Die Eliten und die Natur von Politik
Der fürchterliche und tragische Verlauf des vergangenen Jahres 2022 wirft die Frage auf, inwieweit die russischen Eliten verantwortlich sind. Gleichzeitig wird die elitentheoretische Konzeption an sich in Frage gestellt. Wo liegt in der Vergangenheit der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, an dem noch weite Kreise der Eliten ihren Einfluss auf Entscheidungen des russischen Staates hätten wahren konnten? Können wir diesen Zeitpunkt näher eingrenzen? War es der Schritt von 2020, die Zahl der Amtszeiten Putins auf null zu setzen, der durch ein ideologisiertes Paket von Verfassungsänderungen vom Parlament abgesegnet wurde? War es die Serie bunter Revolutionen, die u. a. 2014 Janukowytsch den Präsidentenposten in der Ukraine kosteten? Der flüchtige Krieg zwischen Georgien und Russland wegen der kleinen Republik Südossetien? Die revisionistische Rede Putins 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz? Der bewaffnete Export eines demokratischen Staatsaufbaus durch Präsident Bush Junior? Die Verhaftung Michail Chodorkowskijs? Die Entscheidung von Jelzins »Familie«, Putin zum Nachfolger zu ernennen? Der Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien? Der Beschuss des unbequemen Parlaments durch Anhänger Jelzins und der Macht des Präsidenten 1993? Stellt unser Elitentheorie eine gute Grundlage dar, um die gesellschaftlichen und politischen Realitäten in nichtwestlichen politischen Systemen im Allgemeinen und im Putinschen Regime im Besonderen qualitativ zu beschreiben?
Ein elitentheoretischer Blick auf die Struktur von Politik und Gesellschaft ist seinem Ursprung nach ein dezidiert antimarxistischer Ansatz. Die Elitentheorie verwirft die Idee eines mechanisierten Wechsels der herrschenden Klassen. Ganz wie die Vorfahren des Homo Sapiens evolutionstechnisch Gegenstände besser greifen und werfen konnten als andere Hominidae, können auch Eliten besser als andere sich einrichten, um im sozialen Gefüge weiterhin eine dominierende Stellung einzunehmen.
Die Elite ist permanent bestrebt, sich in hierarchischen Strukturen mit einem willkürlichen Grad an vertikaler Gliederung und Zentralisierung zu organisieren und ihre Interessen kollektiv zu vertreten. Die Mittel, mit denen Eliten und die von ihnen geschaffenen Organisationen auf die Politik Einfluss nehmen, können höchst unterschiedlich sein. In der konkreten gesellschaftlichen Realität stehen wir stets vor einer schwer zu trennenden Mischung: Einerseits wären da die Grundlagen für eine Legitimierung der Macht der Eliten, andererseits das Potenzial an Militär und Sicherheitskräften, auf das sie zurückgreifen können. Falls ein Element des Arsenals zum Machterhalt nicht mehr zugunsten der Elite funktioniert, kann die Elite immer Ersatz finden. Sogar zunehmende egalitaristische Forderungen können von der Elite zu ihren Gunsten eingesetzt werden. So verbreitet Putin geschickt ein antikoloniales Narrativ als Begründung für sein Vorgehen. Adressaten sind die hierfür empfänglichen Ländern des globalen Südens.
Ein geschlossener Monolith?
Die Eliten waren bei den romantischen Urvätern dieser Konzeption nicht einfach nur eine geschlossene Klasse, die über die Fähigkeit verfügt, sich über ihre langfristigen Interessen im Klaren zu sein. Sie waren aber auch keine unauslöschbare Klasse. Im Rahmen der modernen neoklassischen Theorie steht der Charakter eines konkreten politischen Regimes in enger Verbindung mit der Struktur der Eliten. Zu den wichtigsten Strukturmerkmalen gehören: der Integrationsgrad der Eliten und die Differenzierung der Eliten.
Das erste Merkmal – die Integration – wird als die Fähigkeit der verschiedenen Segmente der Elite beschrieben, gemeinsam vorzugehen. Es beschreibt auch, in welchem Maße die Eliten den bestehenden politischen Institutionen anhängen. Bei den westlichen Nationalstaaten sorgt die Integration auch für eine grundlegende Einwilligung der Eliten in die Spielregeln, denen zufolge ein direkter Einsatz von Gewalt oder Zwang aus dem Arsenal für den politischen Wettbewerb ausgeschlossen wird. In den Systemen des Westens gehört die Tatsache, dass sich Angehörige der Eliten fairen und transparenten Wahlen stellen und diese akzeptieren, zu den wichtigsten Tugenden eines*r Politiker*in. Vielleicht ist das der Grund, warum die versuchte Stürmung des Kapitols im Januar 2021 in Washington die amerikanische Gesellschaft derart schockierte: Jedermann konnte mit eigenen Augen sehen, welche Auswirkungen eine Desintegration der Eliten haben kann. Die Wirklichkeit in Russland zeigt, dass der Einfluss von Gruppen zunimmt, die auf unmittelbare Gewalt setzen. Der gestiegene politische Einfluss Jewgenij Prigoschins, des Chefs der privaten Militärfirma »Wagner«, verdient hier besondere Beachtung.
Das zweite Merkmal – die Differenzierung – macht deutlich, wie die funktionale und organisatorische Vielfalt der verschiedenen Segmente einer Elite strukturiert ist, und wie deren relative Autonomie in Bezug auf den Staat sowie untereinander beschaffen ist. Für eine qualitative Beschreibung ist es oft ausreichend, eine Dichotomie anzulegen: Besteht eine breite oder eine enge Differenzierung?
Die ersten Staatsgebilde hatten eher privaten Wachschutzunternehmen geglichen, bei denen die Funktionen einer geschlossenen Elite ausschließlich auf der Ebene des Kriegshandwerks angesiedelt waren. Es ist offensichtlich, dass die hinsichtlich der Elitengruppen am stärksten differenzierten Gebilde bei den wirtschaftlich erfolgreichen liberalen Nationalstaaten zu finden sind, unabhängig von der formalen Anzahl der um politische Macht wetteifernden politischen Parteien.
Die derzeitige Elite in Russland ist gemäß dieser Doktrin als stark integriert und eng differenziert zu bezeichnen. Innerhalb der Elite in Russland Gruppen zu identifizieren, ist eine diffizile Kunst. Die Konzeptionen, die der Öffentlichkeit angeboten werden, sind widersprüchlich oder geradezu irreführend, wie zum Beispiel die im Massenbewusstsein verankerte Gegenüberstellung von Silowiki und Systemliberalen. Viele Autoren versuchen hinter dem Vorgehen der Elite eine feste Ideologie auszumachen, andere sind überzeugt, dass dort nichts als Opportunismus und pragmatisch-einträgliche Anpassung herrscht. Der Kern einer möglicherweise bestehenden Ideologie lässt sich am besten anhand der Werke der russischen Schriftsteller Wiktor Pelewin und Wladimir Sorokin erkennen, wobei letzterer schon längere Zeit in Deutschland lebt.
Meiner Ansicht nach haben wir es mit einem quasimonolithischen Gebilde zu tun, das auf die höchst archaische Konzeption der religiös orthodoxen Sobornost (dt. in etwa »Vereintheit«) zurückgeht. Diese nimmt einen mystischen Körper an, zu dem Volk und der Zar als Träger der unmittelbar von Gott empfangenen Souveränität vereint sind. Gemäß dieser Tradition sind allgemeine Versammlungen nicht für eine rationale Erörterung von Entscheidungen nötig, sondern dazu, angesichts äußerer Umstände Einhelligkeit zu demonstrieren. Als die Videoaufzeichnung der Sitzung des russischen Sicherheitsrates kurz vor dem 24. Februar 2022 das Geheimnis der politische Entscheidungsfindung in Putins Russland etwas lüftete, sah jeder Beobachter allerdings das, was er sehen wollte. Der eine sah verwirrte Repräsentanten der Elite, die sich dem Staatschef beugten. Andere interpretierten die Elite als eine gänzlich in ihren Interessen geeinte Gruppe von Bürokraten, die die sowjetischen Praktiken des Festhaltens an ihrer dominierenden Stellung gut beherrschte. Wir können mit Bestimmtheit festhalten, dass sich schon seit 10 Jahren die Differenzierung der russischen Eliten unentwegt verringert. Die Lage entspricht immer stärker der Parole, die nach Verkündung der Ergebnisse der Dumawahl 2011 bei den Massenprotesten auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz formuliert wurde: »Ihr repräsentiert uns nicht und habt nicht einmal eine Vorstellung von uns« [Im Russischen ist dies in einem kurzen Satz mit einem doppeldeutigen Verb formuliert: »вы нас даже не представляете«; Anm. d. Übers.]. Die gesellschaftlichen Gruppen sind im Regime nur äußerst spärlich repräsentiert. Die Eliten schrumpfen wie das Balzac’sche Chagrinleder. Zur Illustration ein markantes Beispiel: Als seine Machtlosigkeit, auf die Lage Einfluss nehmen zu können, offenbar wurde, verließ die langjährige Ikone der Systemliberalen Anatolij Tschubajs, der Wladimir Putin als einer der ersten in die föderalen Machtstrukturen eingeführt hatte, nicht nur die Hierarchie des Machtzentrums, sondern auch das Land in eine schweigende Emigration, wobei er bemüht war, diesen Schritt nicht als öffentliches Statement gegen den Krieg herauszustellen.
Eine derartige Beschreibung der Elitenstruktur im klassischen Verständnis kam zur Beschreibung totalitärer Regime zum Einsatz, also ideologisch abgeschlossener Einparteienregime, wie sie etwa in der UdSSR bestanden hatten. Und das ist natürlich kein Zufall. Für eine noch umfassendere Charakterisierung der postsowjetischen Elite ist ein kurzer Vergleich mit der Sowjetzeit erforderlich.
Historische Wurzeln der Eliten Russlands
Die historischen Wurzeln der derzeitigen Eliten Russlands liegen meiner Ansicht nach in der Nomenklatura sowjetischer Spielart. Alle postsowjetischen Gesellschaften sind einer Gesellschaft entwachsen, in der die Partei das Monopol innehatte und buchstäblich das Rückgrat des Staates bildete, was rechtlich durch den berüchtigten Artikel sechs der sowjetischen Verfassung postuliert wurde. Die bestehende Ordnung wurde mit Gewalt aufrechterhalten. Dafür waren im Auftrag der Partei die Miliz und der Geheimdienst KGB zuständig.
Zu den bolschewistischen Führungskräften gehörten in der Anfangsphase Mitglieder revolutionärer Zirkel, die heute von Forschern wie etwa Jurij Sljoskin [engl.: Yuri Slezkine] als eine Art religiöse Sekte beschrieben werden. Bei der Schaffung eines eigenen Staates »durch ein Netz wahrhaft Gleichgesinnter« vergrößerte sich die Nomenklatur der Parteiposten erheblich. Jene, die diese Positionen übernahmen, bildeten eine pragmatischere partei-bürokratische Schicht von Verwalter*innen. Das war praktisch ein Staat der Parteimitglieder, in dem alle Ernennungen für strategisch wichtige Posten durch interne Verabredung erfolgten, und öfter noch im Geheimen. Das Land der »Volksdemokratie« war also seiner Natur nach eine superelitäre Gesellschaft, in der die Nomenklatura alle Verwaltungsfragen entschied, ohne dass man auf unpersönliche Gesetze, auf die Tradition oder die Meinung des Volkes Rücksicht nahm.
Die bequeme Vorstellung von einer monolithischen Struktur der Nomenklatur wurde dadurch gestützt, dass die Widersprüche innerhalb der Nomenklatur der Öffentlichkeit vollkommen verborgen blieben. Der politische Kampf zwischen den Fraktionen der Nomenklatura, der bis in die späte Perestroika stattfand – diese war von Generalsekretär Gorbatschow zur offiziellen Politik der UdSSR erhoben worden –, wurde in höchstem Maße fernab der Öffentlichkeit streng innerhalb der Strukturen geführt, die von der Nomenklatura geschaffen oder von dieser unterstützt wurden.
Daher bin ich der Ansicht, dass die UdSSR entgegen dem klassischen Verständnis totalitärer Systeme ihrem Zerfall in unabhängige Staaten mit bereits zum Teil fragmentierten Eliten entgegen ging. Darüber hinaus war die politische Elite stark delegitimiert und bestand natürlich fast vollständig aus Angehörigen der Nomenklatura.
Der Übergang in die postsowjetische Zeit kann aufgrund der Natur der sozialen Triebkräfte als Elitenrevolution bezeichnet werden, da die Veränderungen von der unteren und mittleren Ebene der Nomenklatura aktiv unterstützt wurden, weil sie keine reale Möglichkeit für eine steile Karriere sahen. Zu ihnen gesellten sich die neuen Schichten der Genossenschaftler und Geschäftsleute. Letztere verfügten bereits über die Ressourcen und Verbindungen, um sich entweder mit den in kleinere Gruppierungen zerfallenen Strukturen des sowjetischen Sicherheitsapparats zusammenzuschließen, oder um eigene Wachschutzunternehmen zu gründen, die angesichts des Zusammenbruchs der zentralstaatlichen Strukturen Sicherheitsdienste boten. Aus der Verschmelzung dieser Teile der Eliten gingen die Führungsschichten der postsowjetischen Staaten hervor, wobei in den meisten Fällen ehemalige Angehörige der Nomenklatura die Kontrolle über staatliche Strukturen erlangten.
Der Weg bis 2023
Die postsowjetische Elite in Russland hat drei größere Entwicklungsphasen durchlaufen.
1990 – 1999: Zerfall bzw. weitere Ausdifferenzierung der sowjetischen Nomenklatur. In dieser Phase erfolgte eine primäre Akkumulierung des Kapitals. Es gab zwar Spielregeln, allerdings eher im Geiste des Wilden Ostens. Konflikte zwischen den Elitengruppen und Auftragsmorden waren traurige Normalität. Dadurch erfolgte bis zum Ende der Amtszeit von Boris Jelzin, des ersten Präsidenten Russlands, eine starke Differenzierung der russischen Elite.
1999 – 2012: Um das Land, das sich in einer tiefen und vielschichtigen Krise befand, tatsächlich regieren zu können, war eine stärkere Integration der differenzierten Elite notwendig. Die erfolgte über eine Koalition, die sich im Umfeld von Wladimir Putin bildete, den die Jelzinsche »Familie« zum Nachfolger erwählt hatte. Zum einen wurden neue Spielregeln entwickelt, die im Laufe der ersten beiden Amtszeiten Putins sowie der Präsidentschaft Medwedews ständig verfeinert wurden. Ziel dieser Politik war es, die Lage im Land zu stabilisieren und eine dynamischere wirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten. Das Mittel hierzu war ein Konsens, der den Eliten aufgenötigt wurde (in der Begrifflichkeit Vladimir Gel'mans ein »imposed consensus«). Ein markanter Vorgang war hier die Unterbindung des unmittelbaren institutionellen Einflusses der Oligarchen auf die Politik. Die übrigen Elitengruppen akzeptierten sowohl die Verhaftung Michail Chodorkowskijs wie auch die neuen zentralisierten Regeln, nach denen die Machtorgane gebildet wurden. Dabei wurde die Taube auf dem Dach – die politischen Ambitionen – gegen einen Spatzen in der Hand getauscht, also die wirtschaftlichen Ressourcen in Russland. Es war Wladimir Putin, der die wichtigsten Ergebnisse der Privatisierung früheren Staatsvermögens praktisch in Kraft beließ, wobei er alle, die eine Revision forderten, von der politischen Bühne verdrängte.
2012 – 2022: In Putins dritter und vierter Amtszeit begann ein Zyklus, bei dem sich die Differenzierung der Eliten drastisch verringerte, was in vielem auf Putins besondere Wahrnehmung außenpolitischer Umstände zurückzuführen ist. Diese Phase lässt sich mit den Worten Wladislaw Surkows, eines seinerzeit hochrangigen Vertreters der Präsidialadministration, als »Nationalisierung der Eliten« bezeichnen. Wem eher wissenschaftliche Sprache gefällt, mag dem bekannten russischen Transformationsforscher Andrej Melwil folgen und den Begriff »neokonservativer Konsens« verwenden. Diese Wendung der Eliten wurde nach der erneuten bunten Revolution in der Ukraine 20134/14 auch in der breiteren öffentlichen Meinung verankert. Im Kontext der nationalpatriotischen Begeisterung unterstützten die meisten Wähler in Russland den Anschluss der Krim, aller außenpolitischen und wirtschaftlichen Folgen zum Trotz. Die ideologische Homogenität der Elite wurde allmählich zu einer Art Leistungskennziffer, die von der Präsidialadministration überwacht wurde.
Richtung Homogenisierung
Es versteht sich, dass eine Personalpolitik auf der Grundlage von Aussagen über den ideologisch korrekten Habitus ein äußerst bequemes Instrument ist, um den politischen Einfluss zu konzentrieren. Daher haben die Politmanager in der Präsidialadministration ihren Einfluss verstärkt. In den letzten Jahren begünstigte diese Politik eine stärkere Position der Familie Kowaltschuk und des ihr nahestehenden stellvertretenden Leiters der Präsidialadministration, Sergej Kirijenko. Dessen ideologische Flexibilität ist, aus der Ferne betrachtet, erstaunlich: Er war in der späten UdSSR ein junger, regionaler, aussichtsreicher Organisator des Komsomol, der Jugendorganisation der Partei; Anfang der 2000er Jahre ein Jungdemokrat und rechter (liberaler) Politiker; als Leiter der staatlichen Weltraumagentur »Roskosmos« ein technokratischer und apolitischer Funktionär; und schließlich, nach der Rückkehr in die Politik unter dem späten Putin, ein Vorkämpfer für »geistige Klammern« und einen ultrakonservatives Ansatz.
Zur aktuellen politischen Elite in Russland, also zu jenen, die in der Lage sind, systematisch Einfluss auf die Ausarbeitung der Politik auszuüben, kann strenggenommen nur der engste innere Kreis gezählt werden, zu dem Putin Kontakt hält. Dieser Kreis ist seit Beginn der Coronapandemie noch kleiner geworden. Als einflussreichste Personen und engste Vertraute in der neuen Realität nach der Pandemie werden Putins langjähriger Freund Michail Kowaltschuk und der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, genannt, die generationsbedingt und ideologisch bei der Wahrnehmung der gesellschaftlichen und politischen Realität ähnliche Züge aufweisen.
Wie wären sie zu beschreiben? Sie neigen stark zu geopolitischen Erklärungen der Realität und zu einer Fokussierung auf die Konfrontation mit dem vermeintlich permanenten und russophoben Establishment in den USA. Sie bevorzugen eine manichäische Interpretation der Geschichte, glauben an einen besonderen Weg Russlands und verwenden einen Mix aus Ansichten, der oft als Verschwörungstheorie bezeichnet wird. Diese Lage der Dinge hat alle Ströme aufwärts gerichteter Kommunikation in diesem superpräsidialen System erheblich eingeschränkt. Und Akteure, denen es früher noch so schien, als könnten sie das Land vor falschen und verheerenden Entscheidungen bewahren, saßen nun in der Falle. Selbst hochrangige Systemliberale, angefangen von Nabiullina bis hin zu German Gref, die häufig genannt werden, in Wirklichkeit keine einheitliche Gruppe darstellen, wurden genötigt, sich formal mit der Generallinie der Elite zu solidarisieren, die sich um die Weltsicht des Anführers herum zusammengeschlossen hat.
Fasst man die Antworten zusammen, die Angehörige der Elite gegenüber dem externen Publikum geben, lassen sich Punkte eines revanchistischen Konsenses erkennen.
Der empirischen Studie SRE-2020 (SRE: »Survey of Russian Elites«) zufolge sieht dieser Konsens etwa so aus:
Die russischen Eliten sind in hohem Maße militaristisch und antiamerikanisch eingestellt;In Bezug auf die aktuelle Außen- und Verteidigungspolitik wird formal Loyalität demonstriert;Es besteht die Bereitschaft, den Einsatz militärischer Gewalt im postsowjetischen Raum zum Schutze russischer Interessen zu unterstützen;In Bezug auf die Wirtschaft bestehen starke etatistische Einstellungen (Unterstützung eines Status quo hinsichtlich der Dominanz des Staates in der russischen Volkswirtschaft).
Auf dem Pfad der Wut werden auch die Eliten auf null gesetzt
Die Möglichkeiten für Eliten, die Spielregeln aktiv zu gestalten oder zu reformieren, sind stets in einem gewissen Maße begrenzt. Im Falle Russlands trifft dies doppelt zu. Ich stimme jenen zu, die die Auf-Null-Setzung von Putins Amtszeiten 2020 als eines der Schlüsselereignisse betrachten, durch das die Eliten maximal vom Entscheidungszentrum abgedrängt wurden. Die Ansichten in den Eliten wurden sowohl vom Autokraten wie auch von der Machtvertikale demonstrativ ignoriert. Anschließend gab es zwar noch die Möglichkeit, eigene wirtschaftliche Partikularinteressen zu lobbyieren, doch lag die Politik jetzt hinter einer fetten durchgezogenen Linie, deren Überschreitung für jeden Gefahr bedeutet.
Die Kunst, weiterhin der Elite anzugehören, besteht jetzt nicht mehr darin, doch noch Einfluss auf die Politik zu nehmen, sondern vielmehr darin zu verhindern, dass man sich nach abrupten und schwer vorherzusagenden Wendungen im politischen Kurs zufällig jenseits dieser durchgezogenen Linie wiederfindet, wo man dann vom schweren Laster der Silowiki ins Nirwana befördert würde.
Daher besteht die starke Integration der russischen Eliten, die dem externen Publikum demonstriert wird, nur formal und ist gewissermaßen eine Imitation. Die Vielfalt der Eliten verengt sich und es gibt sehr starke Anreize, ständig Geschlossenheit zu zeigen.
Ist eine solche Beschreibung hinreichend? Ich denke, nicht ganz. Ein wichtiges Merkmal bliebe außen vor, nämlich die Legitimität der eigenen Position.
Hier formuliere ich meine letzte und zentrale These. Eine markante Besonderheit der Eliten in Russland und ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Eliten der meisten Länder sowohl des modernen Westens wie auch des traditionsverhafteten Ostens besteht darin, dass die russischen Eliten als dominierende Gruppe im Bewusstsein ihrer Illegitimität vereint sind. Ihnen ist wohlbewusst, dass sie nicht in der Lage sein werden, bei irgendeinem Schritt in Richtung einer tatsächlichen Repräsentation ihre aktuelle dominierende Stellung aufrechtzuerhalten. Das schweißt sie alle um die Figur des Führers zusammen, der in dieser Konstruktion allein die Legitimität des superpräsidialen Systems trägt.
Wjatscheslaw Wolodin, Vorsitzender des Parlaments und ein Falke, hat es so formuliert: »Wenn es Putin nicht gibt, gibt es auch Russland nicht.« In dieser Formulierung steckt ein gutes Stück Wahrheit, da auch auf der mittleren und unteren Ebene der Machthierarchie keine Legitimität zu erkennen ist. Und wenn dem so ist, wird eine Rekrutierung für die Verwaltung immer stärker auf zwei Grundlagen erfolgen. Zum einen durch Familienbande und verwandtschaftliche Beziehungen, die Netzwerke aus Vertrauen und traditioneller Loyalität am besten gewährleisten. So kursieren beispielsweise permanent Gerüchte über Dmitrij Patruschew (den Sohn von Nikolaj Patruschew und derzeit einer der Minister im Kabinett Mischustin) als zukünftigem Präsidenten Russlands. Zweitens werden jene rekrutiert, die im Zweifelsfall zu illegitimer Gewalt gegen illoyale Personen und Gruppen bereit sind.
Die Logik des superpräsidialen Machtsystems ohne wirksame Beschränkungsmechanismen ist gnadenlos. Die realen Fraktionen innerhalb der herrschenden Kreise sind jetzt durch den Nebel des Krieges verdeckt. Sie warten, dass ihre Stunde kommt, um dann ihren Anteil an der Macht zu erkämpfen. Der systemische Einfluss der Eliten auf den politischen Bereich ist bewusst auf null gesetzt worden, um allseitige Geschlossenheit und Homogenität zu demonstrieren.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder