Würde Putin vom eigenen Volk für eine Invasion in die Ukraine abgestraft werden?

Von Henry E. Hale (George-Washington-Universität, Washington, D.C.)

Zusammenfassung
Viele glauben jetzt, dass Russland eine weitere, großangelegte Invasion in die Ukraine unternehmen wird, was den Krieg, der seit 2014 (weitgehend unbeachtet von den Schlagzeilen im Westen) im Osten der Ukraine wütet, dramatisch ausdehnen würde. Die Staats- und Regierungschefs im Westen wollen sicherstellen, dass der russische Präsident Putin einen hohen Preis zu zahlen haben wird, falls es zu einer Invasion kommt. Jüngste Studien kommen zu dem Schluss, dass auch das Volk in Russland Putin zur Rechenschaft ziehen würde, allerdings ist weniger klar, wann oder wie.

Es gibt gute Gründe für die Befürchtung, dass Putin den Würgegriff gegen die Ukraine derart erhöht, dass er versucht, den größten Teil der Ukraine oder das ganze Land zu erobern, zum Teil als Reaktion auf seine lahmende Unterstützung in Russland. Selbst wenn für ihn innenpolitische Überlegungen keine vorrangige Rolle spielen sollten, dürfte er gleichwohl darauf hoffen, dass sein Volk ihn für eine neue Invasion belohnen würde. Es geschieht oft, dass sich die Bevölkerung für eine Weile geschlossen hinter der Führung versammelt, wenn ihr Land im Krieg steht. Putin selbst war 2014 in dieser Hinsicht einer der größten Nutznießer der Geschichte, als seine Umfragewerte durch die Decke gingen, nachdem Russland blitzschnell die ukrainische Halbinsel Krim einnahm und annektierte. Die verlockende Aussicht, dass sich das Volk sammelt, könnte für Putin eine Motivation (https://www.washingtonpost.com/politics/2022/01/16/why-would-putin-invade-ukraine/) sein, es noch einmal zu versuchen. Er könnte auch den Versuch unternehmen, eine zunehmend unzufriedene Gesellschaft von Problemen abzulenken (https://thehill.com/opinion/international/537283-alexei-navalny-narrows-the-road-to-lifetime-in-power-for-vladimir-putin?mkt_tok=eyJpIjoiWm1FNE1EQm1OR0k0TURRNSIsInQiOiJURnRLcXZaZFE4OFVPVnMrTFliaDBWT1ZKWUJsdjFYQTh0eXN1dTNKTG56NVo3a2lIMHdiTTNvZ1JsZkhITkxVWXJndHZBZWdlWDVhaUpQU2VFNXdyN1NWSExsbk1POXI3REZWQklndDV2cllqWU04a3o0ckRrQXhRMzZOTStUQiJ9), die ihm zugeschrieben werden, etwa die Korruption oder die stagnierende Wirtschaft.

Jüngste Studien zeigen jedoch, dass eine neue Invasion das Potenzial hat, innenpolitisch für Putin zum Rohrkrepierer zu werden. Und dieses Potenzial (https://www.washingtonpost.com/politics/2022/02/11/russia-may-be-about-invade-ukraine-russians-dont-want-it/) ist größer als wir im Westen oft meinen. Es könnte sogar größer sein, als Putin selbst annimmt.

Für Russ:innen ist die Krim nicht die Restukraine

Für Russ:innen gibt es einen Unterscheid zwischen der Krim und der übrigen Ukraine. Vor 2014 hatte eine klare Mehrheit eine »Rückkehr« der Krim zu Russland unterstützt, doch empfinden die Russ:innen bei den anderen Landesteil der Ukraine keine solche Verbundenheit. Betört von der hämischen Berichterstattung in den von Putin kontrollierten Medien, haben die Russ:innen die Ukraine lange als einen hoffnungslosen Fall eines von Korruption zerfressenen Staates wahrgenommen (https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2015/05/20/russians-see-ukraine-as-an-illegitimate-state/). Das würde die Ukraine nicht unbedingt zum Objekt ihrer Begierde machen.

Umfragen der letzten Jahre zeigen, dass Putin die Unterstützung von rund zwei Fünfteln der Bevölkerung Russlands hätte, wenn es ihm gelänge, Russland und die Ukraine friedlich und freiwillig zu vereinigen. Das ist weniger als Putin sich an Unterstützung im Innern wünscht, da dort ja Supermehrheiten das Ziel sind. Zudem haben die Russ:innen nie viel Zustimmung für ein aktives Vorgehen (https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2015/05/20/russians-see-ukraine-as-an-illegitimate-state/) des Kreml zur Aufteilung oder gar militärischen Eroberung der Ukraine gezeigt.

Die militärische Überwältigung der Ukraine als tickende Bombe für Putin

Falls Putin heimlich eine Invasion plant, ist es für ihn ein Problem, dass dies russische Menschenleben kosten wird. Und die Aussicht, dass ihre Söhne und Töchter in der Schlacht ihr Leben lassen, lässt sich der Bevölkerung in Russland nur schlecht vermitteln. Das ist sicher auch der Grund, warum Informationen über gefallene russische Militärangehörige in der Ukraine als Staatsgeheimnis gelten und die Veröffentlichung verboten (https://www.rferl.org/a/russia-ukraine-war-casualties-report-leak/27210762.html) wurde.

Aber selbst in Diktaturen wie der in Russland finden Informationen ihren Weg ans Tageslicht, und die Risiken sind bereits bei dem heißen Krieg offensichtlich, den Moskau seit 2014 in der Ostukraine führt. Eine jüngst veröffentlichte Studie (https://www.cambridge.org/core/journals/american-political-science-review/article/abs/authoritarian-rallying-as-reputational-cascade-evidence-from-putins-popularity-surge-after-crimea/B587ECFA7B1280DE42D914DC101296F4#article) hat festgestellt, dass Russ:innen, die durch Kontakte mit Kriegsflüchtlingen über private Informationen zum tatsächlichen Geschehen in der Ukraine verfügen, 2015 erheblich weniger dazu neigten, Unterstützung für Putin zu heucheln. Jene militärischen Operationen sind weitaus weniger umfangreich als das, was Putin jetzt mutmaßlich vorhat. Und die Opfer von sehr viel größeren Konflikten dürften sehr viel schwieriger zu verheimlichen sein.

Eine militärische Bezwingung der Ukraine würde daher auch in Russland selbst zu einer tickenden Bombe werden. Ganz wie die baltischen Staaten innerhalb der UdSSR, obgleich diese ihre Bevölkerung ja sehr viel stärker kontrollierte, als es das derzeitige Regime in Moskau je getan hat. Umfragen (https://www.washingtonpost.com/politics/2022/02/04/majority-ukrainians-support-joining-nato-does-this-matter/) in der Ukraine machen deutlich, dass der Kreml die Ukraine konsequent missverstanden hat, indem er den Rückhalt (https://fivethirtyeight.com/features/war-with-russia-has-pushed-ukrainians-toward-the-west/) der Ukrainer:innen für die Unabhängigkeit nicht erkannt oder nicht ernst genommen hat. Das gilt auch für den Umstand, dass dieser Rückhalt selbst bei jenen stark ist, die vorwiegend russischsprachig sind.

Selbst wenn es zu einem überwältigenden und schnellen militärischen Sieg Russlands kommen sollte – was für Moskau keine ausgemachte Sache sein kann, wenn man die militärische Aufrüstung der Ukraine in den letzten Jahren bedenkt –, sollte man auch Berichte berücksichtigen, dass einige Ukrainer:innen sich auf einen anschließenden Guerillakrieg (https://www.buzzfeednews.com/article/katyamalofeyeva/ukraine-russia-invade-volunteer-fighters-training) vorbereiten. Also sind russische Todesopfer im Falle einer Invasion recht wahrscheinlich, und dies könnte mit der Zeit den Rückhalt für den Kreml beträchtlich bröckeln lassen.

Lieber Butter als Gewehre

Wir wissen, dass die Russ:innen heute lieber »Butter« (wirtschaftliches Wohlergehen) als »Gewehre« (patriotische Euphorie) wollen, um es mit den Begriffen auszudrücken, die Maria Snegovaya in einen unlängst erschienenen Artikel (https://www.tandfonline.com/ doi/abs/10.1080/1060586X.2020.1750912?journalC ode=rpsa20) verwendet. Ihr kluges Umfragenexperiment bestätigt, dass Russ:innen sehr viel weniger Unterstützung für eine selbstbewusst offensive Außenpolitik zeigen, wenn sich dadurch ihre wirtschaftliche Lage verschlechtern würde.

Da die westlichen Führungen klargestellt haben, dass bei einem russischen Übergriff umgehend eine Reaktion in Form von heftigen Wirtschaftssanktionen erfolgen werde, und angesichts der Forschungsergebnisse (https://www.atlanticcouncil.org/wp-content/uploads/2021/05/The-impact-of-Western-sanctions-on-Russia-and-how-they-can-be-made-even-more-effective-5.2.pdf), denen zufolge selbst die viel begrenzteren Sanktionen gegen Russland nach 2014 die Wirtschaft des Landes beeinträchtigt haben, scheint es klar, dass Putin im Falle einer Invasion auch einen wirtschaftlich motivierten politischen Preis zu zahlen hätte. 2014 hatte das Putin nicht so sehr gekümmert, weil (https://journals.sagepub.com/ doi/full/10.1177/0022343319866879) der Sammlungseffekt durch die Angliederung der Krim so stark war. Falls jedoch der patriotische Sammlungseffekt durch eine Invasion, wie sie jetzt im Raume steht, geringer (https://www.washingtonpost.com/politics/2021/04/12/russians-supported-putins-moves-crimea-2014-heres-whats-different-2021/) ausfällt – wovon viele (https://www.washingtonpost.com/outlook/2021/12/08/ukraine-putin-russia-invasion-public-opinion/) ausgehen –, dürften die Sanktionen mit der Zeit sehr viel heftiger auf den Rückhalt für Putin durchschlagen.

Pyrrhussieg

Wenn Putin langfristig denkt, sollten ihn allerdings am stärksten die Ergebnisse einer jüngst von mir unternommenen Studie (https://www.cambridge.org/core/journals/american-political-science-review/article/abs/authoritarian-rallying-as-reputational-cascade-evidence-from-putins-popularity-surge-after-crimea/B587ECFA7B1280DE42D914DC101296F4#article) beunruhigen: Ganze drei Viertel der Unterstützer, die er wegen der Krimannexion hinzugewonnen hatte, haben 2015 ihre Unterstützung wohl nur vorgetäuscht, weil sie angesichts des großen sozialen Drucks, sich patriotisch zu zeigen, eingeschüchtert waren und deshalb ihre Unterstützung bekundeten.

Autokraten dürfte es sicherlich nicht so sehr kümmern, ob die Unterstützung nur vorgetäuscht ist, solang die Menschen auf offene Opposition verzichten, was viele Russ:innen nach 2014 über viele Jahre wohl getan haben. Unterhöhlte politische Strukturen können lange überleben, wenn die Medien streng kontrolliert werden, das Niveau der Repressionen hoch ist und die Frage der Thronnachfolge sich aktuell nicht stellt.

Aber wenn sie dann zusammenbrechen, kann das Ende unerwartet, schnell und spektakulär kommen. Man denke nur an die Diktatoren, die während des Zusammenbruchs des Kommunismus 1989 und während des Arabischen Frühlings 2011 stürzten (https:// www.annualreviews.org/doi/abs/10.1146/annurev-polisci-032211-212204):

Sie waren alle alt und sahen sich dabei zunehmenden Spekulationen über ihre Nachfolge gegenüber – wie Putin. Vor diesem Hintergrund sollte das jüngste massive Aufbegehren in Belarus und in Kasachstan, also in Ländern mit einem sehr ähnlichen politischen System, in denen die Führer wie Putin in die Jahre kommen, für den Kreml ein Grund zu großer Sorge sein. Ganz zu schweigen von den ständigen Protestausbrüchen in Russland selbst, trotz des immer schärferen Vorgehens des Regimes gegen die Opposition.

Schuldzuweisungen

Falls Putin trotz der Risiken für die Stabilität der eigenen Lage zu einer Invasion entschlossen sein sollte, ist zu erwarten, dass er alles daran setzen wird, diese Risiken zu minimieren. Etwa, indem er versucht es so aussehen zu lassen, als ob nicht er angefangen habe. Er könnte behaupten, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe als erster angegriffen, ganz wie Russland Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili im August 2008 beschuldigte, zuerst angegriffen zu haben. Das wäre allerdings wohl wenig glaubhaft, zum Teil, weil Selenskyj in Russland vor allem als russischsprachiger Komiker und Schauspieler bekannt ist, und nicht als hitzköpfiger ukrainischer Nationalist. Passender für die heute in Russland populären Narrative wäre es, wenn russische Truppen in der Ukraine Kräfte »unterstützen« würden, die behaupten, sie wollen nach dem, was Russland den faschistischen »Staatsstreich« von 2014 nennt, »die verfassungsmäßige Ordnung in der Ukraine wiederherstellen«. Diese Argumentationslinie (https://www.politico.eu/article/russia-plan-coup-ukraine-uk-foreign-office/) würde mit Putins langjähriger Selbstdarstellung in Russland übereinstimmen, die ihn als einen eher auf Zusammenarbeit setzenden Moderaten zeichnet, denn als Hardliner, der Invasionen unternimmt. Es gibt weiterhin wenig Gründe zu glauben, dass durchschnittliche Russ:innen besonders glücklich sind, wenn wegen einer »verfassungsmäßigen Ordnung« der Ukraine das Blut ihrer Kinder vergossen oder ihr Lebensstandard geopfert wird. Die USA und ihre Partner sollten gleichwohl sorgsam Aktionen vermeiden, die ein solches Narrativ in Russland glaubwürdiger machen. Leider könnte die Verlegung von US-Truppen in die Nähe der Ukraine, aber (was wichtig ist) nicht tatsächlich in die Ukraine selbst, Putin in diesem Sinne helfen, ohne dass dabei irgendein abschreckender Effekt entsteht.

Fazit

Falls Putin all diese Dinge bewusst sind, was zu hoffen ist, könnte es sein, dass er vielleicht doch keine Invasion unternimmt. Er könnte (https://www.ponarseurasia.org/putin-has-off-ramps-lets-not-block-them/) leicht einen Rückzieher machen und würde dabei nur wenig innenpolitisches Kapital verlieren, selbst ohne einen Deal. Er würde vielleicht sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen, weil er dem Westen gezeigt hat, wie ernst es ihm mit Russlands Befürchtungen ist. Es könnte also sehr wohl sein, dass er blufft. Dennoch bleibt aber auch die Möglichkeit, dass er die Dinge nicht verstanden hat. Staatschefs unternehmen öfter Schritte, die ihren Rückhalt langfristig schmälern. In dem Fall wird Putin später den Preis zu zahlen haben.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Stand: 15.02.2022

Lesetipps / Bibliographie

  • Snegovaya, Maria: Guns to butter: sociotropic concerns and foreign policy preferences in Russia. In: Post-Soviet Affairs, 36.2020, Nr. 3, S. 268–279; DOI: 10.1080/1060586X.2020.1750912.
  • Hale, Henry: Authoritarian Rallying as Reputational Cascade? Evidence from Putin’s Popularity Surge after Crimea. In: American Political Science Review, 2021, S. 1–15. DOI: 10.1017/S0003055421001052.

Zum Weiterlesen


Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS