zeitungen berichten in diesen Tagen von einem »unmittelbar drohenden Bürgerkrieg«. Schließlich schlägt Jelzin beim dritten Mal Primakow für den Posten des Ministerpräsidenten vor, dessen Kandidatur geht durch, die Duma setzt ihre Arbeit fort. Doch kurze Zeit später wird das Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wieder aufgenommen. Jelzin wird – neben der »Zerstörung« der Sowjetunion, dem Belowescher Abkommen, der Auflösung des Obersten Sowjets und dem Krieg in Tschetschenien – der »Genozid am russischen Volk« vorgeworfen, womit das Absinken des Lebensstandards und die demografische Krise gemeint sind, für die man Jelzin und seine Regierung verantwortlich macht. Am Ende reichen die Stimmen für ein Amtsenthebungsverfahren nicht aus und Jelzin behält auch diesmal seinen Posten. Aber aus der Konfrontation zwischen der Exekutive und der Legislative wird sein Nachfolger Wladimir Putin, der gerade in dieser Zeit die politische Bühne betritt, seine Lehren ziehen.

Das Erscheinen Putins

Jelzin – Putin

Einige Wochen vor der Erklärung des Staatsbankrotts ernennt Jelzin den bis dahin unbekannten Beamten Wladimir Putin zum Chef des FSB. Knapp einen Monat später fällt sein Name erstmals in der Duma. Auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen den Abgeordneten und Präsident Jelzin, erklärt Putin, dass »diejenigen, die den Weg der Verfassungsverstöße wählen und versuchen, die Situation mit verfassungswidrigen Mitteln anzuheizen, auf den nötigen Widerstand treffen werden«. In der Duma wird diese Aussage als eine Androhung der gewaltsamen Parlamentsauflösung nach dem Muster vom Oktober 1993 interpretiert.

»Als kleine Anmerkung, möchte ich den Kollegen sagen, dass diejenigen, die auf das Weiße Haus geschossen haben […] allmählich aus dem Leben scheiden. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Das sollte allen – sowohl den Putins als auch dem Rest – bewusst sein.«

2. September 1998, Jewgeni Loginow, LDPR-Abgeordneter der ersten, zweiten und dritten Duma

Putin

Ein Jahr später, im August 1999, wird Putin von der Duma zum Premier gewählt, wohlgemerkt im ersten Anlauf: Er wird von der Opposition nicht ernst genommen – die wartet einfach darauf, dass Jelzins Amtszeit endet, um bei der nächsten Wahl an die Macht zu kommen.

Die Geburtsstunde von Einiges Russland – Einheit

Am 31. Dezember 1999 gibt Boris Jelzin bei der Neujahrsansprache seinen Rücktritt bekannt. Damit beginnt die Putin-Ära. Aber bis zur Wahl, die Putin im ersten Durchgang gewinnt, sind es noch einige Monate. In der Zwischenzeit nimmt die im Dezember neu gewählte Duma kurz nach Neujahr ihre Arbeit auf. Auch diesmal hat die KPRF die Mehrheit, gefolgt von der Bewegung Jedinstwo (Einheit), die wenige Monate zuvor zu Putins Unterstützung ins Leben gerufen worden war. Die beiden vereinbaren, die Schlüsselposten im Parlament untereinander aufteilen. Doch schon 2001 entsteht eine neue Koalition. Zwei konkurrierende Parteien der Mitte, Jedinstwo (Einheit) und Otetschestwo – Wsja Rossija, (Vaterland – Ganz Russland, OWR), geben ihren Zusammenschluss und die Gründung einer neuen Partei bekannt: Jedinaja Rossija (Einiges Russland). Damit beginnt die Bildung eines neuen Parteiensystems.

Duma der Reformen

Die dritte Duma (1999 bis 2003) ist das letzte Parlament, in dem noch eine gewisse Vielfalt politischer Kräfte Russlands besteht: von den Kommunisten (KPRF, 24 Prozent) bis hin zu den Liberalen (SPS, 8,5 Prozent und Jabloko, 6 Prozent). Sie ist auch die letzte Duma, in der es einen breiten Konsens braucht, um in der einen oder anderen Frage die Mehrheit zu bekommen. In dieser Periode wird der für die Entwicklung des Landes entscheidende Semelny Kodeks (Bodengesetzbuch) angenommen. Dieser erlaubt den freien Verkauf von Grund und Boden, wogegen sich die Mehrheit der Kommunistischen Partei in den vorhergegangenen Legislaturperioden vehement gewehrt hatte. Eine Steuerreform wird durchgeführt, im Zuge derer die Einkommensteuer für alle Bürger auf 13 Prozent gesenkt wird – unabhängig vom Einkommen. Schließlich wird auch noch ein Gesetzespaket zur Staatssymbolik verabschiedet, mit dem Russland die Sowjethymne wieder einführt.

Die Staatsduma – »kein Ort für Debatten«

Bei der Wahl 2003 schafft erstmals keine einzige liberale Partei den Einzug in die Duma. Dafür werden die Nationalpatrioten aus dem Block Rodina (Heimat) ins Parlament gewählt – wobei dieses Projekt wohl vom Kreml unterstützt wurde, um den Kommunisten Stimmen zu entziehen. Bei der nächsten Wahl hat sich Rodina bereits aufgelöst und ist teilweise in der Mittelinks-Partei Sprawedliwaja Rossija (Gerechtes Russland) aufgegangen. Zunächst sieht die Präsidialadministration sie beinahe als zweite Regierungspartei neben Einiges Russland vor, doch im Endeffekt wird sie zu einem Teil des soliden Modells der vier sogenannten Systemparteien, in die neben Einiges Russland und Gerechtes Russland noch die populistische LDPR und die seit Mitte der 1990er bestehende KPRF Eingang finden. Letztere stellt nur noch bei wenigen Themen eine Opposition dar. Die einstige Heterogenität der Parteien und Fraktionen verschwindet, keiner anderen Kraft ist seitdem der Einzug ins Parlament gelungen. Wohl deswegen ist die längere Ausführung des Dumavorsitzenden Boris Gryslow in der Erinnerung der Menschen auf eine kurze Formel geschrumpft: »Das Parlament ist kein Ort für Debatten.«

»Ich denke, die Staatsduma ist keine Plattform für politische Kämpfe, Losungen und Ideologien; sie ist eine Plattform für konstruktive und effektive Gesetzgebung.«

29. Dezember 2003, Boris Gryslow, Vorsitzender der vierten und fünften Duma

Die Herausforderungen der Zeit

Terrorismus

Am 1. September 2004 bringen Terroristen die Schule Nr. 1 in Beslan in ihre Gewalt. Beim Befreiungseinsatz kommt es zu einer Explosion, im Gebäude bricht Feuer aus. Mehr als 300 Menschen kommen ums Leben, unter ihnen sind mehr als 180 Kinder. Die Geiselnahme von Beslan ist bis heute der wohl schlimmste Terroranschlag in der Geschichte Russlands. Terrorismusbekämpfung wird zum meistdiskutierten Thema in der vierten Duma.

Die Orange Revolution

Im selben Jahr findet in der Ukraine die Präsidentschaftswahl statt, die Viktor Janukowitsch im zweiten Wahlgang gewinnt. Nach zahlreichen Meldungen über Wahlfälschung gehen in Kiew zehntausende Menschen auf die Straße, es beginnt die sogenannte Orangene Revolution. Die Regierung stimmt einem dritten Wahlgang zu, aus dem der Oppositionelle Wiktor Juschtschenko als Sieger hervorgeht. In Russland entfachen diese Ereignisse eine Debatte über eine vermeintliche Einmischung des Westens und die Gefahr, dass solche »Technologien« auch in der Russischen Föderation zum Einsatz kommen könnten.

Proteste

Schon im darauffolgenden Jahr, 2004, löst der Beschluss der Regierung über die Monetarisierung von Sozialleistungen die zahlenmäßig größte Protestwelle in der jüngeren Geschichte Russland aus.

Einmannwahlkreise und Parteilisten

Diese Ereignisse bedingen direkt oder indirekt die tiefschürfenden Veränderungen des politischen Systems. Einiges Russland, das in der vierten (2003) und fünften Duma (2007) die absolute Mehrheit innehat, kann jegliche von der Präsidialadministration vorgeschlagenen Gesetze annehmen, ohne die anderen Parteien berücksichtigen zu müssen. Unmittelbar nach dem Terroranschlag von Beslan wird die Direktwahl der Gouverneure abgeschafft. Sie werden fortan vom Präsidenten ernannt (formal nach Zustimmung des jeweiligen Lokalparlaments). Abgeschafft wird außerdem die Wahl von Dumaabgeordneten über Einmannwahlkreise, es bleiben nur Parteilisten. Die Mindestwahlbeteiligung wird ebenfalls abgeschafft; die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in die Duma wird auf sieben Prozent angehoben; abgeschafft wird auch die Spalte mit der Wahlmöglichkeit »gegen alle«. Dafür werden neue Regeln für die Registrierung von Parteien eingeführt, wodurch die Zahl der Parteien von einigen Dutzend auf rund zehn schrumpft. Bald darauf folgt eine Verfassungsreform, der zufolge die Legislaturperiode der Duma von vier auf fünf Jahre und die Regierungszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre angehoben werden.

»Wir müssen ein Regierungssystem erschaffen, das es präventiv unmöglich macht, unsere Gesellschaft aufzuwiegeln oder unsere staatlichen Strukturen zu stürzen.«

Wladimir Putin (2004)

»Unser Land macht gerade gigantische Transformationsprozesse durch und dabei wird seine Stabilität auf die Probe gestellt – durch innere und äußere Feinde. Diesen neuen Herausforderungen lässt sich nicht allein durch moralische Postulate […] begegnen, es braucht entsprechende Gesetze, die mit entsprechenden Mitteln durchgesetzt werden.«

11. Februar 2006 Sergej Abelzew, LDPR-Abgeordneter der ersten, zweiten, vierten und fünften Duma

System-Opposition und Nicht-System-Opposition

Gesetzentwurf unterstützen

Mit dem zunehmenden Machtausbau des Präsidenten bildet sich die Unterscheidung zwischen einer System- und Nicht-System-Opposition heraus. Unter der System-Opposition versteht man Parteien, die in der Duma vertreten sind (die Regierungspartei Jedinaja Rossija, Einiges Russland, ausgenommen). Die anderen Fraktionen zeigen ihren oppositionellen Charakter dabei auf unterschiedliche Weise. So unterstützt die LDPR den Großteil der Gesetzentwürfe, während die KPRF, die mit mehr Abgeordneten vertreten ist, eher gegen diese stimmt (vgl. Verteilung nach Parteien). Unter der Nicht-System-Opposition versteht man politische Parteien und Kräfte, die nicht im Parlament vertreten sind – meist scheitern sie bereits beim Versuch der Registrierung als Partei. Sie rücken während der Proteste von 2011 bis 2013 ins Zentrum des politischen Lebens.

Die Bolotnoje-Bewegung und der durchgedrehte Drucker

Fälschungen

Im Dezember 2011 findet die nächste Dumawahl statt. Dank zahlreicher unabhängiger Beobachter werden großangelegte Fälschungen aufgedeckt. Am Tag nach der Wahl gehen in Moskau Demonstranten auf die Straße und fordern die Nicht-Anerkennung des Wahlergebnisses, laut denen die Regierungspartei Einiges Russland knapp über die Hälfte der Sitze im Parlament innehat. Die Bolotnoje-Protestbewegung erhält ihren Namen nach dem Bolotnaja Ploschtschad unweit des Kreml, auf dem ein paar Tage später eine Protestaktion mit Zehntausenden Teilnehmern stattfindet, erstmals seit Jahren. Solche in der Geschichte des Russlands unter Putin nie dagewesenen, politischen Proteste rufen bei den Machthabern ambivalente Reaktionen hervor. Einerseits beginnt eine Liberalisierung des politischen Systems: So werden (wenn auch mit einem komplizierten Filtersystem) die Gouverneurswahlen und Einmannwahlkreise bei der Dumawahl wieder eingeführt, wodurch Parteien sich einfacher registrieren lassen können. Andererseits verabschiedet die kremlloyale Staatsduma (das Wahlergebnis wurde nie widerrufen) einige offensichtlich repressive Gesetze. In den sozialen Netzwerken heißt es, die vierte Duma arbeite wie ein »durchgedrehter Drucker«.

Repressive Gesetze

Miting/Demo

Die repressiven Gesetze, die nach den Protesten auf dem Bolotnaja Ploschtschad am 6. Mai 2012 verabschiedet werden, und der Beginn der dritten Amtszeit von Wladimir Putin verschärfen die Regeln für Protestaktionen – Demonstrationen, Versammlungen, Märsche. Bei Nichteinhaltung kommt es zu verwaltungs- und strafrechtlichen Sanktionen.

Geistige Klammern

Die Aktion von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale ruft Diskussionen über traditionelle und familiäre Werte hervor. Die Duma stellt die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen unter Strafe, verbietet »Schwulenpropaganda« unter Minderjährigen und verabschiedet das Dima-Jakowlew-Gesetz, das den Amerikanern verbietet, Waisenkinder aus Russland zu adoptieren (als Reaktion auf das Auftauchen der Magnitzki-Liste, die sich gegen russische Staatsbeamte richtet). In diesem Kontext führt Wladimir Putin den Terminus »geistige Klammern« in den Wortschatz ein.

Internet und TV

Mit dem Kinderschutz wird anfangs auch das Vorgehen gegen das Internet gerechtfertigt, das als Informationsquelle ähnlich wichtig wird wie das Fernsehen, das vollständig staatlich kontrolliert ist. Zunächst werden mehr und mehr Gründe für das Blockieren von Internetseiten angeführt. 2016 dann wird das Jarowaja-Gesetzes-Paket verabschiedet, so dass Geheimdienste in großem Umfang Zugriff auf das Netz bekommen.

Inostrannyj agent (Ausländischer Agent)

Im Sommer 2012 verabschiedet die Duma ein Gesetz über NGOs und führt den Begriff des ausländischen Agenten ein. Es wird später mehrfach überarbeitet und auch auf Medien und sogar Privatpersonen ausgeweitet. Vor dem Hintergrund der wachsenden Spannungen mit dem Westen spricht man in der Duma immer öfter von der sogenannten fünften Kolonne und der Notwendigkeit von Verboten und Einschränkungen für Menschen mit einer zweiten Staatsbürgerschaft oder einem Wohnsitz im Ausland.

Der Krim-Konsens

Direkt nach Putins Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 beginnt die Verabschiedung von konservativen und repressiven Gesetzen, doch wegen der Ereignisse von 2014 wird jede Diskussion darüber unterbunden. Nach dem Euro-Maidan in der Ukraine, der Angliederung der Krim, dem Krieg im Donbass, den Sanktionen des Westens und den russischen Gegensanktionen bildet sich in der politischen Elite der sogenannte »Krim-Konsens« heraus. Besonders deutlich wird er an den gestiegenen Zustimmungswerten für Wladimir Putin, aber auch an der Popularität der konservativen Idee einer »russischen Welt« (russ. russkij mir), die man dem »kollektiven Westen« entgegenstellt. Aus der Dumawahl 2016 geht Einiges Russland mit dem Rekordergebnis von 75 Prozent der Sitze hervor. Wenn auch bei einer erstaunlich niedrigen Wahlbeteiligung (nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten machte Gebrauch von ihrem Recht zu wählen) – es gingen vor allem diejenigen Bürger an die Wahlurnen, die von der Regierung dazu gedrängt wurden

Auf null setzen (obnuljat)

Die siebte Duma (2016 bis 2021) beginnt ihre Legislaturperiode mit zwei äußerst unbeliebten Beschlüssen: der Anhebung des Rentenalters und der Erhöhung der Mehrwertsteuer. 2020 stimmt sie außerdem einer von Putin initiierten Verfassungsreform zu. Manche dieser Verfassungsänderungen schreiben bloß fest, was längst Praxis ist: Einschränkungen für Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, Verbot von gleichgeschlechtlichen Ehen, Vorrang des nationalen über das internationale Recht. Andere Änderungen bauen die Macht des Präsidenten weiter aus. Und schließlich kommt ausgerechnet aus der Duma der Vorschlag, Putins Amtszeiten »auf null zu setzen« und ihm so zu ermöglichen, bis 2036 an der Macht zu bleiben. Putin hat also die Chance, während seiner Regierungszeit noch drei weitere Legislaturperioden der Duma zu erleben.

Dieser Text entstammt dem dekoder-Special »Die Duma spricht«, das unter https://duma.dekoder.orgabrufbar ist: 27 Jahre, 7 Legislaturperioden, 385.000 Redebeiträge. dekoder hat gemeinsam mit der Novaya Gazeta die Sitzungs-Stenogramme der russischen Staatsduma durchforstet, um herauszufinden worüber und wie oft welche Abgeordneten seit 1994 gesprochen haben.

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen.

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Analyse

Der gleiche Eintopf, nur aufgewärmt: Die Dumawahlen 2021 und das zunehmend hegemonial-autoritäre Regime in Russland

Von Tatiana Tkacheva
Die Parlamentswahlen 2021 in Russland haben gezeigt, dass das Menü autoritärer Wahlmanipulationen zwar das alte bleibt, dass diese Manipulationen und die Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Regimes aber ein beispielloses Niveau erreicht haben. Indem das Regime einige Korrekturen an diesem Instrumentarium vornimmt, bewegt es sich noch schneller in Richtung eines hegemonialen Autoritarismus.
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