Das Archiv von Memorial – Evolution und Evakuierung

Von Nikita Lomakin (Memorial International)

Am 4. März 2022 war es kalt in Moskau. Seit dem frühen Morgen fand in beiden Moskauer Gebäuden von Memorial eine »Durchsuchung« statt: Ohne Vorwarnung oder vorherige Anfragen stürmten Dutzende Personen in die Büros und ließen niemanden hinein oder heraus. Was diese maskierten Leute suchten, ob die Durchsuchung lange dauern und wie sie enden würde, das war für alle ein Rätsel. Mitarbeiter von Memorial schoben neben dem Gebäude Wache, lösten sich dabei regelmäßig ab, um sich in dem winzigen Café gegenüber aufwärmen zu können. Gleich neben den Memorial-Leuten tranken dort Polizisten und Journalisten der Propaganda-Holding Russia Today, die mit ihnen gekommen waren, ihren Cappuccino um sich aufzuwärmen. Bei ihnen war diesmal keinerlei offene Aggression zu spüren. Sie waren einfach dabei, ihre Ziele »abzuarbeiten« (ganz wie die russischen Artilleristen mehrere Tage schon ihre Ziele in Charkiw, Kyjiw und anderen ukrainischen Städten abarbeiteten).

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die beiden zentralen Memorial-Organisationen, die in den Büros arbeiteten (Memorial International und das Menschenrechtszentrum Memorial), bereits auf dem Weg zur Auflösung, da sie – so ein Gerichtsbeschluss – das Gesetz über »ausländische Agenten« systematisch verletzt hätten. Dieses Gesetz war 2012 verabschiedet und 2014 verschärft worden, als Reaktion auf massenhafte Proteste der russischen Zivilgesellschaft, von einzelnen Personen wie auch von Organisationen, gegen die Annektierung der Krim und die Beteiligung Russlands am Krieg im Donbass. Die Memorial-Organisationen, die sich 30 Jahre der Sammlung von Materialien zur Geschichte der politischen Repressionen in der UdSSR und der Dokumentierung aktueller Menschenrechtsverletzungen verschrieben hatten, wurden geschlossen, weil angeblich nicht absolut alle veröffentlichten Materialien dahingehend gekennzeichnet waren, dass sie von einem »ausländischen Agenten« stammen. Die entsprechende Vorschrift ist im Gesetz schwammig formuliert und in Wirklichkeit praktisch unerfüllbar. Bis zum 4. März waren sämtliche Gerichtsprozesse verloren worden, und so war die Durchsuchung ebenso unerwartet wie angsteinflößend. Als die Mitarbeiter von Memorial nach 23 Stunden in die Büros kamen, entdeckten sie, dass die Vertreter von Polizei und Justiz nicht nur Safes aufgebrochen und Computer beschlagnahmt, sondern auch eine »Botschaft« hinterlassen hatten – an den Flurwänden, in den Räumen und auf den Materialien einer aktuellen Ausstellung prangte der Buchstabe »Z«.

Das Archiv und die musealen Sammlungen, die aus Sicht der Historiker den wichtigsten Teil des Erbes von Memorial bilden, hatten nicht gelitten. Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Gebäude geschafft worden. Neben den klassischen Messgrößen Regalmeter und Terrabyte hatten sie dabei eine durchaus spürbare Dimension angenommen: als Kilogramm auf den Schultern der Mitarbeiter und Freiwilligen und als Zahl der Lieferwagen, mit denen die Materialien im Februar aus den Gebäuden Memorial fortgebracht wurden.

Das Archiv von Memorial

Memorial ist 1987 als Initiativgruppe zur Errichtung eines Denkmals für die Opfer der politischen Repressionen in der sowjetischen Hauptstadt entstanden. Es wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben und Geld gesammelt, was von einem der wichtigsten Medien der Perestroika-Zeit unterstützt wurde, der Zeitschrift Ogonjok. Allerdings wurde bereits bei der ersten öffentlichen Veranstaltung, einer Ausstellung mit den eingegangenen Denkmalentwürfen, klar, dass die Errichtung eines Denkmals nur einen winzigen Bruchteil der Arbeit bilden würde, die Staat und Gesellschaft zu bewältigen haben, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Die Menschen, die stundenlang Schlange gestanden hatten, um die Ausstellung zu sehen, wollten über die Geschichte ihrer Verwandten sprechen, Dokumente zeigen, die in der Familie erhalten geblieben waren. Sie wollten Nachforschungen anstellen und jemanden finden, dem sie ein Stück ihrer persönlichen Geschichte der politischen Repressionen in der UdSSR berichten können. So verwandelte sich die Gruppe, die zur Lösung einer Frage gegründet wurde, bald zu einer der kraftvollsten gesellschaftlichen Bewegungen der Perestroika-Zeit und zu einem Netzwerk, zu dem Organisationen in Dutzenden Städten des Landes gehörten.

Eine der Aufgaben jeder Memorial-Organisation war die Sammlung von Dokumenten. Zu Beginn ging es vor allem um die »Fragebögen von Memorial«, die von den Opfern der Repressionen selbst oder deren Verwandten ausgefüllt wurden, und in denen von den jeweiligen Geschehnissen berichtet wurde. Diesen Fragebögen wurden oft Dokumente beigelegt, die in der Familie erhalten geblieben waren. Das konnten Sterbeurkunden sein oder etwa Rehabilitierungsbescheide. Seltener waren es Briefe aus dem Lager, Memoiren oder Gegenstände, die von den Erfahrungen in der Unfreiheit berichten. Im Zuge der allmählichen (und bis heute unvollständigen!) Öffnung der staatlichen Archive, insbesondere der Archive des Innenministeriums und des FSB (des Nachfolgers des KGB) erhielt Memorial Kopien offizieller Dokumente, die von Angehörigen und Historiker*innen gesammelt wurden. Die Archive von Memorial füllten sich auch dank des Schriftwechsels mit polnischen, deutschen und tschechischen Familien, die etwas über das Schicksal ihrer Verwandten erfahren wollten, die einst in der UdSSR gewesen waren. In den Zentren der Dissidentenbewegung, also den großen Städten der Sowjetunion, wurden Memorial Dokumente sowjetischer Bürgerrechtler*innen und Kämpfer*innen gegen das Regime überlassen.

Bis 2021 bestand in Moskau das größte der Memorial-Archive, in dem unter anderem auch Dokumente von Memorial-Organisationen in anderen Städten gesammelt wurden. Es umfasste rund 900 laufende Meter an Dokumenten, sowie Terrabytes an eingescannten Materialien sowie Tausende Audio- und Videointerviews auf unterschiedlichen Datenträgern. Dutzende Fachleute haben die Aufarbeitung der Materialien und das Scannen übernommen und die Archivbestände auf- und ausgebaut. Ihre Arbeit mündete in einer Vielzahl von Publikationen und in der Digitalisierung eines Großteils der Dokumentensammlung über die Opfer des Terrors von den 1930er bis zu den 1950er Jahren (Archiv zur Geschichte des GULAG) sowie einer Teildigitalisierung der Sammlung zu den Repressionen nach Stalins Tod (Archiv zur Geschichte der Dissidenz).

Als Ende 2021 offensichtlich wurde, dass es keine Aussichten mehr gab vor Gericht zu bestehen, wurde die schwierige Entscheidung getroffen, das Archiv zu evakuieren. Das nahm über einen Monat in Anspruch. Gleichzeitig wurde klar, dass die Arbeit nicht wie früher weitergehen kann.

»Die Unterschrift von unseren Partnern brauchen wir nicht«

Nach der Durchsuchung begannen viele Mitwirkende von Memorial, wie auch viele andere Russ*innen in den ersten Monaten des Krieges, das Land zu verlassen. Hinsichtlich der Mitarbeiter*innen des Archivs hatte der Umzug des Archivs eine ganz praktische Bedeutung: in Russland Geld für eine Fortführung der Digitalisierung aufzutreiben, war unmöglich geworden. Die Menschen In Russland haben jetzt Angst, große Summen für große Projekte zu spenden, und Überweisungen aus dem Ausland waren eine Lotterie, bei der Memorial kein Glück haben konnte. Daher erschien es vernünftig, die Arbeit an der digitalen Darstellung und Veröffentlichung der Sammlung von der Arbeit mit den physischen Dokumenten zu trennen. Erstere kann von jedem beliebigen Ort der Welt erledigt werden, letztere nur in Moskau.

Bald nach der Durchsuchung wurden die ersten Briefe verschickt, in denen europäische Archive sowie zeithistorische und erinnerungspolitische Institute um Hilfe für das Archiv von Memorial gebeten wurden. Die Reaktion war überwältigend. In einer Situation, in der sich die ganze Welt gegen Russland (und mitunter auch gegen Russ*innen) wandte, haben weltweit Dutzende Institutionen angeboten, bei der Evakuierung oder durch eine Fernanstellung von Mitarbeiter*innen zu helfen. In Deutschland ist ein Analogon zur nordamerikanischen »Underground Railroad« für flüchtige Sklaven entstanden, eine Gemeinschaft von Menschen, die in Organisationen von Memorial mitwirken, und Stiftungsmitarbeiter*innen. Diese Gemeinschaft machte es möglich, für viele Archivare*innen und andere Mitwirkende von Memorial Stipendien und Arbeitsplätze aufzutreiben. Das erfolgte oft mit Tempo und den Formalitäten und bürokratischen Hürden zum Trotz, was besonders deshalb wertvoll war, da die allgemeine Nervosität äußerst stark zunahm und Lebenspläne höchstens für eine Woche entworfen werden konnten.

Einer der »rettenden Häfen« für das Archiv von Memorial ist die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Das dortige riesige Archiv zur Geschichte der Dissidenten und der informellen Kunst in der UdSSR ist zusammen mit dem Kompetenzzentrum, zu dem sich Dutzende hervorragende wissenschaftliche Mitarbeiter*innen zusammengeschlossen haben, zu einer Fluchtstätte geworden, und zwar nicht nur für Moskauer Mitwirkende von Memorial, sondern auch für jene aus St. Petersburg und Perm. Die Ersten kamen nur für ein, zwei Monate. Doch dann konnten die Stipendien bis Ende 2022 verlängert werden. Jetzt wird immer deutlicher, dass es um eine mehrjährige Zusammenarbeit geht.

Die Aussichten für das Archiv von Memorial

Über die Zukunft des Archivs jetzt, Ende November 2022, nachzudenken ist schwierig. Es gibt zwar einige sehr klare Thesen, aber die Aussichten werden vom »Pulverdampf des Krieges« und von der allgemeinen Krise vernebelt, die das Land und auch Memorial durchmachen.

Das Wichtigste, was jetzt dringend zu tun ist, ist eine hochwertige Digitalisierung eines möglichst großen Teils der physisch vorhandenen Bestände. Darüber hinaus muss deren Unversehrtheit gewährleistet werden. Angesichts der aktuellen Lage besteht hierin das Hauptziel der Arbeit des Archivs. Gelingt dies nicht, dürften eine Aufarbeitung der Archivbestände, Veröffentlichungen, die Arbeit für Nutzer und die Zusammenarbeit mit anderen Archiven unmöglich werden.

Zweitens geht es darum, das Team, das noch vor kurzem über ganz Europa verstreut war, und das sich jetzt wieder allmählich in einigen Zentren zusammenfindet, zusammenzuhalten. Eine gemeinsame Arbeit von Archivar*innen in Europa und Moskau kann es ermöglichen, das Tempo und die Qualität beizubehalten, mit der die Dokumente aufgearbeitet und indexiert werden.

Die dritte Aufgabe sind die Publikationen. Die Auflösung von Memorial International hat das Archiv mit einer Reihe nicht abgeschlossener Projekte zurückgelassen, die die Transparenz und den Online-Zugang zur Sammlung erheblich verbessern sollten. Diese Vorhaben mussten alle aufgeschoben, aber zum Glück nicht gänzlich aufgegeben werden. Ein Teil wird wie geplant umgesetzt werden, zum Beispiel das Namensregister zum Archiv. Bei einem Teil sieht es immerhin schon besser aus, da es jetzt auch eine Zusammenarbeit mit anderen Archiven gibt (etwa bei der angestrebten Publikation eines Verzeichnisses von Dokumenten der Dissidentenbewegung in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen).

Das Vierte ist der Lernprozess. Die enge Zusammenarbeit mit Archiven in ganz Europa, die sich aufgrund der tragischen Geschehnisse von 2022 ergab, stellt für viele Archivare eine neue Erfahrung dar. Das Leben und die Arbeit »als Gast« macht im Vergleich zu früher einen sehr viel intensiveren Erfahrungs- und Ideenaustausch möglich.

Was sich daraus ergibt? Schauen wir mal.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Zum Weiterlesen


Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS