Die politische Elite im Jahr 2022

Zur Bedeutung des Rankings

Das Ranking, das die »Nesawisimaja gaseta« monatlich publiziert und dann einmal im Jahr zusammenfasst, misst nicht reale Macht. Es gibt Einschätzungen der befragten Politiker und Experten wieder. Dokumentiert werden also Perzeptionen politischer »Wichtigkeit«; die Führungselite wird über einen Reputationsansatz identifiziert, nicht aufgrund der Position oder des – ohnehin nur sehr schwer messbaren – Einflusses auf Entscheidungsprozesse.

Die Rankings, die erstmal 1993 publiziert wurden, geben also die Wahrnehmungen der politischen Klasse wieder und erlauben – mit der gebührenden Vorsicht – Rückschlüsse auf die Entwicklung des politischen Systems. Gruppiert man die Politiker nach ihren Funktionen, dann wird deutlich, dass sich die Gewichte innerhalb der Führungsebene durchaus verschieben können – am deutlichsten zwischen 1993 und 1999 –, dass sich aber seit dem Amtsantritt Putins als Präsident im Jahr 2000 eine stabile Mehrheit von Vertretern der Exekutive (Präsidialadministration, Regierung, Wirtschaftspolitiker, Machtapparate) herausgebildet hat. Die zweitwichtigste Gruppe sind die Wirtschaftsakteure, die staatliche oder private Großunternehmen und Banken leiten. Es ist diese Partnerschaft von Exekutive und Kapital, die die politische Realität Russlands seit 22 Jahren bestimmt.

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Während sich das Verhältnis zwischen den Elitengruppen seit 2000 nur unwesentlich verschiebt (Ausnahme ist allein das Krisenjahr 2009) und sich eine Konsolidierung der oberen 20 Ränge, wie in den Jahren zuvor, vollzieht, gibt es bei einzelnen Elitenvertretern durchaus Wechsel, die sich 2022 gestaltet haben.

Bedeutungsverluste mussten der Verteidigungsminister Sergej Schojgu (Platz 8–9 von zuvor Platz 4 abgestiegen), der Generalstaatsanwalt der Russländischen Föderation Igor Krasnow (Platz 41 von Platz 35) und der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Dmitrij Kosak (Platz 33 von Platz 28) hinnehmen.

Bei den Abstiegen im Ranking ist die Gruppe der finanzstarken Wirtschaftsakteure auffällig. An Einfluss verloren haben die Milliardäre Gennadij Timtschenko (Platz 29 von zuvor 24), Alischer Usmanow (Platz 47 von 36), Arkadij Rotenberg (Platz 48 von 39–42) und der Vorstandsvorsitzender der staatlichen Außenhandelsbank VTB, Andrej Kostin (Platz 37 von 30). Eine Ausnahme bildet dabei der Milliardär Oleg Deripaska. Ihm gelang es 15 Plätze von Platz 50 im Jahr 2021 auf Platz 35 im Jahr 2022 zu steigen. Der einzige andere Vertreter der Wirtschaftselite, der seinen Platz im Ranking 2022 leicht verbessern konnte, war Roman Abramowitsch; alle übrigen Vertreter der Wirtschaftselite im Ranking bis Platz 50 haben an Einfluss verloren. Sowohl Deripaska als auch Abramowitsch haben 2022 im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine von sich Reden gemacht.

Erheblich an Einfluss gewonnen haben neben dem Chef des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation, Walerij Gerasimow (von Platz 51 auf Platz 38), Vertreter der Regierung und des Präsidialapparats wie die stellvertretenden Ministerpräsidenten Marat Chusnullin (von Platz 38 auf Platz 32) und Denis Manturow (von Platz 57 auf Platz 45), der stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates der Föderalversammlung Andrej Turtschak (von Platz 31 auf Platz 19), der Leiter der Abteilung für Innenpolitik in der Präsidialadministration Andrej Jarin (von Platz 39–42 auf Platz 34) sowie der Berater des Präsidenten Maksim Oreschkin (von Platz 62 auf Platz 43). Der Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, Kirill, ist ebenfalls um einige Plätze im Rating auf Platz 28 gestiegen.

Wieder in die Top 50 zurückgekehrt sind der Chef des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation, Walerij Gerasimow (Platz 38), ebenso wie die bereits oben genannten Maksim Oreschkin und Denis Manturow. Neueinsteiger gab es 2022 in der oberen Hälfte des Rankings nicht.

Hauptvertreter der parlamentarischen Opposition spielen kaum eine Rolle und tauchten in den letzten Jahren nicht unter den 50 einflussreichsten politischen Akteuren in Russland auf. 2022 schaffte es Gennadij Sjuganow (Platz 49), der Vorsitzende des Zentralkomitees der KPRF, erstmals seit 2017 wieder unter die Top 50. Der Begründer und langjährige Leiter der LDPR, Wladimir Schirinowskij, verstarb 2022. Politische Eliten der außerparlamentarischen Opposition und von Protestbewegungen wurden im Ranking zur Wahl gestellt, schafften es jedoch nicht, in das Ranking aufgenommen zu werden.

Aus dem Ranking der Top 50 ausgeschieden sind Aleksej Kudrin, der ehemalige Leiter des Rechnungshofes (von Platz 39–42 auf Platz 53), Jurij Tschichantschin, Leiter der Föderalen Finanzaufsichtsbehörde (von Platz 46 auf Platz 56–57), und Igor Lewitin, Berater des Präsidenten und Sekretär des Staatsrates (von Platz 48 auf Platz 58); wieder ausgeschieden sind Dmitrij Rogosin, der außer Dienst gestellte ehemalige Chef von »Roskosmos« (von Platz 49 auf Platz 60), und der Milliardär Wagit Alekperow (von Platz 45 auf Platz 64–65).

Zur Methodik

Ermittelt wird das Ranking durch die Befragung von Politikern bzw. Politikexperten (monatlich schwankend zwischen 24 und 27), die eine Liste ausgewählter Akteure auf einer 10-Punkte-Skala bewerten. Sie können auch ihrerseits Personen benennen, die dann der Liste hinzugefügt werden. Drei Punkte sind für die Einordnung wichtig: Erstens werden in dem Zeitungsranking für gewöhnlich Personen als wichtig eingestuft, die oft im Scheinwerferlicht stehen, etwa Pressesprecher Dmitrij Peskow (Platz 17) und Außenminister Sergej Lawrow (Platz 6), oder eben wie Patriarch Kirill oder der Präsident der Teilrepublik Tschetschenien Ramsam Kadyrow, der 2022 besonders medial präsent war und ganze 10 Plätze auf Platz 56 im Ranking aufgestiegen ist. Zweitens ist eine Befragung von Politikern und Experten Grundlage der Rangliste. Bei der Interpretation des Rankings muss man sich der speziellen Perspektive der Juroren bewusst sein. Zu den Experten zählt zum Beispiel auch Sergej Briljow vom Staatssender Rossija, der verantwortliche Redakteur Dmitrij Orlow ist Funktionär bei der Partei »Einiges Russland«. Drittens ergibt sich das Jahresranking aus dem Mittelwert der einzelnen Monate. Allerdings werden nur Personen berücksichtigt, die mindestens sechs Monate in den Top 100 vertreten waren. Manche Verschiebungen, wie eine Kabinettsumbildung oder allgemeine Postenwechsel, bildet die Rangliste daher nicht vollständig ab.

Die Auswahl der Eliteakteure beschränkt sich nicht auf Inhaber von Regierungsämtern, Abgeordnete und Parteipolitiker, sie bezieht auch Regionalvertreter, Juristen, Medienvertreter, Kirchenleute und Wirtschaftsakteure mit ein. Das Ranking ist also tatsächlich der Versuch, eine Liste der mächtigsten Russen zu erstellen. Aus den Punktewertungen werden Durchschnittswerte ermittelt. Die Punktzahl entscheidet schließlich über den Platz im Ranking. Am Ende des Jahres werden aus den Monatsrankings Durchschnittswerte ermittelt, aus denen sich dann das Jahresranking der »100 führenden Politiker« ergibt. Hier abgebildet sind Vertreter politischer Eliten der Plätze 1 bis 20 mit sehr hohem Einfluss und der Plätze 21 bis 50 mit hohem Einfluss.

Die Redaktion der Russland-Analysen

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