Am 1. Januar 2022 betrug die offizielle Bevölkerung Russlands 145,6 Millionen Einwohner:innen (einschließlich der Krim und der Stadt Sewastopol, die völkerrechtlich nicht als Teil Russlands anerkannt sind). Der russische Zensus Mitte Oktober bis Mitte November 2021 hatte jedoch mit 147,2 Millionen einen höheren Wert ergeben (1,6 Mio. mehr). Der russische Zensus wurde allerdings von vielen Demographie-Expert:innen bereits unmittelbar nach dessen Durchführung kritisiert. Zu den Kritiker:innen gehören etwa Alexej Rakscha (https://novayagazeta.ru/articles/2021/11/16/est-bolshaia-lozh-est-vybory-a-eshche-est-perepis-naseleniia) sowie Sergej Sacharow und Jelena Tschurilowa anhand von Umfragen des Lewada-Zentrums (https://tinyurl.com/3pv3zcfu). Zu den wichtigsten Kritikpunkten des Zensus gehörte, dass die Behörden zu wenig Bewusstsein für dessen Notwendigkeit schufen, weswegen die Beteiligung seitens der Bevölkerung laut Umfragen so niedrig war wie nie zuvor. Außerdem seien einzelne Bevölkerungsgruppen wie Migrant:innen nicht richtig erfasst worden und der Zensus habe die Bevölkerungszahl um drei bis vier Millionen zu hoch beziffert.
Die demographische Entwicklung Russlands seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion lässt sich besser chronologisch erfassen. Anfang 1991 betrug die Bevölkerungszahl der Russischen Föderation 148,3 Millionen. In den Folgejahren wurde die Entwicklung von diversen Faktoren bestimmt:
Langfristige Muster der demographischen Entwicklung: Sowjetische Bevölkerungsexpert:innen hatten bereits Ende der 1960er Jahre vorhergesagt, dass es in den 1990er Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Bevölkerungsrückgang kommen werde, und zwar aufgrund eines Rückgangs der Fertilitätsrate (die für diesen Zeitraum für ein industrialisiertes Land einen der niedrigsten Werte aufwies), einer sinkenden Lebenserwartung für die erwachsene Bevölkerung und der spezifischen Altersstruktur der Bevölkerung;Transformationsschocks, die zu einem starken Rückgang der Fertilitätsrate und der Lebenserwartung führen. Aufgrund der mangelnden Finanzierung des Gesundheitssystems, des Stresses, der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der Liberalisierung des Alkoholmarktes und der aus sowjetischer Zeit ererbten geringen Wertschätzung des Lebens war die Lebenserwartung in Russland im Jahr 2000 bei Männern um 3,8 Jahre und bei Frauen um 2,1 Jahre unter der von 1990. Was die Geburtenrate anbelangt, führte die Zeit der Verunsicherung und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten dazu, dass Schwangerschaften aufgeschoben oder mitunter gar abgebrochen wurden. Dadurch sank die Zahl der Kinder pro Frau in Russland von 2,01 im Jahr 1989 auf einen historischen Tiefpunkt von 1,16 im Jahr 1999.
Bis Anfang des Jahres 2010, in dem zum letzten Mal vor 2021 ein Zensus durchgeführt wurde, ging die Bevölkerungszahl auf 142,7 Millionen zurück, ungeachtet großer Bevölkerungsgewinne durch Migration, vor allem durch eine Rückkehr russischsprachiger Migrant:innen aus anderen postsowjetischen Staaten, in denen die wirtschaftlichen Krisen noch stärker waren und es zu politischen und interethnischen Spannungen kam. Der Umfang der Immigration in dieser Periode wird auf fast sieben Millionen geschätzt. Daraus ergibt sich ein natürlicher Bevölkerungsrückgang in diesem Zeitraum von über 12,5 Millionen.
Bis Ende der 2000er Jahre verbesserte sich die demographische Lage. Die Gründe hierfür waren eine »kompensatorische« Entwicklung nach der Krise der 1990er Jahre mit einer höheren Geburtenrate und einer geringeren Sterberate, die dynamische soziale und wirtschaftliche Entwicklung, die geburtenfördernde Familienpolitik nach 2007, die Veränderungen im Gesundheitswesen (unter anderem eine bessere Finanzierung sowie die Einführung neuer medizinischer Technologien und Behandlungsmethoden) und eine stärkere Regulierung des Alkoholkonsums, eine erhöhte Attraktivität des Landes für Migrant:innen aus anderen postsowjetischen Staaten sowie eine veränderte Altersstruktur der Bevölkerung (die Dellen, welche die russische Alterspyramide aufweist, spiegeln die Phasen günstiger bzw. ungünstiger Bedingungen für die demographische Entwicklung wider). Dadurch erlebte das Land von 2009 bis 2017 einen Anstieg der Bevölkerungszahl, selbst wenn man die Annexion der Krim nicht mitberücksichtigt. Zum Zeitpunkt der Annexion betrug die Bevölkerung der Halbinsel – einschließlich Sewastopols – dem Krimzensus von 2014 zufolge rund 2,25 Millionen. Und in drei Jahren (2013–2015) gab es sogar einen Überhang der Geburtenrate über die Sterbezahlen. In den Jahren 2009–2012 und 2016–2017 erfolgte ein Bevölkerungszuwachs, weil die Gewinne durch Migration den natürlichen Bevölkerungsschwund überstiegen.
Nach 2015 ging die Geburtenrate allerdings wieder zurück, bis sie ein stabiles Niveau erreichte (rund 1,5 Kinder pro Frau im Jahr 2019); die Zahl der Geburten ging aufgrund der Altersstruktur der Bevölkerung sogar noch stärker zurück. Es gab sehr viel weniger Frauen im gebärfähigen Alter: Die Anzahl der Frauen zwischen 20 und 39 Jahren war 2019 um fast eine Million geringer als noch 1999, und um zwei Millionen geringer als 2011. Die höhere Lebenserwartung bremste einen möglichen Anstieg der Sterberate, der aufgrund der alternden Bevölkerung zu erwarten gewesen wäre. Die Corona-Pandemie sorgte allerdings für eine veränderte Situation im Land, vor allem aufgrund der vermehrten Todesfälle. Die natürlichen Bevölkerungsverluste beliefen sich 2020 und 2021 auf über 1,8 Millionen Menschen und die Zahl der Sterbefälle bis Ende 2021 im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion wird auf rund eine Million geschätzt.
Ein solcher Prozess eines Bevölkerungsrückgangs, wie er in Russland zu beobachten war, ist im internationalen Vergleich allerdings keine Ausnahme. Schätzungen der UN-Behörde für Bevölkerungsfragen von 2019 zufolge war in fast 30 Ländern ein Bevölkerungsrückgang zu beobachten, und die Prozesse eines Bevölkerungsschwunds dürften sich laut UN-Prognosen hier in näherer Zukunft intensivieren.
Wenn wir die Bevölkerungsentwicklung Russlands aus Sicht des Arbeitsmarktpotenzials betrachten, können wir erkennen, dass von 1992 bis zum Ende der 2000er Jahre der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 59 Jahre) von 54 auf 61 Prozent der Gesamtbevölkerung zunahm, bzw. um 6,7 Millionen Personen (aufgrund des frühen Renteneintrittsalters ist hier die Altersgruppe zwischen 60 und 64 bis zum Jahr 2018 nicht von Interesse, da seinerzeit die Umsetzung der Rentenreform einsetzte). Allerdings wiesen die Ziffern für diese Altersgruppe in absoluten Zahlen einen Rückgang auf (um 8 Millionen bis 2022), und dies auch anteilmäßig (mit einem Rückgang auf 54 Prozent bis 2022). Gleichzeitig wird der Alterungsprozess der Bevölkerung durch den Umstand illustriert, dass die Zahl der über 60-Jährigen von 24,3 Millionen 1992 auf 33,7 Millionen 2022 gestiegen ist. Somit nahm der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung von 16 auf 23 Prozent zu. Allerdings schreitet dieser Alterungsprozess im Vergleich zu ostasiatischen und neuerdings einigen lateinamerikanischen und osteuropäischen Ländern in Russland nicht ganz so schnell voran.
Aus den jüngsten Statistiken geht hervor, dass das Saldo des natürlichen Bevölkerungswandels in Russland von Januar bis September 2022 (also in den ersten drei Quartalen des Jahres) ein Minus von rund 463.000 bzw. von 4,2 pro 1.000 aufweist, was gegenüber dem Pandemiejahr 2021 eine Verbesserung darstellt (das Minus betrug im entsprechenden Vorjahreszeitraum 675.000 bzw. 6,2 pro 1.000). Allerdings waren die Salden in der Zeit vor der Pandemie nur gering negativ, selbst wenn man den Alterungsprozess berücksichtigt, der sich durch eine Abnahme der Geburtenrate von jährlich 2–3 Prozent bei gleichzeitiger Zunahme der Sterberate um ebenfalls 2–3 Prozent auszeichnet. So wies die natürliche Bevölkerungsentwicklung beispielsweise für die ersten neun Monate 2018 ein Minus von 173.400 (bzw. −1,6 pro 1.000) auf. 2019 lagen die Zahlen bei −236.900 (bzw. −2,1 pro 1.000). Die Statistiken weisen einen Rückgang der Geburtenzahl um rund fünf Prozent aus, was bedeutet, dass die Zahl der potenziellen Kinder pro Frau nach einer Phase der Stagnation wieder sinken wird. Hinzu kommt, dass die Ungewissheit aufgrund des Krieges und der Wirtschaftssanktionen gegen Russland sich erst Ende 2022 und 2023 niederschlagen wird. Derzeit gibt es keine positiven kurzfristigen Projektionen für die Geburtenrate in Russland, und das Ausmaß des prognostizierten Rückgangs wird hier von der Dauer des Krieges und der Wirtschaftssanktionen abhängen.
Die Zahl der Sterbefälle ist 2022 gegenüber dem Vorjahr um über 15 Prozent bzw. 2,5 pro 1.000 zurückgegangen. Im Vergleich zu den ersten neun Monaten 2019 ist die Sterberate immer noch höher (13,3 gegenüber 12,3 pro 1.000). Prognosen der UNO gehen derzeit für 2022 von einer Lebenserwartung von 70,1 Jahren aus, was zumindest wieder eine Annäherung an den Wert von 2020 mit 71,3 Jahren bedeuten würde; 2019 lag dieser noch bei 73,9 Jahren. Das bedeutet, dass sich die Corona-Krise ihrem Ende nähert. Die Corona-Pandemie hat zu einem Rückgang der Lebenserwartung für Männer geführt; sie lag knapp unter jener in der Transformationskrise in den 1990er Jahren. Für Frauen war der Rückgang der Lebenserwartung sogar noch stärker. Russland fand sich dadurch zusammen mit einigen südosteuropäischen Staaten in der Gruppe von Ländern mit der weltweit höchsten Sterblichkeit durch das Coronavirus wieder (soweit in den jeweiligen Staaten verlässliche Daten vorliegen). Die 2022 Revision der Vereinten Nationen zur Bevölkerungsentwicklung hat auch für 2022 einen Rückgang der Lebenserwartung (gegenüber 2020) prognostiziert, mit einer schnellen Erholung im Jahr 2023 (https://data.un.org/Data.aspx?d=PopDiv&f=variableID%3A68). 2022 dürfte die Lebenserwartung leicht über 2021 liegen, aber immer noch unter 2020 (70,1 Jahre 2022 gegenüber 69,4 im Jahr 2021 und 71,3 Jahren im Jahr 2020, nach Angaben der UNO). Die Prognosen der UNO und der Weltbank für die Bevölkerung Russlands ohne die Krim sind den Grafiken und Tabellen auf den Seiten 5–12 dargestellt. Allerdings hat eine Steigerung der Lebenserwartung wohl bereits 2022 eingesetzt. Anhand der demographischen Statistiken ist es nicht möglich, die möglichen Opferzahlen durch den Krieg abzuschätzen, weil die Übersterblichkeit bezogen auf die Gesamtbevölkerung – anders als bei der Pandemie – weniger signifikant sein dürfte. Zudem sind seit März keine Daten zu Sterbezahlen bei den verschiedenen Alterskohorten verfügbar (dort könnte man potenziell eine Übersterblichkeit bei jungen Männern feststellen). Und selbst nach einer Veröffentlichung Mitte 2023 können wir nicht sicher sein, dass die Opferzahlen dort miteinbezogen wurden. In näherer Zukunft könnte die wirtschaftliche Rezession und der Stress trotz der Erholung nach der Corona-Pandemie zu einer stagnierenden Lebenserwartung führen.
Verlässliche Zahlen zu den Opfern des Krieges sind kaum zu erlangen. Nach Angaben des Nachrichtenportals Mediazona (https://zona.media/casualties, [aktuell, russ.]; https://en.zona.media/article/2022/05/11/casualties_eng, [engl., etw. veraltet]) gibt es auf russischer Seite über 9.500 Todesopfer, und dies gehört zu den niedrigsten Schätzungen. Laut BBC News(https://www.bbc.com/russian/features-63599537) liegt Zahl der Gefallenen geschätzt bei mindestens 17.400 und damit über dem Afghanistan-Krieg. Diese Zahlen sind zwar in der Demographie-Pyramide nicht sichtbar, doch könnten die Auswirkungen auf die Gesellschaft ebenso gravierend sein wie beim Afghanistan-Krieg. Die höheren Schätzungen zu den Opferzahlen könnten der Wirklichkeit näherkommen, wenn wir diese Opferzahlen als Anteil an der jungen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter betrachten und dies dann mit den entsprechenden Zahlen für den Vietnam-Krieg abgleichen. Die Auswirkungen des Vietnam-Krieges auf die US-Gesellschaft sind wohlbekannt. Andererseits sind die demographischen Auswirkungen in relativen Ziffern wohl sehr viel geringer als beispielsweise die Folgen des zweiten Karabach-Krieges auf Armenien, wo die Opfer 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten und der Krieg zusammen mit der Corona-Pandemie 2020 zu einem Rückgang der Lebenserwartung um 4,7 Jahre führte.
Der interessanteste Aspekt, die Migration, kann leider für eine Abschätzung der Kriegsfolgen auf die demographische Entwicklung in Russland nicht genutzt werden. Die Werte zu langfristiger grenzüberschreitender Migration, die die offiziellen Quellen liefern, sind in den letzten Jahren aufgrund veränderter Registrierungskriterien sehr schwankend gewesen und bieten nur sehr bedingt eine Grundlage zur Analyse. Beispielsweise hat sich die Zahl der Abgewanderten gegenüber 2020 ohne ersichtlichen Grund halbiert; davon ausgehend erschienen die Zahlen für 2022 dann hoch. Eine umfangreiche Analyse der russischen Daten sowie der Daten aus anderen Ländern und der Zahlen zu den Grenzübertritten liefern allerdings Anhaltspunkte dafür, dass mehrere hunderttausend Personen Russland dauerhaft verlassen haben (siehe hierzu einen Beitrag von Michail Denissenko und Julija Florinskaja vom 7. Mai, also vor der Mobilmachung (https://meduza.io/feature/2022/05/07/skolko-lyudey-uehalo-iz-rossii-iz-za-voyny-oni-uzhe-nikogda-ne-vernutsya-mozhno-li-eto-schitat-ocherednoy-volnoy-emigratsii) sowie die Daten nationaler Statistikämter außerhalb Russlands). Zudem haben wir keine Sicherheit über die Anzahl ukrainischer Geflüchteter in Russland. Daten des UNHCR geben 2,8 Millionen Grenzübertritte aus der Ukraine an (https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine), doch dürfte das nicht der tatsächlichen Zahl der Geflüchteten entsprechen, die im Land verblieben sind. Die Gesamtzahl der Personen aus der Ukraine, die nach 2014 dauerhaft nach Russland emigrierten, kann aufgrund von Messproblemen und einer hohen Dunkelziffer nur geschätzt werden, Expert:innen gehen aber von mindestens mehreren Hunderttausend bis zu über einer Million aus. Wir können mit einiger Gewissheit sagen, dass der Bevölkerungszuwachs durch Migration wohl eher stagnieren als zunehmen wird, und zwar ungeachtet der starken Zunahme bei der Zu- wie auch der Abwanderung, die Russland im letzten Jahrzehnt erlebt hat.
Wir können allerdings festhalten, dass – auch wenn die jüngsten Migrationsbewegungen in Russland nicht sonderlich sichtbar sind – die Folgen der Migration wie auch die Auswirkungen der Mobilmachung auf die wirtschaftliche Entwicklung und den Arbeitsmarkt beträchtlich sind (siehe das Interview mit Wladimir Gimpelson in dieser Ausgabe der Russland-Analysen auf den Seiten 15–18).
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder