Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen

Von Grigori Judin, Margarita Ljutowa (Meduza)

Das folgende Interview mit dem russischen Soziologen Grigori Judin erschien ursprünglich am 24.02.2023 bei dem Onlinemedium Meduza und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.

Einleitung von dekoder

Grigori Judin gehört derzeit zu den gefragtesten Stimmen in unabhängigen russischen Medien und das nicht ohne Grund: Nur wenige Experten im dortigen Diskurs haben den russischen Überfall auf die Ukraine so präzise vorhergesagt wie Judin, der zwei Tage vor Beginn des Großangriffs am 24. Februar 2022 in einem Gastbeitrag für openDemocracy schrieb: »Putin ist kurz davor, den sinnlosesten Krieg der Geschichte zu beginnen«.

Ein Jahr später spricht der Moskauer Soziologe mit Margarita Ljutowa von Meduza über seine aktu- elle Einschätzung der Lage. Im ersten Teil geht es um das Gefühl der Kränkung in der russischen Gesellschaft als Nährboden für einen »ewigen Krieg«, bei dem es um weit mehr als die Ukraine geht, und warum Putin trotz der Rückschläge glaubt, alles richtig gemacht zu haben. Im zweiten Teil des Interviews geht es um Angst und Hilflosigkeit der russischen Gesellschaft und wie sie diese überwinden kann. Grigori Judin äußert auch leise Hoffnungen auf ein »unausweichliches neues Russland«.

»Putin versucht mit aller Kraft, ein neues Russland zu verhindern«

Margarita Ljutowa: Die heutige Politik Russlands wird von vielen so verstanden, dass für Putin der Krieg ein endloses Unternehmen ist. In seiner jüngsten Botschaft an die Föderationsversammlung hat er das wohl wieder bekräftigt: Er verlor kein Wort darüber, wie Russlands Sieg aussehen soll und was danach kommt. Was meinen Sie, ist Putins Plan tatsächlich ein ewiger Krieg?

Grigori Judin: Ja, natürlich, dieser Krieg wird nie aufhören. Er hat keine Ziele, nach deren Erreichen er beendet werden könnte. Er wird einfach immer weitergehen, weil »sie« [in Putins Vorstellung] Feinde sind und uns töten wollen – und wir sie. Für Putin ist das eine existenzielle Konfrontation mit einem Gegner, der vorhat, ihn zu vernichten.

Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen. Er wird sich immer weiter ausdehnen.

Die russische Armee wird in aller Eile vergrößert, die Wirtschaft auf Kanonen umgestellt, und Bildung wird zum Werkzeug von Propaganda und Wehrerziehung. Das Land wird auf einen großen, schweren Krieg vorbereitet.

Und dann ist ein Sieg für Putin von vornherein unmöglich?

Absolut unmöglich. Den setzt sich auch niemand zum Ziel, es gibt keine Definition, was überhaupt ein Sieg wäre.

Ist das Kriegsziel also einfach Wladimir Putins Machterhalt?

Das ist ungefähr dasselbe: Putin stellt sich seine Regentschaft als Dauerkrieg vor. Putin und sein Umfeld erzählen uns seit Jahren, dass gegen uns Krieg geführt wird. Manche haben das lieber ignoriert, aber [Putin und sein Umfeld] glauben wirklich, dass sie schon lange in einen Krieg verwickelt sind. Nur ist dieser Krieg inzwischen in eine so aggressive Phase eingetreten, dass es offenbar keinen Ausweg mehr gibt. In dieser Weltsicht ist Krieg grundsätzlich die Norm. Hören Sie einfach auf, Frieden für den Normalzustand zu halten – dann sehen Sie die Situation mit deren Augen. Wie [Natalja Komarowa,] die Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen sagte: »Der Krieg ist ein Freund.«

Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch in der Ukraine, erschien auf der Website von openDemocracy ein Artikel von Ihnen, in dem Sie sowohl den drohenden großen Krieg als auch Putins Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen beschrieben, mit denen die westlichen Länder auf diesen Krieg reagieren würden. Im zweiten Teil erörterten Sie, dass der Krieg gegen die Ukraine »einer der sinnlosesten Kriege der Geschichte« werden würde. Was meinen Sie, hat die russische Gesellschaft im vergangenen Jahr begonnen, das zu begreifen?

Nein, ich glaube nicht. Sehr viele haben das sofort deutlich gesehen, diese Gruppe hat jedoch seitdem keinen Zuwachs bekommen. Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet, und genau hier befindet sich Wladimir Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft. Zwar teilt keineswegs die ganze Gesellschaft seine wahnhaften Theorien, aber hier trifft er auf Resonanz und produziert darüber hinaus auch noch selbst diese Emotion. Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann. An eine produktive Gestaltung internationaler Beziehungen lässt sich unter diesen Umständen nicht einmal denken.

Wissen Sie, das ist wie bei einem Kleinkind, das beleidigt ist und den anderen Schaden zufügt. Dieser Schaden wird immer größer und größer, und irgendwann fängt das Kind an, anderen Leuten und gleichzeitig sich selbst das Leben zu zerstören. Aber dem Kind ist das nicht bewusst, es kommt nicht auf die Idee, dass es an den Beziehungen arbeiten muss.

Eines Tages werden wir verstehen, dass sich diese Kränkung gegen uns selbst richtet, dass wir uns selbst damit schaden. Aber noch halten zu viele von uns an ihrer Gekränktheit fest.

Von wem fühlen sich denn Putin und die russische Gesellschaft so gekränkt? Von der ganzen Welt? Vom Westen? Den USA?

Von der Weltordnung insgesamt, die ungerecht erscheint, und folglich von dem, der als Senior-Partner die Verantwortung für diese Welt übernimmt, also von den USA. Das sind Vorwürfe gegen die ganze Welt – in dem Sinn, dass das menschliche Leben einfach schlecht konstruiert ist.

Ich muss immer an eine Aussage von Putin Mitte 2021 denken. Er sagte damals völlig ohne Anlass, es gebe im Leben überhaupt kein Glück. Das ist eine starke Aussage für einen politischen Leader, der ja eigentlich von der Idee her das Leben der Menschen verbessern, ihnen irgendwelche Ideale, Anhaltspunkte vermitteln sollte. Und da sagt dieser Mensch [sinngemäß]: »Im Leben gibt es kein Glück. Die Welt ist generell ein schlechter, ungerechter, schwer erträglicher Ort, an dem die einzige Daseinsform darin besteht, permanent zu kämpfen, sich zu prügeln und im Extremfall zu töten.«

Dieses Beleidigtsein auf die ganze Welt ist in Russland stark verwurzelt, und es wird auf den projiziert, der vermeintlich für diese Welt verantwortlich ist: die USA. Die Vereinigten Staaten haben tatsächlich ab einem gewissen Punkt die weltweite Verantwortung übernommen – was aber nicht nicht immer von Erfolg gekrönt war. Und wir sehen, dass das Ressentiment, von dem ich jetzt spreche, wahrlich nicht nur in Russland existiert (wo es katastrophale, schauderhafte Formen annimmt).

In einem großen Teil der Welt gibt es eine durchaus begründete Kritik an der herrschenden Weltordnung, an die Adresse der USA, die die Verantwortung übernommen haben, zum Hegemon wurden und in vielen Aspekten Nutznießer dieser Ordnung sind. Wir sehen, dass jene Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, dazu neigen, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen. Das ist der globale Süden, der seit Jahrzehnten unter einer immer stärkeren Ungleichheit leidet und teilweise auch, zumindest symbolisch, unter den wahnwitzigen außenpolitischen Abenteuern, in die sich die USA gestürzt haben. Dasselbe gilt für Teile der Bevölkerung des globalen Nordens, die sich ebenfalls gekränkt und als Opfer fühlen. Fast überall, wo man diesem Ressentiment begegnet, trifft man auch auf ein größeres Verständnis für Putins Vorgehen.

Ich würde nicht sagen, dass dieses Verständnis in Unterstützung umschlägt – Putin hat nämlich nichts anzubieten. Er reproduziert einfach ständig dieselben Fehler, nur in immer schrecklicheren Dimensionen. Einer meiner Kollegen formulierte mal sehr treffend das Grundprinzip der russischen Außenpolitik: »Was die anderen nicht dürfen, können wir auch.« Es ist ja kaum zu übersehen, dass Putin genau das anstrebt, wofür er die USA kritisiert. Insofern ist es schwierig, ihn [im Ausland] zu unterstützen, aber viele wollen sich ihm in dieser Gekränktheit anschließen.

Gab es dieses Ressentiment in der russischen Gesellschaft schon vor Putin, also in den 1990ern? Oder wurde es erst unter Putin gezüchtet?

In jeder Gesellschaft gibt es immer die unterschiedlichsten Emotionen. Ein Politiker muss immer herausfinden, auf welche er setzt. Einige Gründe für diese Gekränktheit gab es [in der russischen Gesellschaft] natürlich durchaus. Sie haben mit der belehrenden Rolle zu tun, die die Vereinigten Staaten und teilweise auch Westeuropa einnahmen. Ideologisch verpackt wurde das in der Modernisierungstheorie, der zufolge es entwickelte Länder und Entwicklungsländer gibt. Und die entwickelten belehren – durchaus wohlwollend und unterstützend – die Entwicklungsländer: »Leute, macht das mal lieber so und so.« Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land, das selbst eine imperiale Vergangenheit hat.

In Wirklichkeit war die Situation, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, viel komplexer. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland [nach dem Zerfall der UdSSR] zu einer ganzen Reihe führender internationaler Foren eingeladen wurde und Einfluss auf große globale Entscheidungen hatte. Erinnern wir uns an die Kehrtwende des damaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow über dem Atlantik, an die von Jelzin angeordnete Entsendung von Truppen nach Jugoslawien – mit einem Wort, auf Russland musste man hören. Es gab jedenfalls diplomatische Ressourcen, die man hätte ausbauen können und müssen.

Aber diesen belehrenden Ton [Russland gegenüber], den gab es durchaus. Er war das Ergebnis eines schweren ideologischen Fehlers. Angesichts des gescheiterten sozialistischen Projekts glaubten viele, es gäbe nur den einen geraden Weg: die berühmte Theorie vom »Ende der Geschichte«. Insofern ja, die Voraussetzungen für Ressentiments waren vorhanden, aber es gab auch welche für andere Emotionen.

Außerdem war die Beschreibung und das Erleben des Zusammenbruchs der UdSSR als katastrophale Niederlage ganz bestimmt nicht vorprogrammiert, es gab etliche konkurrierende Narrative [die die Bedeutung des Zerfalls für die Bevölkerung beschrieben]. Eines davon bestand darin, dass es sich um eine Volksrevolution gehandelt habe, ein ruhmreicher Moment in der Geschichte des russischen und anderer Völker, weil es ihnen gelungen ist, ihr verhasstes, tyrannisches Regime zu stürzen. Dieses Konzept hätte natürlich nicht in die Kränkung geführt.

Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden, was wohl teilweise mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Wobei es auch kein Zufall ist, dass ausgerechnet ein Mensch an die Spitze kommt, der eine angeborene Gekränktheit mitbringt. In der Folge hat Putin dieses Gefühl immer weiter geschürt. Und Kränkung ist ansteckend. Es ist eine bequeme Emotion: Erstens fühlst du dich die ganze Zeit im Recht, zweitens unverdient niedergemacht.

Sie haben mehrfach geäußert, dass Putin Ihrer Meinung nach in der Ukraine nicht Halt machen wird. Was meinen Sie damit genau? Moldawien, die baltischen Länder oder einen selbstzerstörerischen Krieg gegen die USA?

Diese Art von Weltbild kennt im Grunde keine Grenzen. »Russland hört nirgendwo auf« ist praktisch die offizielle Formel. Das ist die Standard-Definition eines Imperiums, denn ein Imperium erkennt keine Grenzen an.

Die ersten Grenzen in Europa entstanden 1648, mit dem Westfälischen Frieden, der das Ende der Imperien einleitete. Da kam erstmals der Gedanke auf, zwischen den Ländern Grenzen zu ziehen: »Hier sind wir, da seid ihr.« Ein Imperium erkennt diesen Gedanken nicht an: »Wir sind da, bis wohin wir gekommen sind. Und ihr seid dort, wo wir noch nicht sind. Sobald wir da sind, seid ihr weg.«

In dieser Logik gibt es prinzipiell keine Grenzen, und es ist kein Zufall, dass wir nie hören, dass Russland irgendwelche Grenzen offiziell anerkennt. Wir bekommen höchstens das unbestimmte Gefühl mit, dass es irgendwo einen Westen gibt, und der ist uns irgendwie fremd. Nicht, dass er so gar nicht zu uns gehören würde, aber doch beginnt dort ein Bereich, den man nur noch sehr schwer einnehmen kann. Der Westen natürlich in dem [ideologischen] Sinn, den er in der Sowjetzeit innehatte.

Ich möchte an das Ultimatum [von Putin gegenüber den USA und der NATO] vom Dezember 2021 erinnern: Damals sagte Wladimir Putin ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei. Wie das formell aussehen wird, mit oder ohne Verlust der formellen Souveränität – was spielt das für eine Rolle? Diese Einflusssphäre umfasst zweifellos auch die ehemalige DDR, einfach weil Wladimir Putin damit persönliche Erinnerungen verbindet. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er dieses Territorium nicht als seines betrachtet. Putin hat definitiv vor, die Zone des Warschauer Paktes wiederherzustellen – und dann mal schauen, wie es läuft.

Ich höre oft: »Das ist doch Unfug, wie soll das funktionieren? Das ist irrational, das ist Wahnsinn, dazu hat er gar nicht die Möglichkeiten!« Ich erinnere daran, dass das Gleiche vor Kurzem noch über die Ukraine gesagt wurde. Oder über Moldau, und jetzt hören wir, dass die moldauische, die ukrainische und die Regierung der USA Moldau als ernsthaft bedroht einschätzen. Wir haben bereits gesehen, dass Moldau in den Plänen der aktuellen Militäroperation immer wieder vorkam, es hat sich nur noch nicht ergeben.

Wir sollten zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass eine Handlung, die Person X unternimmt, zum Erfolg führt. Etwas anderes ist es, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass Person X diese Handlung unternimmt. Man mag zu Recht der Meinung sein, dass dieses Handeln zum Scheitern verurteilt ist, aber daraus folgt nicht, dass die Person es nicht tut. Nicht, weil die Person irrational wäre, sondern weil sie zum Beispiel der Meinung ist, keine andere Wahl zu haben.

Die allgemeine [russische] Strategie sieht in etwa so aus: Wir greifen uns ein Stück, das wird für legitim erklärt, und im nächsten Schritt greifen wir uns auf Grundlage dieser Legitimität etwas anderes.

[In der Logik dieser Strategie] greifen wir uns, grob gesprochen, zuerst die Ostukraine, mithilfe eines wie auch immer gearteten Waffenstillstands. Auf diese Weise können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden. Die globale Wirtschaft hat somit einen guten Grund, nach Russland zurückzukehren (das sie größtenteils gar nicht verlassen hat), während im Gegensatz dazu unter solchen Bedingungen niemand in die Ukraine investieren wird. Das schafft die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß [Russlands] in der Ukraine.

Daraufhin werden in Europa bald Stimmen zu hören sein, die sagen: »Am Ende war es doch ihr Territorium, jetzt haben sie sich geeinigt und gut ist.« Aber Moment mal, wenn das »ihr« Territorium ist, russisches Territorium, weil man dort russisch spricht, was ist dann zum Beispiel mit dem Osten Estlands? Man kann antworten: Aber Estland ist in der NATO! Doch wird die NATO um Estland kämpfen? Putin ist überzeugt: Sollte Artikel 5 der NATO zum richtigen Zeitpunkt auf die Probe gestellt werden, dann würde die NATO auseinanderbrechen. Und das aus einem einfachen Grund: Sie wissen im Grunde, dass sie sich etwas genommen haben, das ihnen nicht gehört, und deswegen werden sie kneifen und nicht darum kämpfen, wenn es ernsthaft bedroht wird.

Wenn niemand in Westeuropa bereit ist, für die Gebiete im Osten zu kämpfen (zur Erinnerung: All das geschieht [in diesem Szenario], nachdem Russlands Annexion ukrainischer Gebiete durch unterschriebene Dokumente legitimiert wurde), dann gibt es da natürlich noch die USA. Aber die USA könnten zu diesem Zeitpunkt bereits einen anderen Präsidenten haben, dem Osteuropa nicht so wichtig ist.

Lassen Sie mich klarstellen: Ich halte das Gesagte nicht für das wahrscheinlichste Szenario. Es beschreibt Putins Strategie, aber Putin beherrscht nicht die Welt – er wird so viel bekommen, wie man ihm lässt. Aber völlig ausgeschlossen ist das alles nicht. Ich spreche von durchaus realistischen Dingen.

Man kann sich gut vorstellen, dass Putin und sein engster Kreis am 24. Februar 2022 so gedacht haben. Aber es ist ein Jahr vergangen – und der Westen ist nicht zersplittert, mehr noch, er leistet der Ukraine spürbare Unterstützung. Ist es denkbar, dass dieses Jahr und die Ergebnisse der russischen Militärkampagne sich auf die Weltsicht, die Sie gerade beschrieben haben, ausgewirkt haben?

Ja, bestimmt. Ich nehme an, Wladimir Putin ist jetzt überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Selbst wenn er Zweifel hatte, dann [weiß er jetzt, dass sie] unberechtigt [waren]. Dieses letzte Jahr hat ihm gezeigt: Wenn der Westen so sehr an der Ukraine hängt, dann ist sie offenbar doch eine Schlüsselregion, von der aus man ihn angreifen wollte. Außerdem ist es [aus Putins Sicht] gut, dass die aktuellen Probleme sich vor dem echten Krieg offenbart haben, den die russische Führung für unausweichlich hält. Viel schlimmer wäre es [in ihrer Logik], mit dieser Armee in diesen [zukünftigen] großen Krieg zu gehen. Das heißt, alles, was geschieht, bestärkt Putin nur in seinen Ansichten.

Es gibt so eine Phrase: »Putin hat sich verkalkuliert«. Aber wir sollten endlich aufhören, Wladimir Putin so geringzuschätzen. Sicher, wir haben gesehen, dass ein Blitzkrieg um Kyjiw geplant war, und der ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?

Dieser Krieg wurde jahrelang vorbereitet. Es wäre merkwürdig, wenn es nur einen Plan gäbe. Bei einem Machthaber, der seit Langem an nichts anderes denkt als an die Vorbereitung auf diesen Krieg, funktioniert das so nicht. [In Putins Logik klingt das so:] »Ja, es ist nicht perfekt gelaufen, aber das macht nichts, wir bleiben dran. Wir sind bereit, so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht. [Die Ukraine] gehört uns, und irgendwann werden sie das einsehen und aufhören, ihre wertvollen Ressourcen zu opfern.«

Ich sage nicht, dass diese Taktik funktionieren wird. Mehr noch, ich denke, dass Putins eigene Logik ihn zur Niederlage verdammt – unbewusst will er verlieren. Die Frage ist, wie viele Menschen sterben werden, bevor es dazu kommt. Aber wenn wir die Situation vorhersehen wollen, müssen wir die Logik verstehen, nach der die Menschen handeln [, die in Russland an der Macht sind].

Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das Putin zwingen würde, sein Weltbild in Zweifel zu ziehen?

Nein. Nichts.

Wie hat sich im vergangenen Jahr das Bild von Putin und Russland im Westen verändert? Meinen Sie, man hat jetzt das Ausmaß der Bedrohung begriffen, das bis 2022 wohl unterschätzt wurde?

Bisher wurde zugegeben, dass die vormals herrschenden Vorstellungen [über Russland] grundfalsch waren. Was daraus folgt, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen bedenken, dass niemand auf diese Entwicklung vorbereitet war und daher noch immer ein reaktives Verhalten überwiegt.

Es gibt eine unübersehbare »Partei des 23. Februar«: Das sind Leute, die die Aggression verurteilen, sich aber wünschen, dass das alles irgendwie vorbeigeht und man dann wieder weitermachen kann wie früher. Das ist in erster Linie das globale Kapital, das nicht versteht, wieso es wegen irgendeiner Ukraine Geld verlieren soll. Ein beachtlicher Teil der westeuropäischen Geschäftswelt macht keinen Hehl daraus, dass das ein optimales Szenario wäre, und erwartet, dass die Ukraine endlich einen Teil ihres Territoriums abgibt.

Die einen versuchen, die Ukraine offen unter Druck zu setzen (solche Initiativen gibt es, wenn auch nicht vorherrschend, in Deutschland), die anderen warten einfach darauf, dass die Widerstandskraft versiegt. Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen, und er nicht vorhat, mit jemandem zu reden. Wenn für ihn jedoch die Zeit kommt, seine Eroberungen abzusichern, dann wird die Situation eine andere Wendung nehmen – und er weiß von diesen Stimmungen [im Westen – Anm. dekoder], er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann.

Viele Politiker sehen das anders und wissen um die Gefahren eines solchen Szenarios. Um ihm jedoch eine Alternative anzubieten, bräuchte man eine Art Zukunftsvision, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und den gesamten Kontinent. Und da kommt es zu Schwierigkeiten. Der am stärksten in den Krieg involvierte Teil Europas besteht darauf, dass Russland keine andere Zukunft haben kann – es ist für sie ein »genetisch geschädigtes« Land, das dazu verdammt ist, eine Gefahr darzustellen. Nach Putin kommt wieder Putin – in dem Punkt stimmen die Vertreter dieser Position mit [dem Sprecher der Staatsduma] Wjatscheslaw Wolodin überein. Die Bilder von der bestialischen Brutalität der russischen Soldaten verstärken solche Sichtweisen.

Aber was folgt daraus? Natürlich könnte man rund um Russland eine Mauer bauen und sie mit Maschinengewehren bewachen. Dann wäre es aber in der gesamten Region vorbei mit der Sicherheit, denn das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg, und man kann nicht abschätzen, was davon für alle schlimmer ist.

Rational denkende Menschen wie [der französische Präsident] Emmanuel Macron verstehen, dass man Sicherheit nicht erzielen kann, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Weil aber Macron auch davon überzeugt ist, dass Russland immer einen Putin haben wird, kommt er zu dem logischen, aber absolut aussichtslosen Schluss, dass man mit Putin verhandeln muss. Und tatsächlich, solange niemand Russland von der Landkarte tilgen will und zwischen Russland und Putin ein Gleichheitszeichen steht, wird man Putin entgegenkommen müssen. Jene Menschen, die mit Schaum vorm Mund allen einzureden versuchen, dass Russland zum ewigen Putin verdammt ist, bekommen am Ende konsequenterweise Spitzenpolitiker, die Verhandlungen mit Putin anstreben – obwohl sie allem Anschein nach das genaue Gegenteil erreichen wollen.

Diesen Knoten wird man nicht lösen können, solange die Frage nach der Vertretung von Russlands Interessen im Raum steht. Russland hat wie jedes andere Land auch ein Recht auf Sicherheitsgarantien – alles andere führt zu Instabilität. Es ist natürlich sinnlos, dieses Thema mit Putin zu besprechen. Um also zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann, wie es Wolodymyr Selensky nüchtern formuliert.

Das wird übrigens endlich die Voraussetzung dafür schaffen, dass die feigen russischen Eliten aktiv werden. Gerade die müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Zukunft nicht von einem Menschen allein abhängt, dass Russland irgendwann auch ohne Putin weiterbestehen wird. Solange Russland mit seiner jetzigen Regierung gleichgesetzt wird (oder genauer gesagt, nicht einmal mit der Regierung, sondern mit dem einen Menschen, der seinen Sicherheitsrat mit dem Angriff auf die Ukraine in einen totalen Schock versetzt hat), ist kein Ausweg in Sicht. Im Interesse aller muss man das eine vom anderen trennen. Der einzige Mensch, der ein Interesse an dieser Gleichsetzung hat, ist Wladimir Putin.

Was kann man machen, um diese Gleichsetzung aufzuheben? Man denkt da sofort an Belarus, das nach den Massenprotesten wohl von niemandem mehr mit Lukaschenko gleichgesetzt wird. Braucht es also Massenproteste? Oder irgendeine Exilregierung, die der Welt den Entwurf eines neuen Russland präsentiert?

Diese beiden Dinge schließen einander nicht aus. Sicherlich würde eine ernstzunehmende Bewegung wie in Belarus, die endlich den tyrannischen Charakter dieser Regierung aufdeckt, zweifellos helfen. Eine solche Bewegung kann aber auch angeregt werden, indem man ein alternatives Russland skizziert. Zumal die Voraussetzungen dafür, wie mir scheint, gar nicht so schlecht sind: Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland. Russland ist ein ziemlich großes Land, es verfügt über genügend Ressourcen, junge, aktive Schichten, die die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Putin versucht mit aller Kraft, das unausweichliche neue Russland zu verhindern, in dem für ihn kein Platz sein wird.

Nach zwei Jahrzehnten unter Putin verlieren die Russen natürlich die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Aber das Leben wird dafür sorgen, dass wir unsere Phantasie ein bisschen mehr anstrengen. Unser Land ist in eine Sackgasse geraten, mit der Zeit werden wir nicht umhinkommen, das zu begreifen. Wir haben einfach noch ein paar Meter vor uns, also bewegen wir uns weiter. Aber es ist eine Sackgasse, sie führt nirgendwohin.

Als wir vor diesem Interview unsere Gesprächsthemen festlegten, sagten Sie zur Frage des aktuellen Zustands der russischen Gesellschaft, zu ihrer Atomisierung, zur kollektiven Handlungsunfähigkeit, dass das Reden über das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit nur noch verstärken würde, was Sie aber vermeiden wollen. Gibt es Methoden, zu der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Ohnmachtsgefühl zu nähren?

Während die primäre Emotion in Russland Kränkung ist, ist der stärkste Affekt, um den sich heute alles dreht, die Angst. Existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn eines konkreten Menschen oder Angst vor dem Krieg, und eine abstraktere Angst vor dem Chaos. Angst, multipliziert mit der Gewissheit, dass der Tyrann allmächtig ist und auf jeden Fall bekommt, was er will: Bisher hat er es immer bekommen, also wird es auch weiterhin so sein. Diese mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst, die braucht eine Antwort.

Angst treibt man mit Hoffnung aus. Das ist der gegenteilige Affekt. Man muss den Menschen Hoffnung geben. Insofern sind die nachvollziehbaren, begründeten Vorwürfe [gegen die Menschen in Russland] politisch perspektivlos. Noch mal: Sie sind verständlich, begründet und legitim, aber politisch aussichtslos. Wir haben es mit Menschen zu tun, die von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt und verängstigt sind, und Sie wollen ihnen noch zwei Kilogramm Schuld aufladen. Was soll dabei herauskommen?

Die Frage ist, wie man in dieser Situation Hoffnung gibt. Die Hoffnung besteht gerade darin, zu zeigen, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte. Und die Wahrheit ist: Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen.

In Russland ist jeder normative Diskurs längst im Keim erstickt: Es ist schon lange so gut wie unmöglich, danach zu fragen, wie man eine Gesellschaft aufbauen sollte, wie das auf gerechte, ehrliche und gute Weise gelingt. Schon vor Jahren haben mir Menschen [bei Umfragen] auf solche Fragen geantwortet: »In Russland? Gar nicht.« Das zeigt, dass der normative Diskurs unterdrückt ist, aber die Nachfrage danach wird unweigerlich steigen, je mehr den Menschen diese Sackgasse bewusst wird. Dann ist es wichtig, dass sie Hoffnung haben.

Gibt es in diesem Leben in Angst multipliziert mit Hoffnungslosigkeit einen Point of no Return, einen Moment, nach dem die Hoffnung die Menschen nicht mehr erreicht? Wenn einer, der einen Plan für eine »wundervolle Zukunft« vorlegt, nicht mehr gehört wird?

Das weiß ich nicht. Wenn wir von Affekten sprechen – die sind nie für die Ewigkeit. Aber können wir uns vorstellen, dass ein Affekt, wenn er auf die absolute Spitze getrieben wird, das soziale Umfeld dermaßen zerstört, dass man daraus nichts mehr bauen kann?

Ich glaube an Russland. Ich glaube an die russische Kultur im konkreten Sinn – ich glaube daran, dass sie Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden. Darin liegt ihre Stärke. Nicht darin, dass Puschkin ein großer Dichter war. Sondern darin, dass sie eine Fundgrube für Weisheiten und Ratschläge ist, für Antworten auf die Fragen, die uns heute beschäftigen. Ich glaube, dass die russischen Denker, Schriftsteller, die intellektuellen Ressourcen, die wir haben, unsere Traditionen und Gewohnheiten, Antworten auf diese Herausforderung enthalten.

Sie haben sicher den Diskurs vor Augen, der im Moment in Verbindung mit der russischen Kultur meistens geführt wird: dass sie imperial ist, eine Sklavenmentalität herangezüchtet und genährt hat usw. …

Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch des Imperiums ist ein guter Moment dafür. Erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein, das tut sie nicht. Dasselbe gilt auch für [das Werk eines] konkreten Autors. Kann man bei einem konkreten Autor imperiale Ideen finden? Man kann und man sollte. Aber muss man ihn deswegen im Ganzen verschmähen oder gutheißen? Man muss diese Person ja nicht mit all ihren Fehlern heiraten.

Kultur entwickelt sich weiter, indem sie sich selbst verarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber Kritik darf keine Selbstverleugnung sein. Dann weißt du ja schlichtweg nicht mehr, wer du bist und was du kritisierst: Wenn man sich selbst verleugnet, von welchem Standpunkt aus übt man dann Kritik? Eine Kultur kann nicht ausschließlich imperial sein, sonst gäbe es auch keine Imperialismuskritik – es muss ja etwas vorhanden sein, was diese Kritik hervorbringt.

Die Kultur schafft selbst die Standpunkte für Selbstkritik. Daran ist nichts demütigend, es ist kein Problem, sie [die imperialen Ideen] in der russischen Kultur aufzuspüren, sie herauszustellen und zu analysieren, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen. Nein, sie erschöpft sich nicht darin. Genauso wie sich die deutsche Kultur nicht im deutschen Imperialismus erschöpft oder die britische Kultur im britischen.

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Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von Ruth Altenhofer und Jennie Seitz

Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter https://meduza.io/feature/2023/02/24/imperskaya-formula-prinyata-ofitsialno-rossiya-nigde-ne-zakanchivaetsya, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder in zwei Teilen unter https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-judin-ziel-putin-analyse und https://www.dekoder.org/de/article/judin-putin-ukraine-verhandlungen-angst-kultur.

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder, Meduza, Grigori Judin und Margarita Ljutowa für die Erlaubnis zum Nachdruck.

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Analyse

Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine?

Von Svetlana Erpyleva, Oleg Zhuravlev
Auf der Grundlage von qualitativen Längsschnittdaten (Interviews mit Russ:innen aus dem Frühjahr und Herbst 2022) befassen sich die Verfasser:innen mit der Frage, wie sich die Wahrnehmung des Krieges durch gewöhnliche Russ:innen, die nicht eindeutige Gegner:innen des russischen Einmarschs in die Ukraine sind, im Laufe der Zeit verändert. Einerseits ändert sich die Wahrnehmung des Krieges nicht radikal (aus Befürworter:innen werden nicht Gegner:innen und umgekehrt). Andererseits ist die Wahrnehmung nicht stabil und im Wandel begriffen. Diese beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Tendenzen sind Bestandteile ein und desselben Phänomens, nämlich einer »erzwungenen« und raschen Politisierung eines zuvor apolitischen Teils der russischen Gesellschaft.
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