Umfragen zur Invasion in der Ukraine
Langfristig wird der Ausgang von Putins blutiger Invasion Russland in die Ukraine von Hard Power abhängen (Gewalt, Panzer und Raketen gegen Molotow-Cocktails und Gewehre) wie auch von Soft Power (Gewinnung der Herzen und Köpfe im In- und Ausland). Soft Power wiederum hängt von kulturellen Einstellungen und den Informationsströmen ab, die über angestammte Senderlandschaften, digitale Plattformen und persönliche Netzwerke fließen.
Aus Umfragen, die unmittelbar vor und nach dem Beginn der Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 durchgeführt wurden, geht hervor, dass die Mehrheit der gewöhnlichen Russ:innen eine Unterstützung für den Krieg gegen die Ukraine und für Präsident Putin bekunden. Insgesamt sagte eine schweigende Mehrheit (rund 60 Prozent der Befragten in Russland) in verschiedenen ersten Umfragen, dass sie die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine befürworten. Sind solche Ergebnisse jedoch zuverlässige Indikatoren für die Ansichten der Russ:innen vor der Invasion? Hat die Mehrheit der gewöhnlichen Russ:innen im Februar und Anfang März wirklich mit Putins Entscheidung sympathisiert, den Krieg zu beginnen?
Letztendlich wird die Geschichte entscheiden, wie sehr Putin allein (zusammen mit seinen Gefolgsleuten) das Blutvergießen zu verantworten hat, und wieviel Verantwortung bei der stillschweigenden Akzeptanz gewöhnlicher Russ:innen liegt. Es ist wichtig, diese Frage moralisch zu klären, um die Schuld an dem Konflikt festzustellen, wie auch juristisch, um Kriegsverbrechen zu verfolgen. Wenn wir Putins Soft Power verstehen, können wir auch Einblicke erlangen, welche langfristigen Folgen der Konflikt für seine Führung und die Zukunft der beiden Länder haben wird.
Die ersten Umfragen können, wie auch Studien anderswo, als echte Signale der russischen öffentlichen Meinung aufgefasst werden. Schließlich bleiben kulturelle Haltungen zu Nationalismus, zu Patriotismus und zur Unterstützung starker Führungspersönlichkeiten wirkungsmächtige Kräfte in dieser Welt. Viele Russ:innen mögen keine Vorstellung davon haben, was in ihrem Namen vor ich geht, und sich nur nach den Bildern richten, die im russischen Staatsfernsehen gezeigt werden.
Die staatliche Propaganda und die Fake News über die Ukraine, die angeblich „auf die eigenen Bürger:innen in der Region Donbas schießt“, hatten schon 2014 begonnen und haben sich seither in Frequenz und Umfang verstärkt. Selbst wenn viele gewöhnliche Russ:innen fürchterlich desinformiert sein mögen, könnten die ersten Umfragen immer noch die tatsächlichen Einstellungen erfasst haben und eine schweigende Mehrheit im Inland abbilden, die das Vorgehen Putins unterstützt. Sie würden somit die soziale Konstruktion der Realität im heutigen Russland widerspiegeln. Gleichzeitig gibt es einige Argumente dafür, dass die ersten Umfragen mit sehr viel Vorsicht zu genießen oder gar als irrelevant zu verwerfen sind.
Staatliche Zensur und tendenziöse Meinungsforschung
Eines der Argumente lautet, dass viele Meinungsforschungsinstitute wie etwa WZIOM oder FOM vom Staat kontrolliert werden und längst nicht anerkannte unabhängige Umfrageergebnisse liefern, die denen von „Gallup“, IPSOS oder „YouGov“ gleichwertig wären. Das wäre in der Tat ein wichtiger Punkt. Allerdings scheinen die Ergebnisse einer Reihe erster Umfragen unterschiedlicher Institute (die keineswegs identisch sind) nahezulegen, dass die Invasion zumindest in der Anfangsphase von einer Mehrheit der Russ:innen unterstützt wurde.
Die zuverlässigsten Daten, die in Russland verfügbar sind, kommen vom Lewada-Zentrum, einer wissenschaftlichen Nichtregierungsorganisation, die seit 1988 regelmäßig Umfragen durchführt. Lewada-Umfragen vom 17. bis 21. Februar 2022 haben ergeben, dass eine Mehrheit der Befragten (52 %) eine negative Einstellung gegenüber der Ukraine haben. Die meisten (60 %) gaben den Vereinigten Staaten und der NATO die Schuld für die Eskalation der Spannungen in der Ostukraine, während nur 4 Prozent die Verantwortung hierfür bei Russland sahen. Die Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für Putin seit Dezember netto um rund 13 Prozentpunkte zugenommen hat. Es gibt also einen Sammlungseffekt, wobei fast drei Viertel der Befragten (71 %) im Februar ihre Zustimmung zu Putins Führung äußerten.
Das waren keine isolierten Ergebnisse. Eine Umfrage, die die britische Agentur „Savanta ComRes“ vor dem Krieg, nämlich vom 7. zum 15. Februar 2022 für den Sender CNN durchgeführt hat, förderte noch stärkere Haltungen zu Tage. Dort stimmte die Hälfte der Befragten (50 %) der Aussage zu, dass es „für Moskau richtig wäre, militärische Gewalt einzusetzen, um Kyjiw von einem NATO-Beitritt abzuhalten“. Zwei Drittel meinten, dass Russ:innen und Ukrainer:innen „ein Volk“ seien, eine Ansicht, die in der Sowjetzeit gelehrt und die von Putin forciert wurde; dem stehen nur 28 Prozent der Ukrainer:innen gegenüber, die das denken.
Das WZIOM veröffentlichte eine Umfrage vom 25. bis 27. Februar 2022, in der eine starke Unterstützung für die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine deutlich wurde, wobei zwei Drittel der Befragten (68 %) sich dafür aussprachen, rund ein Viertel (22 %) dagegen waren, und nur 10 Prozent sich nicht festlegen konnten. Die FOM veröffentlichte eine Umfrage, bei der 65 Prozent der vom 25. bis zum 27. Februar 2022 Befragten „den Beginn von Russlands militärischer Spezialoperation“ unterstützten. „Russian Field“, ein privates Meinungsforschungsinstitut, vermeldete, dass in einer Umfrage vom 26. bis 28. Februar 2022 58,8 Prozent der Befragten das „russische militärische Vorgehen gegen die Ukraine“ unterstützten. Die Washington Post schließlich legte ebenfalls eine Studie vor, die in der ersten Kriegswoche von einem Forscherteam unternommen wurde. Auch dort unterstützte eine Mehrheit der Russ:innen die Invasion (58 %), während nur ein Viertel (23 %) dagegen war.
Es ist klar, dass nicht alle Russ:innen vor Beginn der Invasion einen Krieg unterstützten, dass aber insgesamt verschiedenen Umfragen zufolge eine Mehrheit von rund 60 Prozent dafür waren. Falls eine generelle Verzerrung die Ergebnisse all der privaten und staatlich kontrollierten Institute beeinflusst, wäre es unmöglich, systematische und echte Belege für die öffentliche Meinung festzustellen, sei es nun für oder gegen den Krieg.
Selbstzensur und verzerrte Antworten
Ein weiterer Grund für eine mögliche Verzerrung könnte in einer Selbstzensur bei den Befragten liegen, die zu unaufrichtigen Antworten und verzerrten Ergebnissen führt. Menschen, die unter repressiven Regimen leben, könnten versucht sein, bei heiklen Themen abweichende Meinungen zu vermeiden, weil sie befürchten, dass ihre Meinung an staatliche Stellen weitergegeben werden.
Diese Überlegung könnte zutreffen. Selbst in westlichen Ländern ist es oft schwierig, bei Umfragen die wahren Ansichten der Befragten festzustellen, weil diese zögern, auf direkte Fragen zu bestimmten moralischen Themen ihre Ansichten zu äußern, aus Angst vor sozialer Sanktionierung. Dabei könnte es um riskantes Sexualverhalten, offenen Rassismus, Sexismus oder Homophobie gehen, sogar um das Wahlverhalten. Noch mehr Schwierigkeiten gibt es, wenn in repressiven Regimen mit einer schwierigen Lage der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit nach den Einstellungen zur Regierung gefragt wird.
Fragebogenexperimente sind dazu geeignet, versteckte Quellen von Verzerrung aufzuspüren. Einige Studien zur Popularität von Wladimir Putin, die diese Technik einsetzten, haben nur eine geringe Verzerrung der Antworten festgestellt. Andere wiederum haben stärkere Fälle von Selbstzensur festgestellt, etwa bei Studien in China. Unsere eigenen Fragebogenexperimente im World Values Survey (demnächst verfügbar) lassen annehmen, dass es in verschiedenen autoritären Staaten wie Äthiopien, Nicaragua und Iran unterschiedliche Verzerrungsgrade gibt, wenn die Menschen über ihre Unterstützung für den Staatsführer befragt werden. Selbst wenn in Russland einige Menschen Selbstzensur betreiben sollten, so ist doch zu bezweifeln, ob selbst die weitreichendsten Schätzungen zu verzerrten Antworten das Verhältnis in der öffentlichen Meinung zugunsten des Militäreinsatzes in der Ukraine kippen könnten, so wie es sich aus den ersten Umfragen ergibt.
Proteste und Widerspruch
Es gibt auch Ansichten, dass die „echte“ russische Haltung verlässlicher an der Auswanderung von Russ:innen mit abweichender Meinung und dem Ausbruch massenhafter Straßenproteste und zivilen Ungehorsams abgelesen werden könnte. Menschenrechtsgruppen berichten von verbreiteten Antikriegsprotesten in Städten überall im Land, und zwar trotz des harten Vorgehens der Polizei und trotz drohender schwerer Verletzungen und Gefängnisstrafen. Bis heute sind Tausende Demonstranten festgenommen worden. Weitere Tausende Russ:innen sind ins Ausland geflohen.
Die Behauptung, dass diese Dissidenten die schlummernden wirklichen Ansichten der meisten gewöhnlichen Russ:innen zum Ausdruck bringen, könnte eher westliche Hoffnungen repräsentieren als die Realität. In den meisten Ländern stellen Aktivist:innen normalerweise einen atypischen Querschnitt der allgemeinen Bevölkerung dar, selbst in liberalen Demokratien, in denen die Versammlungsfreiheit nicht eingeschränkt ist. Die „schweigende Mehrheit“ wird sich kaum engagieren.
Hypothetische Fragen und ein fließendes Meinungsbild
Weitere Zweifel an der Verlässlichkeit russischer Umfrageergebnisse könnten hinsichtlich der Bedeutung von Antworten zu hypothetischen Themen aufkommen, bei denen die öffentliche Meinung fließend und vage ist. Hier könnten, wenn die Kästchen des Interviewers angekreuzt werden, spontane Antworten erfolgen, weil die meisten Befragten nicht groß nachgedacht haben.
Bei diesen ersten Umfragen war das der Fall. Mit der Zeit dürften sich die Haltungen festigen, wobei die Richtung jeglicher Antwort von kulturellen Werten und der Schuldzuschreibung abhängt. Die Frage, ob die Haltungen der Menschen in Russland so bleiben werden, wenn sich die Dinge weiterentwickeln, bleibt offen, insbesondere dann, wenn Soldaten in Leichensäcken heimkehren, die Wirtschaftssanktionen heftiger durchschlagen, mehr persönliche Informationen über die Grenzen gelangen und die Stärke des ukrainischen Widerstandes deutlich wird.
Weltweit hat es nach den historischen Ereignissen in der Ukraine, mit sehr umfassender Berichterstattung, und mit herzzerreißenden Bildern von Flüchtlingen und Städten in Schutt und Asche, mit den Reden von Selenskyj und den bewegenden Interviews mit gewöhnlichen Ukrainer:innen einen dramatischen Meinungswandel in der Öffentlichkeit und in den Eliten gegeben. Die Auswirkungen werden beispielhaft an dem Politikwechsel in den NATO- und EU-Staaten (insbesondere in Deutschland) deutlich, der hinsichtlich der Finanzierung des Militärs und der Bedeutung der Sicherheit erfolgte.
Die Auswirkungen der Kriegsberichterstattung auf die öffentliche Meinung in Russland hängt jedoch von bisherigen kulturellen Haltungen ab, insbesondere von einer fatalistischen Haltung gegenüber der Regierung und von der Wirkungsmacht des Nationalismus, wie auch von dem Aufwand, der mit dem Zugang zu verfügbaren Information verbunden ist. Selbst wenn eine Opposition gegen den Krieg allmählich zunehmen sollte, können spätere Umfragen nicht rückwirkend als ein Hinweis auf die Meinungen in Russland zu Beginn der Invasion gelesen werden.
Gehirnwäsche durch Zensur in den Medien, staatliche Propaganda und Desinformation
Die letzte und plausibelste Erklärung, warum die ersten Umfragen eine Unterstützung in Russland für den Krieg zeigen, besteht in der Manipulierung der öffentlichen Meinung durch staatliche Kontrolle und den verbreiteten Einsatz von Zensur, Propaganda und Desinformation im Innern wie auch im Ausland.
Es gibt Berichte, dass Russ:innen Erzählungen von Freunden und Verwandten, die in der Ukraine leben und den Krieg unmittelbar erleben, verwerfen. Stattdessen meinen Russ:innen, dass die ukrainische Armee auf Befehl der Regierung, die aus „Neofaschisten“, „Nationalisten“ und „Drogenabhängigen“ bestehe, unter „falscher Flagge“ die eigene Bevölkerung angegriffen habe, um Putin dafür die Schuld zuzuschieben. Diese „offizielle“, von Putins Regime formulierte Darstellung der Ereignisse wurde extensiv über das staatliche Fernsehen verbreitet. Informationen in ukrainischen oder internationalen Medien werden als „fake“ gebrandmarkt und Bilder von Zerstörungen in ukrainischen Städten als „manipuliert“ bezeichnet.
Seit vielen Jahren hat unter Präsident Putin die staatliche Kontrolle der Medien zugenommen. Dieser Prozess hat sich in den Wochen drastisch beschleunigt. Das Projekt „Varieties of Democracy“ veröffentlicht einen Index zur Meinungsfreiheit und zu alternativen Informationsquellen, der darstellt, inwieweit der Staat die Freiheit der Presse und der Medien respektiert. Russland ist auf diesem Index seit dem Jahr 2000 stetig nach unten gerutscht, während die Ukraine im Vergleich höher rangiert.
Durch das jüngste Vorgehen ist Putins Zensur sehr viel strenger geworden. So bestimmt ein neues Gesetz, dass Journalisten, die militärische Informationen veröffentlichen, die vom Staat als falsch eingestuft werden, bis zu 15 Jahre Gefängnis drohen. Viele internationale Medienunternehmen wie CNN oder die BBC haben ihre Tätigkeit im Land ausgesetzt. Die in Russland noch verbliebenen unabhängigen Medien, z.B. die Zeitung „Nowaja Gaseta“ hat ihre Arbeit eingestellt und der unabhängige Fernsehsender „Doschd“ wurden geschlossen. Schon vor diesen Ereignissen hatte Russland 2021 auf dem Index der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ auf Platz 150 von 180 Ländern gelegen.
Die modernen, gebildeten Russ:innen der Mittelschicht, insbesondere die technologieaffinen jüngeren Generationen, sind noch nicht so sehr isoliert und streng kontrolliert wie die Menschen in Turkmenistan, Eritrea oder Nordkorea. Um die Zensur zu umgehen, können sie immer noch Virtual Private Networks (VPN) einsetzen, um Zugang zu internationalen Nachrichten zu erlangen – die Nachfrage ist gestiegen. Der Zugang erfordert aber Anstrengungen und technisches Know-how. Die Ergebnisse des jüngsten „World Values Survey“, der 2018 in Russland und 2020 in der Ukraine durchgeführt wurde, besagen, dass immer noch zwei Drittel der Russ:innen das Fernsehen als primäre Quelle für die täglichen Nachrichten nutzen, und sich nur eine Minderheit auf das Internet stützt. Im Unterschied hierzu gibt es jetzt in der Ukraine zum Beispiel nahezu genauso viel primäre Internetnutzer wie Konsumenten von Fernsehnachrichten.
Unter den russischen Internetusern haben sich schon vor den kürzlichen staatlichen Blockaden gegen internationale Plattformen wie „Facebook“ und „Twitter“ viele auf russische Quellen verlassen. Der letzten Erhebung (Wave 3) des Eurasia Barometer (EAB) zufolge, die im November 2021 durchgeführt wurde, waren viele zu großen Teilen bei „VKontakte“ und bei „Odnoklassniki“, also bei russischen Social-Media-Plattformen unterwegs. Ukrainer:innen haben auch weitaus stärker westliche/internationale soziale Medien genutzt als es Russ:innen taten.
Überaus wichtig ist unsere Erkenntnis, dass die Nutzung des Internet oder eben des Fernsehens in Russland einen Hinweis auf die politische Einstellung liefern, und zwar in unterschiedlichen Richtungen. Die Studienreihe Eurasia Barometer, die 1989 aufgelegt wurde, stellt hier eine der angesehensten und zuverlässigsten Quellen für wissenschaftliche Daten dar. Die Studie untersucht unter anderem das Vertrauen in den russischen Präsidenten und die Bewertung von Russlands Einfluss auf die Welt. Insgesamt wurde im November 2021 die Rolle Russlands in der Welt von rund 81 Prozent der Befragten in Russland als positiv betrachtet, während es in der Ukraine nur 14 Prozent waren. Das Vertrauen in den eigenen Staatschef lag in Russland bei 59 Prozent und in der Ukraine bei nur 35 Prozent.
Nach der statistischen Kontrolle der standardmäßigen Hintergrundmerkmale ergab sich ein positiver Zusammenhang zwischen dem Konsum von Fernsehnachrichten in Russland und dem Vertrauen in Präsident Putin sowie einer positiven Wahrnehmung der Rolle Russlands in der Welt. Demgegenüber erzeugt die Nutzung des Internet und sozialer Medien das umgekehrte Muster: weniger Vertrauen in Putin und mehr negative Ansichten zu Russlands Einfluss. Die Nutzung des Radios und von Tageszeitungen ergibt ein gemischtes Bild. Hier funktioniert wohl ein „virtuoser Kreis“; durch die Wahl der Nachrichtenquellen wie auch die Wirkung dieser Quellen wird eine Korrelation zwischen Mediennutzung und politischen Einstellungen hergestellt.
Die Wirkung von Online-Quellen und sozialen Medien divergieren in den beiden Ländern drastisch. In Russland hat die staatliche Propaganda im Fernsehen und die Zensur unabhängiger sozialer Medien das Land isoliert und zahlreiche Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen, sodass sie folgsam die Narrative wiederholen – „wie es im Fernsehen gesagt wurde“. Es bedeutet für Russ:innen einen Kraftaufwand, um Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu erlangen und zu vergleichen. Für gewöhnliche Bürger:innen erfordert es aber eine noch sehr viel größere Opferbereitschaft, aufzustehen und öffentlich der Regierung zu widersprechen.
Für uns ist es ein Leichtes, Putin, seinen Gefolgsleuten im Kreml und den Sicherheitskräften die Schuld an dem Gemetzel, den Trümmern und dem Blutvergießen in diesem gewollten Krieg zu geben. Die passive gesellschaftliche Unterstützung für Putins Entscheidung zur Invasion in die Ukraine, die in Umfragen zum Ausdruck kommt, bedeutet jedoch, dass es wie bei Hitlers willigen Vollstreckern eine breitere Schuld an der anschließenden Katastrophe gibt. Auch die schweigende Mehrheit einfacher Bürger:innen in der russischen Gesellschaft trägt diese Mitverantwortung.
In der Ukraine hingegen ist der Strom von Echtzeitvideos über „Facebook“, „Telegram“, „Twitter“, „WhatsApp“ und andere soziale Medien zu einer wichtigen Quelle von Informationen über die Grausamkeit von Putins ruchlosem Vorgehen gegen das Land geworden; gleichzeitig wird damit auch Moskaus Propaganda im In- und Ausland entlarvt. Die direkt eingefangenen Stimmen von Ukrainer:innen, nicht zuletzt in Interviews mit vielen, die des Englischen mächtig sind, mit Flüchtenden und offiziellen Sprechern, sind weltweit gehört worden.
Alle ukrainischen Ortschaften und Städte werden über mehrere „Telegram“-Kanäle und „WhatsApp“-Gruppen mit stetig aktualisierten Informationen über Granatenangriffe und Feueralarme sowie Gewinne und Verluste unter den ukrainischen Truppen oder der Zivilbevölkerung versorgt. Ebenso werden auf diese Weise Öffnungszeiten von Apotheken und Supermärkten, verfügbare humanitäre und medizinische Hilfe und vieles mehr bekanntgegeben. Täglich werden Tausende Videos verbreitet. Soziale Medien haben dabei geholfen, die ukrainische Verteidigung, die Evakuierungen und humanitäre Tätigkeiten im Land zu koordinieren, während die ganze Welt den Konflikt live und in Echtzeit verfolgt.
Moskau hat versucht, diesen Prozessen entgegenzuwirken und seine erprobten Praktiken mit Fake News und Desinformation in die Ukraine zu exportieren. Anfang März wurden Fernsehtürme in Kyjiw und Charkiw angegriffen. Ein Sendeturm in Cherson wurde eingenommen, woraufhin die lokalen Radio- und Fernsehkanäle durch russlandfreundliche Audio- und Videobotschaften ersetzt wurden. Der von Russland eingesetzte neue „geschäftsführende Bürgermeister“ von Melitopol hat die lokale Bevölkerung gedrängt, wegen „zuverlässigerer Informationen“ auf russische Fernsehsender umzuschalten. Mit diesen Strategien soll ein falsches Narrativ rund um die russische Invasion in die Ukraine durchgesetzt und die gesamte Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen umgeschrieben werden.
Lehren aus den Informationskriegen
Eine Reihe von Umfragen unterschiedlicher Meinungsforschungsinstitute hat ergeben, dass die schweigende Mehrheit der Russ:innen (rund 60 Prozent) anfangs den Einsatz von Gewalt in der Ukraine guthießen und die Unterstützung für Putin zugenommen hat. Es gibt mehrere Faktoren, die dies erklären könnten.
Putins Kontrolle im Innern stützt sich auf Hard Power, nämlich auf ein heftiges gewaltsames Vorgehen gegen Opponenten wie z.B. die Inhaftierung von Alexej Nawalnyj. Sie ist aber auch von Soft Power abhängig, insbesondere von bisherigen kulturellen Werten und nationalistischen Gefühlen, die durch die staatliche Kontrolle der Fernsehnachrichten und Zeitungen verstärkt werden. Die freie Presse ist in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise unterdrückt worden, was sich durch die jüngst erlassenen Restriktionen gegen unabhängige Medien beschleunigt hat. Die offizielle Zensur unterdrückt aggressiv unabhängige Quellen für Nachrichten über die Ukraine. Selbstzensur hat vermutlich eine Spirale des Schweigens in der Gesellschaft verstärkt, wobei durch die Wahrnehmung, dass die Mehrheit Rückhalt gewährt, die offizielle Propaganda verstärkt und Kritiker marginalisiert werden.
Der Krieg in der Ukraine umfasst wie andere moderne Konflikte eine komplexe Kombination aus Hard Power (militärischer Gewalt) und Soft Power (Informationskriegen). Die Ukraine hat nach dem nicht provozierten Angriff auf eine souveräne Nation durch die moralisch eindeutige Lage der ukrainischen Flüchtlinge und die Tapferkeit des Widerstands auf der Weltbühne einen überwältigenden, weltweiten Soft Power-Sieg errungen. Beispielhaft hierfür ist die nahezu einhellige Verurteilung Russlands in einer Resolution der UN-Vollversammlung, in der die Mitglieder einen bedingungslosen Abzug fordern.
Solange jedoch die Botschaft nicht in die Herzen und Köpfe in Russland dringt und dort aktiven Widerspruch und Empörung gegen einen Krieg entfacht, der beide Länder zugrunde richtet, ist sie nicht mächtig genug, um Putins Herrschaft zu erschüttern. Während die freie Welt mit Schrecken zuschaut, verwandelt russische Hard Power ukrainische Städte in Schutt und Asche.
Übersetzt von Hartmut Schröder
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im LSE Blog der London School of Economics and Political Science unter dem Titel: „What Do Ordinary Russians Really Think about the War in Ukraine?“.