Brücke zum „anderen Russland“. Russische Exilgruppen brauchen neue staatliche und private Förderprogramme

Von Barbara von Ow-Freytag (Prague Civil Society Centre, Berlin)

Zusammenfassung
Im Zuge des größten Exodus aus Russland seit der Oktoberrevolution haben Hunderttausende Russen das Land verlassen, die meisten jung und gut ausgebildet. Auch in Deutschland hat der Ukraine-Krieg die Reihen der politisch aktiven russischen Diaspora geschlossen. Viele russischsprachige Aktivisten sind in der Ukraine-Hilfe engagiert und arbeiten weiter für ein demokratisches und offenes Russland. Für die Bundesregierung und private Förderer sind diese Gruppen ideale Partner, um weiter in die russische Gesellschaft hineinzuwirken. Um die russischsprachige Diaspora zu unterstützen, müssen zügig neue und flexiblere Programme und Instrumente entwickelt werden. Diese sollten damit verbunden werden, die deutsche Demokratieförderung im gesamten postsowjetischen Raum neu aufzulegen.

Seltene Geschlossenheit

»Wir haben uns vereint, damit die Stimmen der Russen, die gegen den Krieg stehen, in der ganzen Welt gehört werden können«, erklärte der Oppositionspolitiker Dmitrij Gudkow in einem gemeinsamen Video führender russischer Regimegegner. Das »Anti-Kriegs-Komitee« der russischen Exil-Prominenz, gegründet im März 2022, ist nur ein Beispiel für den neuen Schulterschluss in der sonst wenig geeinten russischen Diaspora. Der Überfall auf die Ukraine hat die Reihen der politischen Emigration aus Russland geschlossen wie selten. Fast gleichzeitig haben der Schriftsteller Boris Akunin, der Wirtschaftswissenschaftler Sergej Guriew und der bekannte Tänzer Michail Baryschnikow die Plattform »Wahres Russland« (https://truerussia.org/) geschaffen. »Russen aller Länder, vereinigt Euch gegen den Krieg«, heißt es in ihrem Appell, der die russischsprachige Diaspora zu Spenden für ukrainische Geflüchtete aufruft.

Einige Hunderttausend Russen haben das Land seit Ausbruch des Ukrainekriegs verlassen – der größte Exodus seit der Oktoberrevolution. Zunächst hat sich die neue russische Migration auf Tiflis, Jerewan, Istanbul und andere Orte konzentriert, die für Russen ohne Visa zu erreichen sind. Doch auch in Deutschland kommt ein stetiger Fluss russischer Migranten an, von denen viele auch Partner deutscher Organisationen sind. Und wie in anderen europäischen Städten sind auch in Deutschland ältere Exilgruppen mobilisiert wie selten zuvor. Berlin, schon immer wichtiges Zentrum der russischen Emigration, steht auch diesmal im Mittelpunkt. Seit dem 24. Februar, dem Tag des Kriegsbeginns, sind politisch engagierte Emigranten überall in der Stadt aktiv. Sie verfassen Aufrufe, organisieren Proteste vor der russischen Botschaft und helfen Geflüchteten aus der Ukraine. Die Panda Platforma im Prenzlauer Berg (https://panda-platforma.berlin/) ist zum kulturellen Treffpunkt russischsprachiger Aktivisten geworden. Neben Lesungen und Konzerten auch mit ukrainischen Künstlern bietet sie jeden Sonntag einen »safe space« für Geflüchtete an. Die legendäre Berliner Russen-Disco des Schriftstellers Wladimir Kaminer heißt inzwischen Ukraine-Disco (http://www.wladimirkaminer.de/de/blog). Auch die neu kreierte weiß-blaue Fahne, ohne das »Rot von Blut«, die in wenigen Wochen zum internationalen Symbol der Anti-Putin Opposition geworden ist, wurde von der russischen Exildesignerin Kai Katonina in Berlin entworfen.

Exodus und Zeitenwende

Dabei gehören die oppositionellen Aktivisten, Journalisten und Künstler, die in den letzten zwanzig Jahren Russland verlassen haben, selbst auch zu den Opfern des Krieges, den das »System Putin« seit langem gegen die russische Gesellschaft führt. Die systematische Unterdrückung des »unabhängigen Lebens der Gesellschaft« (Vaclav Havel) in Russland hat den Krieg gegen die Ukraine vorbereitet. Bis zu fünf Millionen Russen sollen nach einer jüngeren Studie unter Putin Russland verlassen haben (https://tochno.st/materials/emigratsiya-2000-kh). Auch wenn die genaue Zahl schwer zu schätzen ist, handelt es sich meist um junge, aktive und gut qualifizierte Menschen. Auch die jüngste Flüchtlingswelle umfasst, neben prominenten Aktivisten, Menschenrechtlern und Journalisten, vor allem junge IT-Experten, Fachleute und Vertreter der »kreativen Klasse« aus städtischen Milieus. Selbst wenn genaue Prognosen unmöglich sind, ist klar, dass diese Welle anhalten bzw. anschwellen wird, je mehr Russland in politischer Repression, Militarismus, Isolation und wirtschaftlichem Niedergang versinkt.

Auch für die zivilgesellschaftlichen Verbindungen zu Russland, die immer ein Schwerpunkt deutsch-russischer und europäisch-russischer Beziehungen waren, bedeutet der Ukraine-Krieg eine Zeitenwende. Russlands Zivilgesellschaft und unabhängige Medien, die trotz großen staatlichen Drucks eine beeindruckende Innovation und Resilienz bewiesen haben, sind unter der Anfang März eingeführten Kriegszensur zerschlagen oder zumindest isoliert, kriminalisiert und handlungsunfähig. Viele Organisationen sind verboten, aufgelöst oder »liquidiert«, wie die Menschenrechtsgesellschaft Memorial. Bei vielen sind ein Teil der Mitarbeiter ins Ausland geflohen, bei anderen das gesamte Team. Gleichzeitig hat die zwangsweise Schließung aller deutschen politischen Stiftungen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die neben anderen internationalen Stiftungen, Think Tanks und Menschenrechtsorganisationen am 8. April faktisch annulliert wurden, einen endgültigen Schlussstrich unter mehr als 30 Jahre internationalem zivilgesellschaftlichem Austausch mit Russland gezogen. Die deutsch-russische zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, die über das größte und vielfältigste Netz gemeinsamer Initiativen mit russischen Partnern in Europa verfügt, ist grundsätzlich in Frage gestellt. In den meisten Fällen steht die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit für eine langjährige und tiefgreifende »Verflechtung« mit Russland und muss nun völlig neu gedacht und gestaltet werden.

Gegen Isolation und Propaganda

Neben der politischen und wirtschaftlichen Isolierung ist vor allem die Abschottung der russischen Gesellschaft ein Desaster für die Zukunft des Landes. Mit der Schaffung einer »disconnective society«, also einer Gesellschaft, die durch Isolation und Propaganda auf ihren Führer eingeschworen ist (https://ridl.io/en/russia-ukraine-and-the-emergence-of-disconnective-society/), hat der Kreml ein wichtiges Kriegsziel erreicht, meint der russische Kommunikationswissenschaftler Grigorij Asmolow. Neben Brain Drain, Militarisierung und Repression bedroht die Isolation der russischen Gesellschaft langfristig die Entwicklung unabhängiger, demokratischer und kreativer Kräfte im Land. In dieser Situation erhält die russischsprachige Diaspora eine neue Schlüsselfunktion und muss nach Kräften unterstützt werden. Nicht nur weil sie Solidarität und Hilfe verdient, sondern weil sie die wichtigste und natürlichste verbleibende Brücke zu jenen Kräften in Russland ist, die den Krieg ablehnen und weiter für ein offenes und demokratisches Russland stehen. Deutschland hat ein elementares Interesse, Exilgruppen gezielt und effektiv zu unterstützen, die weiter mit ihren bisherigen Mitarbeitern, Partnern und Zielgruppen in Russland verbunden sind und dabei sind, neue Strukturen aufzubauen. Außer auf neue digitale Möglichkeiten muss dabei auch auf Erfahrungen aus der sowjetischen Zeit zurückgegriffen werden. Wie in den 1980er Jahren geht es wieder darum, die »Macht der Ohnmächtigen« zu unterstützen, wie Vaclav Havel es nannte. Gerade er wusste, dass dies in repressiven Zeiten vor allem »Kleinarbeit« ist. Diese auf allen Ebenen operativ und flexibel zu unterstützen ist jetzt eine vordringliche Aufgabe der Bundesregierung, aber auch privater Förderer in Deutschland. Im Einzelnen sollte es zunächst vor allem um folgende Maßnahmen gehen:

  1. Zurecht hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dazu aufgerufen, Putin-Kritikern, die Russland verlassen, Arbeitsplätze in Deutschland zur Verfügung zu stellen (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/russland-robert-habeck-ermuntert-putin-kritiker-zur-arbeit-in-deutschland-a-9838309f-b145-41ed-b34c-92df29c23cf0). Die dringendste Aufgabe der Bundesregierung ist es somit, eine großzügige Aufnahmepraxis für russische zivilgesellschaftliche Aktivisten und Journalisten einzurichten, die durch Krieg und Repression ins Exil getrieben wurden. Vor allem langjährige Partner deutscher Organisationen und Stiftungen, aber auch andere Aktivisten der demokratischen Zivilgesellschaft wie Menschenrechtsverteidiger, Umweltschützer, Journalisten, Kulturschaffende oder Wissenschaftler, die unter dem Druck der aktuellen »Hexenjagd auf die Meinungsfreiheit« (https://www.amnesty.at/presse/russlands-hexenjagd-auf-die-meinungsfreiheit/) ausgereist sind, brauchen dringend erleichterte Einreise- und Aufenthaltsregeln. Dabei geht es nicht um Möglichkeiten für Asylverfahren, sondern um ein humanitäres Aufnahmeprogramm, das ein Recht auf längerfristigen Aufenthalt inklusive sozialer Absicherung und Integration, auf Erwerbstätigkeit und demokratische politische Betätigung einschließt. Erforderlich ist dafür auch ein Mechanismus, mithilfe dessen andere Visa-Arten, mit denen Geflüchtete ins Land gelangt sind, in Deutschland kurzfristig in längerfristige Aufenthaltsvisa umgewandelt werden können. Dabei sollte die Einzelfallprüfung ebenfalls erst in der Bundesrepublik vorgenommen werden.
  2. Ergänzend zu existierenden Förderformaten, vor allem den Mitteln für die Förderung des Programms zum Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland (ÖPR), müssen neue, ausreichend ausgestattete und äußerst flexible Förderprogramme geschaffen werden, um die russische Diaspora in ihrer Brückenfunktion nach Russland zu unterstützen. Auch die bisher überbürokratisierte Zivilgesellschaftsförderung des Bundes, von der viele mit Russland und Osteuropa verbundene Organisationen abhängig sind, muss der neuen politischen Realität angepasst werden. Neben flexibleren Haushaltsregeln sollten die Vorgaben für Laufzeiten, Berichterstattung und Auszahlung von Fördergeldern vereinfacht und beschleunigt werden. Darüber hinaus sollte die deutsche Demokratieförderung grundsätzlich überdacht und in Absprache mit zivilgesellschaftlichen Akteuren neu entwickelt werden (https://libmod.de/fuer-eine-nachhaltige-demokratiefoerderung-in-der-oestlichen-nachbarschaft-und-der-russischen-foederation/). Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass dringend neue Wege entwickelt werden müssen, um Demokratieförderung nicht nur in Russland, sondern auch anderen postsowjetischen Staaten unter Diktaturbedingungen zu ermöglichen. Ein Ziel müsste sein, neben den bisher üblichen Projektmitteln (die zwingend deutsche Partner erfordern) Ressourcen verfügbar zu machen, um die sich Diasporavertreter und -organisationen mit neuen Ideen direkt, als selbstständig registrierte Nichtregierungsorganisationen und als Einzelpersonen bewerben können. Wichtig ist, dass auch private deutsche Stiftungen, vor allem die Bosch- und Bertelsmann-Stiftungen, die sich in den letzten fünfzehn Jahren aus dem postsowjetischen Raum zurückgezogen haben, aber auch andere wichtige Player wie die Mercator-Stiftung, wieder »einsteigen« und neue Förderformate entwickeln, die die vielfältigen Ideen russischer, aber auch belarusischer Exilgruppen aufgreifen. Ziel muss sein, eine bunte und differenzierte deutsche Förderlandschaft zu entwickeln, die das »andere Russland« unterstützt, das sich dem Ukraine-Krieg widersetzt und weiter für ein offenes, demokratisches und pluralistisches Russland engagiert ist.
  3. Daneben muss ein breites Netz weiterer Unterstützungs-, Schutz- und Bildungsmaßnahmen für die jüngste Welle politischer Flüchtlinge aus Russland geschaffen werden. In Berlin und anderen deutschen Städten sollten »Osteuropa-Häuser« eingerichtet werden, die als Treffpunkte für die Beratung, Unterstützung und Vernetzung von Verfolgten aus Russland, aber auch aus Belarus und anderen postsowjetischen Staaten, dienen sollten (wobei für Ukrainer in der anhaltenden Kriegssituation eigene Einrichtungen geschaffen werden müssen). Der/die Koordinator/en der Bundesregierung für die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit der Region (s. auch Punkt 7) sollten eine Geberkonferenz deutscher Stiftungen, Universitäten, Kultureinrichtungen, aber auch Unternehmen, Startups und NGOs etc. einberufen, um die Förderung qualifizierter Emigranten durch Ausbildungsprogramme, Fellowships, gezielte Praktika und andere Initiativen zu koordinieren. Gleichzeitig sollten demokratisch engagierte Exilrussen gezielt in den öffentlichen Diskurs eingebunden werden und in öffentlichen Veranstaltungen, Talk Shows etc. größere Sichtbarkeit bekommen. Um Russlands »disconnective society« entgegenzuwirken, ist es wichtiger denn je, russische Experten, Intellektuelle und Aktivisten zu integrieren und ihnen eine Stimme zu geben.
  4. Bei allen Förderprogrammen sollte die Unterstützung von unabhängigen russischsprachigen Medien und Journalisten erste Priorität haben. Krieg und Militärzensur haben den russischen Informationsraum von fast allen nicht vom Kreml kontrollierten Nachrichtenquellen abgeschnitten. In dieser Totalblockade sind die vielen exzellenten russischsprachigen Exiljournalisten bald die letzte Option für alternative Informationskanäle aus, über und nach Russland. Fast alle unabhängigen russischen Online-Medien sind dabei, separate, oft zweisprachige Portale in EU-Hauptstädten aufbauen. Redakteure und Journalisten stehen vor multiplen Aufgaben und müssen ein Spektrum neuer Formate entwickeln: für Nachrichten aus Russland, Informationen über den Krieg gegen die Ukraine in Russland sowie alternative Angebote für die russischsprachigen Communities im Ausland. In allen Bereichen brauchen sie schnelle und effektive Unterstützung, v. a. finanzielle Hilfe, technische Ausstattung und rechtliche Beratung. Der neue JX Fund (https://www.jx-fund.org/), den Reporter ohne Grenzen gemeinsam mit den Rudolf Augstein und Schöpflin Stiftungen aufgesetzt hat, ist ein exzellentes Beispiel. Ebenso inspirierend ist das neue Medienportal für »russischsprachige Europäer«, das die bekannte Nowaja Gaseta quasi über Nacht in Riga aufgebaut hat (https://novayagazeta.eu/). Angesichts der großen russischsprachigen Minderheit in Deutschland, die westlichen Medien bis heute misstrauisch begegnet (https://www.deutschlandfunk.de/mediennutzung-russische-community-deutschland-100.html), sollten die Bundesregierung und deutsche Förderer größtes Interesse daran haben, dass solche Initiativen auch in Berlin entwickelt und angesiedelt werden.
  5. Eine weitere Priorität sollte im Bildungsbereich liegen. Der Krieg hat gezeigt, wie weit es dem »System Putin« gelungen ist, die russische Gesellschaft durch Desinformation und Propaganda einzuschüchtern und zu manipulieren. Der Politikwissenschaftler Andrej Kolesnikow spricht von »passiver Konformität« und »Gleichschaltung« der russischen Bevölkerung (https://carnegieendowment.org/2022/04/06/how-silent-assent-made-bucha-possible-pub-86822). Viele wegweisende zivilgesellschaftliche Projekte haben versucht, der Indoktrination des Staates entgegenzuwirken. Das Spektrum reicht von politischer Bildung (Schule für gesellschaftliche Bildung, früher Moskauer Schule für gesellschaftliche Bildung, seit 2017 in Riga und Vilnius, http://civiceducation.ru/), Fortbildungen in sozialen Fragen (Takie Dela, https://takiedela.ru/ und Nushna Pomoschtsch, https://nuzhnapomosh.ru/about/) oder Menschenrechten (etwa die Schule des Gesellschaftlichen Verteidigers, die gemeinsam vom Sacharow-Zentrum und Rus Sidjaschchaja ins Leben gerufen wurde, https://www.facebook.com/groups/962300340582703/), journalistischen Workshops in den russischen Regionen (von 7x7 Horizontales Russland, https://semnasem.org/en) bis zu anspruchsvollen historischen Seminaren (Arzamas Akademie, https://arzamas.academy/) und der Menschenrechtsgesellschaft Memorial, die bis Januar 2022 einen vielbeachteten Schülerwettbewerb durchführte (https://www.memorial.de/index.php/7982-schuelerwettbewerb-ende-eines-projekts). Viele Träger sind bereits im Exil oder versuchen derzeit, parallele Strukturen im Ausland aufzubauen. Sie vertreten die liberale Elite des Landes, verfügen über bedeutende Netzwerke und verfolgen angesichts des Krieges wichtige neue Ideen, wie z. B. das Portal 7x7 Horizontales Russland, das auf YouTube eine Online-Universität für junge Menschen in entfernteren russischen Regionen aufbauen will. Mit dem Exodus russischer Nachwuchswissenschaftler und Kulturschaffender stehen solchen Projekten erstklassige Experten zur Verfügung, die die russische Öffentlichkeit direkt ansprechen können. Für deutsche Förderer sind dies ideale Voraussetzungen für sinnvolle Programme, die trotz des neuen Eisernen Vorhangs in die russische Gesellschaft hineinstrahlen können.
  6. Ein weiterer Schwerpunkt muss in der Menschenrechtsarbeit liegen. Mit dem Krieg steht Russland vor einer Zeit von Staatsterror, Diktatur und Re-Stalinisierung. Die massenhaften Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in der Ukraine wie auch die wachsende sozioökonomische Krise zwingen das Putin-Regime unausweichlich zu größerer Härte gegen Kritiker im Inland. Die Festnahmen von über 15.000 Anti-Kriegs-Demonstranten, die Militärzensur und drastische Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind wohl nur der Anfang einer immer massiveren Verfolgung aller Andersdenkenden. Durch das Ausscheiden aus dem Europarat unterliegt Russland ab September 2022 nicht mehr der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), auch dies ist eine Zeitenwende. Auch im Menschrechtsbereich hat die russische Zivilgesellschaft wegweisende Organisationen entwickelt, deren Erfahrung nicht verloren gehen darf. Die Nichtregierungsorganisation OWD-Info (https://ovdinfo.org/), die alle wichtigen politische Proteste in Russland begleitet hat, das Komitee gegen Folter (https://pytkam.net/en/) und die (aufgelöste) Rechtsanwaltsvereinigung Team 29, die inzwischen die neue Plattform »Erstes Department« gegründet hat (https://dept.one/), haben in den letzten zehn Jahren attraktive, innovative Plattformen aufgebaut, die Millionen von Menschen erreicht haben. So schwierig Menschenrechtsarbeit im heutigen Russland ist, kann sie auf viel Professionalität und Erfahrung aufbauen. Ebenso müssen Wege gefunden werden, das Register »politischer Gefangener« (https://memohrc.org/en/news_old/memorial-publishes-updated-lists-political-prisoners) aufrechtzuerhalten, das das Menschenrechtszentrum Memorial entwickelt hat. Für Deutschland, das die Themen Geschichte, Diktatur und Totalitarismus mit Russland teilt, sollte es eine Ehrensache sein, gerade der Gesellschaft »Memorial« alle Möglichkeiten zu bieten, ihre Strukturen, Archive und diversen Tätigkeitsbereiche hierzulande neu aufzubauen.
  7. Angesichts dieser vielfältigen Aufgaben ist die überfällige Neuordnung und -besetzung des Amts des Beauftragten für die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft, der Russischen Föderation und Zentralasien im Auswärtigen Amt dringender denn je. Wie mehrere deutsche NGOs unterstrichen haben (https://www.austausch.org/aktuelles-deteils/krieg-gewalt-desinformation-und-repression-entgegentreten-gemeinsam-mit-zivilgesellschaftlichen-kraeften-aus-russland-belarus-un/), ist das Amt eines Regierungskoordinators für Russland und die gesamte Region in der aktuellen Situation wichtiger denn je. Es ist unverständlich und inakzeptabel, dass die Funktion aus parteiinternen Gründen seit Monaten unbesetzt bleibt. Seit Jahren zeichnet sich ab, dass die Aufgaben des Amts mit 11 postsowjetischen Ländern nicht nur überfrachtet, sondern vor allem zu disparat geworden sind. Durch den Krieg gegen die Ukraine ist eine neue Aufteilung zwingend notwendig geworden: in eine/n separate/n Beauftragte/n für die zwischengesellschaftlichen Beziehungen mit Russland und Belarus (KO-RUS/BY) und eine/n weitere/n Koordinatoren/in für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit den assoziierten Ländern der Österlichen Partnerschaft. Das Mandat der/s KO-RUS/BY sollte gezielt auf die Zusammenarbeit mit politischen und zivilgesellschaftlichen Vertretern im Exil ausgeweitet werden. Beide Ämter sollten mit regional erfahrenen und qualifizierten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens besetzt und mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet werden, um die Realisierung der oben genannten Maßnahmen politisch und fachlich zu unterstützen.
Eine eigene Infrastruktur ist nötig

Es ist wichtig zu bedenken, dass sich die Mehrheit der Intellektuellen, Wissenschaftler und Kulturschaffenden, die Hoffnungsträger für ein »anderes Russland« sind, trotz des derzeitigen massiven Exodus weiter im Land befinden. Mit Recht erinnert der Propaganda-Experte Peter Pomerantsev daran, dass es heute weit bessere Kommunikationsmittel gibt als im Kalten Krieg, um die russische Gesellschaft von außen zu erreichen. Er ruft den Westen dazu auf, eine »eigene Infrastruktur« aufzubauen, um die Abschottung Russlands zu überwinden und mit verschiedenen Teilen der russischen Bevölkerung in Kontakt zu kommen (https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/peter-pomerantsev-russland-propaganda-wladimir-putin/komplettansicht). Langfristig erfordert diese Aufgabe mehr als die Unterstützung politisch und zivilgesellschaftlich engagierter russischsprachiger Exilgruppen. Aber die Unterstützung der demokratisch gesinnten Diaspora ist dafür ein entscheidender Anfang und sicher auch der beste Weg, um effektive und passende eigene Formate zu entwickeln.

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Analyse

Das Internet als Raum für politisch Aktive? Ergebnisse der FES-Jugendstudie

Von Peer Teschendorf
Bei den Protesten der letzten Jahre nahmen viele Jugendliche teil, die sich über das Internet austauschen und koordinieren. Eine aktuelle Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass das Internet als Medium für Unterhaltung, Bildung, Information und Kommunikation immer wichtiger für junge Menschen wird. Die Studie zeigt allerdings auch, dass dies nicht automatisch zu einer größeren Politisierung der Jugend führen muss. Die Regierung Russlands setzt derweil auf eine deutlich striktere Regulierung des Internets. Doch den Weg Chinas hin zu einer kompletten Kontrolle zu gehen, scheint nicht die wahrscheinlichste Entwicklung. (…)
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