Einleitung
Die Zahl der russischen Emigrant:innen, die nach dem 24. Februar 2022 aus Russland geflohen sind, ist schwer zu schätzen, aber es wird berichtet, dass es sich um eine der größten Abwanderungswellen aus Russland (https://www.economist.com/the-economist-explains/2022/03/25/how-the-war-in-ukraine-is-accelerating-russias-brain-drain) seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion handelt. Die derzeitige Auswanderungswelle unterscheidet sich von der allgemeinen russischen Bevölkerung (siehe Grafik 1) und besteht zumeist aus Vertreter:innen der Mittelschicht, hochgebildeten Menschen mit weitläufigeren Netzwerken und liberaleren politischen Ansichten als der Durchschnitt der Russ:innen.
Unser Forschungsteam OutRush führt eigene Umfragen unter Personen durch, die Russland nach dem 24. Februar 2022 verlassen haben. OutRush ist bisher die einzige russische Panelbefragung unter Migrant:innen (www.outrush.io/eng). Im Rahmen des Projekts konnten wir zwei Erhebungswellen im März und September 2022 mit mehr als 3.000 Befragten und aus mehr als hundert Ländern abschließen, welche über soziale Netzwerke rekrutiert wurden. Sicherlich können wir nicht behaupten, dass unsere Stichprobe repräsentativ für alle russischen Migrant:innen ist, die Russland nach dem 24. Februar 2022 verlassen haben. Aufgrund des Mangels an Informationen über die Charakteristika der Gesamtheit der Migrant:innen ist es unmöglich, eine Wahrscheinlichkeitsstichprobe (probability sample) zu erstellen, daher ist eine Zufallsstichprobe (convenience sample) die einzige Option. In unserer Stichprobe ist wahrscheinlich die jüngere und internetaffine Bevölkerung überrepräsentiert. Wir rekrutieren Personen, die Russland nach dem 24. Februar 2022 verlassen haben, einschließlich derjenigen, die bereits nach Russland zurückgekehrt sind, und derjenigen, die Russland bald verlassen werden. Nur Teilnehmende, die mindestens 50 Prozent des Fragebogens ausgefüllt haben, werden in die endgültige Analyse einbezogen. Auffällige Fragebögen, wie z. B. Duplikate und zu schnell ausgefüllte Fragebögen, werden aussortiert. In diesem Forschungsbericht möchten wir die wichtigsten methodischen Herausforderungen bei der Datenerhebung und die daraus resultierenden Verzerrungen sowie mögliche Lösungen erörtern.
Das Meiste aus nicht repräsentativen Stichproben herausholen
Migrant:innengemeinschaften sind bekanntermaßen schwer zu befragen. Aufgrund des dynamischen Charakters der heutigen Migration und der mangelnden Vergleichbarkeit von Registrierungsverfahren und Migrationsgesetzgebungen sind genaue Informationen über Gruppen von Migrant:innen selten verfügbar. Die Anzahl der Migrant:innen ist in der Regel vergleichsweise zu klein, um in nationalen Erhebungen statistisch sichtbar zu sein. Dieses Problem kann überwunden werden, wenn aktuelle und qualitativ hochwertige Volkszählungsdaten zur Verfügung stehen, da sie eine zielorientiertere Auswahl möglicher Teilnehmenden erlauben. In Ermangelung solcher Informationen sind alternative Stichprobenverfahren wie das Schneeballverfahren oder das sog. Time-location-sampling nach wie vor teuer und ungeeignet für Panelbefragungen, die in mehreren Ländern gleichzeitig stattfinden. Glücklicherweise weist die neue russische Auswanderungswelle eine Reihe von Merkmalen auf, die es ermöglichen, einen vielfältigen Querschnitt von Respondent:innen zu relativ geringen Kosten zu befragen, trotz der Herausforderungen, welche bei herkömmlichen Umfragen gewöhnlicherweise nicht auftreten.
Wir rekrutieren unsere Befragten online über eine Vielzahl von Kanälen im Telegram-Messenger. Emigrant:innen, die jüngst Russland verlassen haben, nutzen vor allem Telegram: Der Messenger Telegram ist in letzter Zeit in Russland sehr populär geworden und soll im März 2022 sogar der meistgenutzte Messenger (https://www.vedomosti.ru/technology/articles/2022/03/20/914320-telegram-oboshel-whatsapp) des Landes gewesen sein. Telegram ist vor allem bei jungen und gebildeten Städter:innen beliebt (https://fom.ru/SMI-i-internet/14555), also bei jener Bevölkerungsgruppe, die die Mehrheit der neuen russischen Auswanderer:innen stellt. Es ist schwierig, sich Emigrant:innen vorzustellen, die nicht Telegram auf ihrem Smartphone installiert haben. Telegram wird genutzt, um aktuelle Informationen darüber zu erhalten, was beim Auswandern zu beachten ist, welche Reiserouten empfehlenswert sind (https://www.inastana.kz/news/3468918/spisok-telegram-catov-dla-relokantov-iz-rossii) und wie man sich an einem neuen Ort einlebt. Innerhalb Russlands wird Telegram vor allem genutzt, um Reiseeinschränkungen an den Grenzen zu verfolgen (https://devby.io/news/tg-kanal-pogranichnyi-kontrol-gde-rasskazyvaut-o-prohozhdenii-granitsy-stal-liderom-po-kolichestvu-novyh-podpischikov-1663857738). Die größten Auswanderungs-NGOs, Migrant:innenbewegungen und Umzugs-Gruppen nutzen Telegram als ihr Hauptmedium für die direkte Kommunikation und Koordination (dazu gehören die Gruppen Kovcheg, Feminist Antiwar Resistance und Relocation Guide). Emigrant:innen erstellen auf Telegram gemeinsame Chats für jede Aufnahmegesellschaft, um sich gegenseitig zu unterstützen, sowie separate Chats für jede Stadt und jeden Ort, in dem Russ:innen ankommen. Die allgemeinen Chats dienen dem Austausch von Informationen über rechtliche Fragen und den Integrationsprozess. In spezifischeren, lokalen Chats diskutieren die Emigrant:innen über ihren Alltag, tauschen Informationen über Kindertagesstätten und Schulen aus, suchen nach Arbeit, bieten Hilfeleistungen an, planen Freizeitaktivitäten und knüpfen neue Kontakte. So erklärt ein 25-jähriger Manager in Tiflis seine täglichen Praktiken bei der Nutzung von Telegram: »Ich wurde zum Chat hinzugefügt, 33 andere Leute waren dort bereits aktiv, und ich bin bei fast jedem neuen Treffen dabei, das wir dort haben… Ich lerne jedes Mal neue Leute kennen. Ich hatte noch nie so viele neue Bekanntschaften, denn ich bin ein ziemlich verschlossener Mensch.«
Die Rekrutierung per Telegram kann keine repräsentative Stichprobe gewährleisten, aber unsere Rekrutierungsstrategien ermöglichen uns dennoch eine angemessene Repräsentation innerhalb von Emigrant:innengruppen. Sobald im Jahr 2023 Statistiken über die Migrationsströme in den Aufnahmegesellschaften vorliegen, können die Umfragedaten überdies mit Hilfe von Poststratifizierungsverfahren weiterverarbeitet werden.
Bei der Rekrutierung von Migrant:innen, die aus autoritären Ländern fliehen, muss man sich mit dem Misstrauen der Befragten gegenüber Umfragen auseinandersetzen. In autoritären Regimen, besonders während eines Krieges, haben die Menschen Angst, ehrliche Antworten zu geben, oder sie zögern sogar, an Umfragen jeglicher Art teilzunehmen. Jüngste Emigrant:innen sind davon nicht ausgeschlossen. Unseren Daten zufolge fürchten 63 Prozent der Befragten mögliche Repressionen durch die russische Regierung, selbst wenn sie im Ausland sind (siehe Grafik 2). Daher ist die Zuverlässigkeit des Forschungsteams für Umfrageteilnehmer:innen, die vor einem repressiven Regime flüchten, besonders wichtig. Wir arbeiten mit einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen, Migrant:innengemeinschaften und Influencer:innen zusammen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es nicht nur, schnell ein breites Publikum zu erreichen, sondern zeigt auch die Vertrauenswürdigkeit der Forschenden, indem sie ihre Unabhängigkeit von der russischen Regierung signalisiert.
Aufrechterhalten der Panelbefragung
Panelbefragungen sind schwer aufrechtzuerhalten. Alle Panelbefragungen leiden meist unter Fluktuationsverlusten (attrition bias): in der zweiten Welle können oft viele derer, die in der ersten Welle befragt wurden, nicht mehr erreicht werden. Dies gilt insbesondere für Erhebungen über Auswanderer:innen, da die Befragten häufig umziehen und ihren bisherigen Status verlieren oder ändern können. Bei Panelbefragungen ist es sinnvoll, den Fragebogen sorgfältig und übersichtlich zu gestalten, freiwillige Antworten zu verwenden und den Befragten den Wert der Studie zu vermitteln. Dies signalisiert den Befragten Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme und trägt dazu bei, ihr Engagement in der Panelbefragung über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Es ist auch wichtig, den Datenschutz offen, detailliert und in einfachen Worten zu kommunizieren, um die Ängste der Befragten vor einem möglichen Datenleck und einer Deanonymisierung zu zerstreuen. In unserer Untersuchung wurde die sichere und ethische Datenspeicherung durch die Empfehlungen der Ethikkommission und des Datenschutzbeauftragten des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz gewährleistet.
Die Verbreitung der Ergebnisse jenseits von wissenschaftlichen Fachpublikationen ist eine Möglichkeit, das Engagement der Befragten sicherzustellen. So werden Umfrage-Ergebnisse schnell in einer Art und Weise verfügbar, die für die Befragten selbst verständlich und interessant sind. Für das Forschungsteam ist dies jedoch mit viel Arbeit verbunden, die Daten relativ schnell zu analysieren und öffentlichkeitswirksame Publikationen zu verfassen. Die Verteilung der Ergebnisse an die Befragten erfordert Aufwand und Ressourcen für die Einrichtung einer Infrastruktur zur Umgehung von Spam-Filtern, trägt aber dazu bei, die Kommunikation in den nachfolgenden Erhebungswellen der Umfrage aufrechtzuerhalten. Im Rahmen des OutRush-Projekts verteilen wir Forschungsberichte für jede Erhebungswelle über eine Medienplattform nach Wahl der Befragten (E-Mail, Telegram oder Whatsapp-Messenger).
Durch die Anwendung dieser Strategien ist es uns gelungen, eine relativ hohe Zufriedenheit der Befragten (im Schnitt 4,2 von 5 Punkten, siehe Grafik 3) und eine hohe Abschlussquote (80 Prozent) zu erreichen. Einige Befragte gaben als Feedback an, dass sie die Umfrage »therapeutisch« und »hilfreich« fanden. 53 Prozent der Befragten gaben an, dass sie den Link zur Umfrage sicherlich in ihren Netzwerken weiterverbreiten würden. Die anfängliche Bindungsrate für unsere Panelbefragung liegt bei 60–70 Prozent, was beispielsweise mit den Durchschnittswerten des deutschen Internet-Panels vergleichbar ist, das mit wesentlich mehr Ressourcen durchgeführt wird. In der ersten Welle unserer Umfrage haben von den 1.680 neuen russischen Emigrant:innen, die die Umfrage abgeschlossen haben, 1.032 ihre Kontaktdaten hinterlassen. Von denjenigen, die uns ihre Kontaktdaten mitgeteilt haben, nahmen 70 Prozent an der zweiten Welle teil und 60 Prozent füllten die Umfrage vollständig aus. Wir testen unsere Panel-Stichprobe, um sicherzustellen, dass es keine Stichprobenverzerrungen gibt. Eine Verzerrung der Stichprobe bei mehrfach Befragten kann dadurch entstehen, dass nicht alle Befragten, die ihre Kontaktdaten hinterlassen haben, in der zweiten Welle geantwortet haben. Wir stellen sicher, dass der Unterschied in wichtigen sozialen Merkmalen zwischen diesen beiden Gruppen (denjenigen, die in der zweiten Welle geantwortet haben, und denjenigen, die nicht geantwortet haben) statistisch nicht signifikant ist. Die Ergebnisse des Tests auf Stichprobenverzerrung zeigen, dass es keine statistisch signifikanten Unterschiede bei Variablen wie Geschlecht, Alter, Einkommen, Plänen zur Rückkehr nach Russland und Unsicherheit über Zukunftspläne gibt. Mit anderen Worten: Die Befragten und die Nicht-Befragten unterscheiden sich in diesen Variablen statistisch nicht voneinander.
Schlussfolgerungen
Die derzeitige Auswanderungswelle aus Russland besteht aus politisierten, mobilen, sehr gebildeten Menschen, die ihre Heimat unter außergewöhnlichen Krisenbedingungen verlassen haben. Dies bringt sowohl Schwierigkeiten für die Forschung mit sich, da die Bevölkerung mobil und vorsichtig ist, als auch Chancen aufgrund der Homogenität der Gruppe in Bezug auf die Nutzung von Telegram-Kanälen und ihr Engagement. Im Vergleich zu ähnlichen Projekten ist das OutRush-Projekt die einzige Panelbefragung unter den neuesten russischen Emigrant:innen. OutRush verfolgt diese dynamische Entwicklung in mehr als hundert Ländern. Die Praktiken der ethischen, teilnehmerfreundlichen und transparenten Forschung haben ihre Wirksamkeit bei der Bindung von Respondent:innen an die Panelbefragung und der Anwerbung neuer Teilnehmer:innen bewiesen. Die Unzulänglichkeiten der Daten aus der Erhebung über russische Migrant:innen sind nicht spezifisch für den russischen Kontext und sind in der Migrationsforschung gut bekannt. Nicht ganz perfekte Daten sind immer besser als unbegründete Spekulationen, auch wenn es von größter Wichtigkeit ist, die Grenzen und Herausforderungen der jeweiligen Forschungsdaten transparent darzustellen.