Seit Wladimir Putin den Beginn einer »militärischen Spezialoperation« angekündigt hat, ist die Kritik an Meinungsumfragen in Russland wieder lauter geworden. In der Regel führen die Kritiker:innen die folgenden Gründe an, warum man russischen Umfragen nicht trauen sollte: Einige argumentieren, dass die Rücklaufquote im Jahr 2022 stark gesunken ist und Russ:innen sich häufiger weigern, an Umfragen teilzunehmen. Andere sagen, dass die Befragten die Interviews oft abbrechen, sobald das Thema Ukraine angesprochen wird. Auch ist zu hören, dass nur noch Anhänger:innen des Regimes an den Umfragen teilnehmen und oppositionell gesinnte Bürger:innen es vorziehen, ihre Meinung für sich zu behalten. Eine weitere Kritik führt Listenexperimente an, die scheinbar niedrigere Zustimmungsraten zeigen, und behaupten, dies sei eine Methode, um die »wahren Einstellungen« in der Bevölkerung herauszufinden. Und schließlich führen die radikalsten Kritiker:innen ins Feld, dass Umfragen überhaupt nicht geeignet seien, weil sie keinen Aufschluss darüber geben, was die Menschen »wirklich denken«. Schauen wir uns diese Kritikpunkte der Reihe nach an.
Im Lewada-Zentrum verwenden wir die Empfehlungen der American Association for Public Opinion Research, AAPOR, (https://www-archive.aapor.org/Education-Resources/For-Researchers/Poll-Survey-FAQ/Response-Rates-An-Overview.aspx), um die Rücklaufquote für unsere Umfragen zu berechnen. Im Jahr 2022 lag die durchschnittliche Rücklaufquote bei unserer regelmäßigen gesamtrussischen Umfrage, bei der Respondent:innen persönlich befragt werden, bei 27 Prozent. Das ist etwas weniger als im Jahr 2021 (damals waren es durchschnittlich 31 Prozent), aber höher als die Durchschnittswerte der Vorjahre (25 Prozent im Jahr 2020, 20 Prozent im Jahr 2019). Eine eingehende Erläuterung, welche Rücklaufquote als ausreichend angesehen wird, würde hier zu weit führen. Es sei deswegen nur angemerkt, dass in den Vereinigten Staaten beispielsweise 9 Prozent bei telefonischen Umfragen als hinnehmbares Niveau der Reichweite betrachtet wird (https://www.pewresearch.org/methods/2017/05/15/what-low-response-rates-mean-for-telephone-surveys/). Wichtig ist, dass sich der Grad der Erreichbarkeit von Befragten im vergangenen Jahr nicht wesentlich geändert hat. Ebenso hat sich die Haltung zu Umfragen im Allgemeinen nicht geändert (https://www.levada.ru/2022/05/24/uchastie-v-oprosah-i-doverie-dannym/). Wenn sich hier fundamentale Veränderungen ergeben hätten, dann wären Umfragen mit unserer gewöhnlichen Methodik nicht mehr möglich: Die Interviewer:innen würden eine Aufgabe, die offensichtlich nicht zu realisieren ist, nicht mehr übernehmen. Oder die Kosten, um deren Arbeit zu bezahlen, würden für uns ins Unermessliche schießen. Aber wie schon erläutert, ist dem bisher nicht der Fall.
Wir haben uns Ende 2022 näher angeschaut, ob abgebrochene Interviews tatsächlich für uns zu einem Problem geworden sind (https://www.levada.ru/2022/11/15/o-nedostizhimosti-i-prervannyh-intervyu/). Unsere Analyse ergab, dass dieser Indikator stabil bleibt und er sich über die Zeit praktisch nicht verändert. Nur zwei bis sieben Interviews pro Umfrage wurden im Jahr 2022 in Bezug auf Fragen, die die Ukraine und die »militärische Spezialoperation« betrafen, abgebrochen. Für die Umfrage insgesamt ist das eine insignifikante Anzahl. Außerdem unterscheiden sich Fragen hinsichtlich der Ukraine nicht von Fragen zu anderen Themen. In den meisten Fällen schließen die Befragten, wenn sie sich schon bereiterklärt haben, an der Umfrage teilzunehmen, diese auch vollständig ab, insbesondere wenn es sich um eine persönliche Befragung (ein sog. Face-to-face-Interview) handelt. Daher erscheint die Kritik, die Qualität der Umfragedaten mit Verweis auf abgebrochene Interviews in Frage zu stellen, völlig unbegründet.
Auch die Behauptung, dass sich nur Unterstützer:innen des Regimes an den Umfragen beteiligen, hat sich bisher nicht bestätigt. So konnten wir nach den Ergebnissen einer Panelbefragung (https://www.levada.ru/2022/06/14/gotovnost-uchastvovat-v-oprosah-rezultaty-eksperimenta/) von Respondent:innen, die bereits an den Umfragen des Lewada-Zentrums teilgenommen hatten, die Annahme nicht bestätigen, dass Personen, die wiederholt an telefonischen Umfragen teilnehmen, die Ereignisse positiver bewerten. Ebenso wenig zeigen die Daten, dass Befragte, die die Tätigkeit der Staatsführung Russlands nicht befürworten, häufiger die Teilnahme an der Umfrage verweigern. Damit ist auch die Behauptung hinfällig, dass Meinungsumfragen nur für diejenigen Russ:innen aussagekräftig sind, die überhaupt bereit sind, mit Umfrageinstituten wie unserem zu sprechen und unsere Fragebögen zu beantworten. Somit sollten die zunehmende Unterstützung für den russischen Staat und dessen Entscheidungen im Jahr 2022 durch tatsächliche Veränderungen in der öffentlichen Meinung erklärt und nicht auf die Unzulänglichkeiten der Umfragemethoden zurückgeführt werden.
Was die sogenannten Listenexperimente (https://blogs.lse.ac.uk/europpblog/2022/04/06/do-russians-tell-the-truth-when-they-say-they-support-the-war-in-ukraine-evidence-from-a-list-experiment/) betrifft, die auf eine geringere Unterstützung des russischen Staats und der »militärischen Spezialoperation« hinzudeuten scheinen, so sind ihre Ergebnisse nicht immer eindeutig zu interpretieren. Wissenschaftler:innen, die ähnliche Experimente zur Unterstützung für Wladimir Putin in der russischen Bevölkerung im Zeitraum 2015-2021 durchgeführt haben, warnen vor einer solchen Interpretation der Ergebnisse ihrer Experimente (https://www.ponarseurasia.org/is-putins-popularity-still-real-a-cautionary-note-on-using-list-experiments-to-measure-popularity-in-authoritarian-regimes/). Die Ergebnisse, die mit diesen Experimenten errechnet wurden, stimmen mit jenen Indikatoren überein, die für eine bedingungslose Unterstützung militärischer Maßnahmen und der Staatsmacht Russlands sprechen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diejenigen, die zweifeln und eine schwache oder bedingte Unterstützung an den Tag legen, die »militärische Spezialoperation« nicht wirklich unterstützen. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die die Zweifler:innen ermutigen, sich der Meinung der Mehrheit anzuschließen (https://ridl.io/can-you-trust-russia-s-public-support-for-a-military-operation-in-ukraine/). Es wäre eine grobe Vereinfachung, der vermeintlichen Angst davor, an Meinungsumfragen teilzunehmen und Interviewer:innen Rede und Antwort zu stehen, eine zu große Bedeutung beizumessen.
Schließlich ist die These weit verbreitet, dass die Befragten unter den repressiven Bedingungen in Russland niemals offenlegen werden, was sie »tatsächlich denken«. Selbstverständlich führen wir unsere Umfragen ohne Lügendetektor durch, und wir halten lediglich das fest, was die Befragten bereit sind, den Interviewer:innen mitzuteilen. Wir Meinungsforscher:innen erhalten somit keine Informationen über die innerste Gedankenwelt der Russ:innen, sondern lediglich über ihre Haltungen, die sie bereit sind, öffentlich preiszugeben. Dies stellt jedoch eine hinreichende Grundlage dar, um ihr öffentliches Verhalten zu verstehen und zu erklären. Es lässt sich wohl kaum bestreiten, dass der Druck des russischen Staates auf den Einzelnen in letzter Zeit zugenommen hat. Das Hauptziel dieses Drucks besteht offensichtlich darin, das Verhalten der Menschen zu ändern und ihnen den Wunsch zu nehmen, den Staat zu kritisieren oder sich an Protesten zu beteiligen. Und das klappt derzeit gut. Aber das ist eben genau das, was wir aus den Umfrageergebnisse ablesen können.
Außerdem sind Veränderungen in der öffentlichen Meinung in der Regel systemischer Natur: Änderungen bei der Unterstützung des Staates gehen mit Änderungen bei Fragen zur Stimmung, zu Hoffnungen und zum wirtschaftlichen Verhalten einher. Es ist unwahrscheinlich, dass Veränderungen in den Antworten auf die letztgenannten Fragen durch Angst vor der Teilnahme an Umfragen erklärt werden können. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Anteil derjenigen, die an Umfragen teilnehmen, mehr oder weniger konstant bleibt. Der Anstieg der Unterstützung des Präsidenten und der Regierung im Februar und März 2022 und die hohe Unterstützung für die »militärische Spezialoperation« gingen also mit einem Anstieg des allgemeinen Optimismus, der Begeisterung und des Hurrapatriotismus einher.
Darüber hinaus zeigen unsere Analysen der langfristigen Trends in der öffentlichen Meinung bereits Ende 2021, Anfang 2022, dass sich im Falle militärischer Maßnahmen und eines Konflikts mit dem Westen die Mehrheit der russischen Gesellschaft auf die Seite des Präsidenten und der Regierung schlagen würde. Die Grundzüge der Haltung der russischen Gesellschaft zu diesem Konflikt hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits herauskristallisiert (https://ridl.io/we-are-being-dragged-into-a-war/): Drei Viertel der Russ:innen waren sich bereits sicher, dass die USA und die Ukraine an der Eskalation schuld sind, nur ein Drittel der Befragten zeigte Sympathie für die Ukraine. Wladimir Putins Zustimmungsrate lag Mitte Februar bereits bei 71 Prozent (im März stieg sie auf 83 Prozent). Die Hauptunterschiede zwischen den größten Städten und dem Rest des Landes, zwischen Jung und Alt, zwischen Fernsehzuschauer:innen und Internetnutzer:innen, sind damals bereits sichtbar geworden. Umfragen zeigten, dass die russische Gesellschaft zwar Angst vor dem Konflikt hatte, aber innerlich dafür bereit war.
Außerdem gab es bereits im Frühjahr erste Anzeichen dafür, dass sich die Russ:innen mit der Lage arrangiert hatten (https://ridl.io/can-you-trust-russia-s-public-support-for-a-military-operation-in-ukraine/). Dies zeigte sich zunächst in Fokusgruppendiskussionen und dann in Umfragen (qualitative und quantitative Erhebungsmethoden müssen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern sollten miteinander kombiniert werden). Es war uns möglich, die Reaktion der Gesellschaft auf die Mobilmachung unmittelbar nach ihrer Ankündigung im September 2022 auf der Grundlage früherer Umfragen genau zu beschreiben (https://www.forbes.ru/mneniya/477797-ispytanie-dla-vlasti-naskol-ko-nepopularnym-budet-resenie-o-mobilizacii). Ende September konnte man bereits konstatieren, dass sich die russische Gesellschaft mit der ersten Welle der Mobilmachung abgefunden hatte (https://www.agents.media/uzhas/). Dies wurde jedoch erst am Ende des Jahres deutlich, als die Stimmung weitgehend wieder auf das Niveau zurückkehrte, das unsere Indikatoren schon vor der Mobilmachung gemessen hatten (https://www.forbes.ru/mneniya/483091-resursy-spokojstvia-pocemu-dla-rossian-2022-j-ne-stal-samym-strasnym-godom).
Insgesamt lässt sich aus meinen Überlegungen schlussfolgern, dass die Zweifel an der Qualität von Umfragen in Russland meist unbegründet sind. Die Analyse der Lage und die Prognosen, die auf regelmäßigen soziologischen Untersuchungen beruhen, haben ihre Wirksamkeit bewiesen. Und solche Analysen erweisen sich als viel genauer als einige der am häufigsten zitierten journalistischen Spekulationen, die sich sehr oft überhaupt nicht bewahrheiten (https://www.proekt.media/guide/kremlin-telegram-meduza/). Natürlich muss man bei der Verwendung von Umfragedaten vorsichtig sein: Umfrageprojekte von politischen Aktivist:innen und bisher völlig unbekannten Namen in der Umfrageforschung stiften eher Verwirrung als dass sie uns helfen, die Lage in Russland besser zu verstehen. Aber man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir uns einer der wenigen Methoden zum Verständnis der russischen Gesellschaft, die sich über die Zeit bewährt haben, berauben würden, wenn wir Meinungsumfragen kategorisch ablehnen würden.