Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine

Von Tatiana Golova, Tsypylma Darieva (beide Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, ZOiS, Berlin)

Zusammenfassung
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat zu einer neuen Auswanderungswelle aus Russland geführt. Auf der Grundlage qualitativer Forschung in Deutschland und in Georgien gehen wir der Frage nach, inwiefern sich regimekritische Migrant:innen politisch und zivilgesellschaftlich engagieren. Der Aktivismus kann unterschiedliche Formen annehmen. Er lässt sich nicht darauf reduzieren, lediglich aus den Aufnahmegesellschaften nach Russland hineinzuwirken. Unsere Forschung zeigt, dass sich das Engagement transnational gestaltet und sich an verschiedene Zielpublika richtet. Die Zielgruppen überlappen sich bisweilen und sind stark von dem konkreten Kontext in der jeweiligen Aufnahmegesellschaft geprägt.

Neue Gemeinschaften von Migrant:innen entstehen

Russlands großflächige Invasion in die Ukraine hat zu humanitären, wirtschaftlichen und politischen Krisen geführt, die Millionen Ukrainer:innen dazu zwangen, ihr Land zu verlassen. Der Angriffskrieg und die damit verbundenen autoritären Entwicklungen lösten dabei noch eine weitere Migrationsbewegung aus: Nach dem 24. Februar 2022 und im Zuge der im September 2022 angekündigten Mobilmachung verließen Hunderttausende russische Bürger:innen ihre Heimat. Die populärsten (Erst-)Aufnahmeländer für russische Staatsangehörige waren vor allem visafreie Länder wie die Türkei, Armenien, Georgien und die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan (https://euaa.europa.eu/publications/country-intelligence-report-russia-country-origin). Während mit Georgien ein wichtiges visafreies Land in unsere Studie aufgenommen wurde, lässt sich keine Massenmigration russischer Staatsbürger:innen nach Deutschland feststellen. Gerade für politisch Aktive wurden allerdings neue Einreisemöglichkeiten ermöglicht.

Im Laufe der Zeit bildeten sich neue Gemeinschaften von Migrant:innen aus Russland. Dabei haben sich zahlreiche Antikriegs- und zivilgesellschaftliche Initiativen entwickelt. Aus Online-Umfragen ist inzwischen bekannt, dass zumindest ein bedeutender Anteil der neuen Migrant:innen nicht nur urbane, gut gebildete und vergleichsweise bessergestellte russische Staatsbürger:innen sind. Sie sind ebenfalls politisch interessierte und gesellschaftlich engagierte Menschen. Nach Ergebnissen von Umfragen (OutRush 2022, siehe auch zur Methode der OutRush-Befragungen: https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/430/befragungen-von-emigrant-innen-herausforderungen-und-moeglichkeiten/) waren 55 Prozent der Befragten politischem Druck ausgesetzt, bevor sie Russland verlassen haben. Die meisten Befragten nannten psychologischen Druck, zehn Prozent wurden bei Protesten und Kundgebungen festgenommen, und drei Prozent waren einer polizeilichen Hausdurchsuchung ausgesetzt. Gleichzeitig gaben 45 Prozent der Respondent:innen an, in Russland keinem politischen Druck ausgesetzt gewesen zu sein. Die Mehrzahl war wiederum zivilgesellschaftlich und politisch aktiv (80 Prozent). Dabei gaben 90 Prozent der Befragten an, großes Interesse an russischer Innenpolitik zu haben. Etwa 70 Prozent der Befragten spendeten Geld an unabhängige NGOs und oppositionelle Medien, was als wichtige Form gesellschaftlichen Engagements gilt.

In unserem laufenden Pilotprojekt am ZOiS (https://www.zois-berlin.de/forschung/forschungsschwerpunkte/migration-und-diversitaet/politische-migration-aus-russland-und-aserbaidschan) gehen wir der Frage nach, inwiefern sich Migrant:innen der jüngsten und früherer Auswanderungswellen aus Russland politisch engagieren. Wir führen qualitative Interviews mit jenen Migrant:innen verschiedener Auswanderungswellen durch, die noch vor ihrer Emigration und/oder danach politisch und sozial aktiv waren. Außerdem analysieren wir soziale Medien und führen teilnehmende Beobachtungen in Deutschland und Georgien durch. Diese beiden Länder sind für politisch engagierte Emigrant:innen attraktiv und haben sich zu bedeutenden Orten für neue Initiativen und Organisationsstrukturen entwickelt.

Mit Russlands Invasion in die Ukraine hat sich die Ausrichtung des prodemokratischen Aktivismus verschoben. Nun steht die Antikriegsbewegung im Vordergrund, federführend sind dabei feministische, dekoloniale, prodemokratische und Menschenrechtsinitiativen. Sie haben unmittelbaren Bezug zum Krieg und zu seinen Auswirkungen. So sind auch Netzwerke entstanden, die humanitäre Hilfe für Ukrainer:innen und/oder Unterstützung für Verfolgte oder andere Neuankömmlinge aus Russland leisten.

Der politisch motivierte Aktivismus außerhalb von Russland hat verschiedene Formen, Kanäle und Themenbereiche, aber auch Zielgruppen. Viele Beobachter:innen und Aktivist:innen bewegt die Frage, inwiefern Aktivist:innen Russland von außen beeinflussen können. Denn sie konnten den Krieg schon »von innen« nicht verhindern, als sie sich noch im Land befanden. Die Forschung zu anderen Migrant:innengruppen und über die politische Migration aus Russland hat gezeigt, dass politisches Handeln von Migrant:innen nicht mit der einfachen Formel »vom Aufnahmeland in das Heimatland hinein« beschrieben werden kann. Die Migrant:innen behalten ihr Herkunftsland genau im Blick. Gleichzeitig adressieren sie aber auch weitere Zielpublika in anderen Ländern und Kontexten, ihr Handeln ist somit am besten als transnational zu beschreiben. Es richtet sich an: die Zivilgesellschaft, die breite Bevölkerung und weitere Akteur:innen in Russland; russische Migrant:innen und ihre Netzwerke in Aufnahmeländern; verschiedene Akteure im Aufnahmeland wie Medien, staatliche und politische Institutionen; Ukrainer:innen, die ihr Land verlassen haben oder noch im Land sind; sowie transnationale Öffentlichkeiten und internationale Organisationen. Initiativen und einzelne Aktivist:innen können diese Zielgruppen bei ein und derselben Aktivität durch unterschiedliche Kommunikationskanäle gleichzeitig ansprechen. Diese Überlappungen machen es allerdings notwendig, dass Aktivist:innen Praktiken und Symbole gemeinsam aushandeln, und das birgt mitunter Konfliktpotential.

Zielgruppen in Russland

Quantitative Umfrageergebnisse zeigen, dass sich über 40 Prozent der Migrant:innen für die politischen Ereignisse in Russland verantwortlich fühlen. Vielen Emigrant:innen ist es wichtig, ihre sozialen Kontakte zu jenen Familienangehörigen, ehemaligen Kolleg:innen und Aktivist:innen aufrechtzuerhalten, die in Russland geblieben sind. Laut Umfragen des Projekts OutRush (outrush.io/report_march_2022) und von Krawatzek, DeSisto und Soroka im Südkaukasus (https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-report/russians-in-the-south-caucasus-political-attitudes-and-the-war-in-ukraine) kommunizieren mehr als die Hälfte der Befragten jeden Tag oder zumindest mehrmals in der Woche mit ihrer Heimat. Auch politisch engagierten Migrant:innen ist es wichtig, die Kontakte zum Heimatland aufrechtzuerhalten. Nach der Emigration stellen sie über soziale Medien und persönliche Netzwerke ihre Kommunikationskanäle schnell wieder her und nutzen diese Kanäle zum Teil auch, um über politische Themen zu sprechen.

Dabei lassen sich zwei Schwerpunkte in Georgien und Deutschland erkennen: Zum einen verbreiten die Aktivist:innen unabhängige und alternative Informationen über den Krieg in der Ukraine. Zum anderen unterstützen sie die in Russland verbliebene Zivilgesellschaft nach Kräften. Unter anderem sammeln und verbreiten sie Informationen über Kriegsverbrechen, Korruption, regionale Ungleichheiten in Russland und über die Lage der Geflüchteten und Zwangsumgesiedelten aus der Ukraine.

In Tbilisi wehren sich politisch engagierte Migrant:innen gegen die russische Propaganda, sie bringen ihre Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck und bieten ukrainischen Geflüchteten Hilfe an. Des Weiteren leisten sie rechtliche, psychologische und finanzielle Unterstützung für diejenigen, die aus politischen Gründen Russland verlassen wollen bzw. müssen. Und sie unterstützen politische Gefangene, Frauen-, LGBTQ+ und andere soziale Bewegungen. So bemühen sich Mitglieder der Stiftung Freies Russland (Free Russia Foundation) in Tbilisi, langfristige Strategien gegen die russische Staatspropaganda zu entwickeln, indem sie kostenlose Online-Schulungen für die Professionalisierung von Graswurzel-Initiativen und einzelnen Aktivist:innen anbieten.

Die Feminist Anti-war Resistance (FAS) ist eine solche Organisation, die verschiedene Zielgruppen in Russland im transnationalen Kontext anspricht. Die FAS positioniert sich als eine dezentralisierte und horizontale Bewegung, die sich Russlands Krieg gegen die Ukraine widersetzt. Die FAS stellt professionelle Hilfe und Ressourcen in Bezug auf Rechtsfragen und psychologische Hilfe für jene bereit, die in Russland politisch unterdrückt werden. Mit fast 40.000 Follower:innen bietet der Telegram-Kanal der FAS eine Plattform für kritische Stimmen gegen staatliche Propaganda und für die Frauenprotestbewegungen in Russland. Bemerkenswert ist dabei die Organisationsform, die aus zahlreichen autonomen kleinen »Zellen« besteht. Als eine spontane Initiative feministischer Netzwerke gegen den Krieg wurde die FAS im Februar 2022 mit der Veröffentlichung ihres Manifests gegründet und ist sowohl transnational als auch in verschiedenen Regionen Russlands vernetzt. Viele Zellen sind über die Tätigkeiten anderer Zellen gut informiert und tauschen sich regelmäßig aus. Trotzdem bleiben sie autonom und treffen Entscheidungen selbstständig auf lokaler Ebene. Die FAS gibt seit Mai 2022 die Samisdat-Zeitung Shenskaja Prawda (Frauenwahrheit) heraus, die Aktivist:innen und Freiwillige in den russischen Regionen in gedruckter Form verteilen. Mit dieser Zeitung begegnet die FAS der verschärften Kriegszensur und möchte insbesondere Frauen erreichen, die sich nicht für Politik interessieren. Die Aktivist:innen legen dabei keinen Wert auf Koordination »von oben«, dafür setzen sie auf Transparenz und offene Kommunikation. Dank der agilen Mobilisierung im Exil und der Arbeitsteilung zwischen den Aktivist:innen in Russland und im vergleichsweise sicheren Ausland entfaltet die FAS große Reichweite.

Russische Migrant:innen

Russische Aktivist:innen nutzen auch indirekte Kanäle für ihr politisches Engagement. Sie wenden sich dabei an Emigrant:innen, »Relokant:innen« und »Expats« der jüngsten Auswanderungswelle, aber auch an Vertreter:innen früherer Wellen postsowjetischer Migration und die russischsprachigen Diasporagemeinschaften.

Politisch aktive Exilruss:innen in Georgien bemühen sich vor allem darum, die Kommunikation mit der Bevölkerung in Russland aufrechtzuerhalten. Zunehmend beschäftigen sie sich aber mit den Fragen, wie russische Migrant:innen im Ausland für politischen Aktivismus mobilisiert und dauerhafte Communities gebildet werden können. Insbesondere in der georgischen Hauptstadt Tbilisi und in Batumi bauen die Aktivist:innen soziale Anlaufstellen und russischsprachige Diskussionsplattformen für Neuankömmlinge auf. Sie verfolgen dabei das Ziel, der sozialen und politischen Isolation der Neuankömmlinge entgegenzuwirken und dabei demokratische Einstellungen und Praktiken des politischen Engagements bei jenen Migrant:innen zu verbreiten, die bisher eher apolitisch waren. Damit soll zugleich in der öffentlichen Wahrnehmung der Aufnahmeländer ein alternatives Bild von Russ:innen geprägt werden, die sich gegen den Krieg engagieren. Solche informellen sozialen Räume, in denen praktische Hilfestellung geleistet wird, sind wichtig, weil sie als Begegnungsräume das gegenseitige Vertrauen zwischen verschiedenen Segmenten der Migrant:innen stärken. Die meisten Migrant:innen der jüngsten Welle machen im Alltag in Georgien ähnliche Erfahrungen. Allerdings ist nur eine Minderheit politisch aktiv und beteiligt sich an gemeinschaftlichen öffentlichen Protestaktionen in Tbilisi oder Batumi. Freiwillige engagieren sich in Georgien vor allem in der humanitären Hilfe für ukrainische Geflüchtete und bei lokalen Umweltaktionen. Die Aktivist:innen zielen insgesamt darauf ab, an ihren Zufluchtsorten neue Mitstreiter:innen zu gewinnen, um sich gemeinsam gegenüber dem Kremlregime sichtbarer zu positionieren. Einige Aktivist:innen verfügen dabei über langjährige Erfahrungen, Kompetenzen und die notwendigen Netzwerke, um das zivile und politische Engagement in den Aufnahmegesellschaften zu stärken.

Beispiele hierfür sind die Free Russia Foundation (www.4freerussia.org/free-russia-foundation-opens-office-in-tbilisi-georgia/) und auch Kowtscheg (kovcheg.live) in Tbilisi, die Notunterkünfte (sogenannte shelter) bereitstellen und Hilfestellung für Andersdenkende und politisch verfolgte Journalist:innen aus Russland leisten. Die Initiativen bieten Räumlichkeiten vor Ort wie auch im Internet an, in denen Know-how ausgetauscht und Protestaktionen in Georgien koordiniert und an die Öffentlichkeit kommuniziert werden können.

Das Ausmaß der kriegsbedingten Migration nach Deutschland bleibt weit hinter der Emigration nach Georgien und anderen Ländern zurück, in die russische Staatsbürger:innen ohne Visum einreisen können. Allerdings ist Deutschland von früheren Einwanderungswellen aus den Ländern des postsowjetischen Raums, auch aus Russland, geprägt. Dementsprechend spielen prodemokratische Initiativen und Gruppen, die schon früher von »alteingesessenen« Migrant:innen gegründet wurden, eine hervorgehobene Rolle. Ein Beispiel hierfür ist die Unterstützungskampagne für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj. Auch für diese Kohorte ist die Selbstorganisation und Mobilisierung weiterer Migrant:innen prägend. Allerdings nehmen die politisch aktiven Migrant:innen einige soziokulturelle Milieus als apolitisch beziehungsweise als »pro-Putin« wahr. Und in der Tat unterstützen manche postsowjetischen Migrant:innen mit ihren Aktivitäten die Politik des Kremls und den Krieg gegen die Ukraine. Dabei sind diese Aktivitäten nicht ausschließlich »von Russland aus gesteuert«, wie manchmal behauptet wird. Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Aktivist:innen verschiedener Generationen spiegelt sich hier auch in den Unterschieden zwischen den jeweiligen Migrationswellen wider. Graswurzelaktivist:innen und Exilpolitiker:innen haben bisweilen unterschiedliche Vorstellungen von den Ursachen des Krieges und welche Formen der Opposition in der Emigration angemessen sind.

Zielgruppen in den Aufnahmeländern

Das Verhältnis russischer migrantischer Aktivist:innen zu ihren potenziellen Zielpublika in den jeweiligen Aufnahmeländern variiert stark. Laut einer Umfrage des International Republican Institute stellt Russland für 90 Prozent der georgischen Bevölkerung eine Bedrohung dar. Gleichzeitig ist in der georgischen Bevölkerung die Solidarität mit der Ukraine bemerkenswert hoch. Die Erinnerung an den russisch-georgischen Krieg im August 2008, als Georgien die Kontrolle über Südossetien und Abchasien verlor, ist noch frisch und erschwert die Kommunikation und die Annäherung zwischen den Neuankömmlingen und der georgischen Gesellschaft. In Georgien löste die Migrationswelle aus Russland starke Emotionen aus, die Angst vor einer erneuten Konfrontation mit Russland war groß. Viele Georgier:innen sehen die neuen Migrant:innen mit russischen Pässen als Symbol für die Besatzungs- und Kolonialmacht Russland und machen kaum einen Unterschied zwischen den Zugewanderten und deren persönlichen Geschichten. Als der Zustrom im Sommer und insbesondere nach der sogenannten Teilmobilmachung im September 2022 anstieg, wurden Rufe nach der Einführung einer Visapflicht für die Einreise nach Georgien laut. Dies mag unter anderem daran liegen, dass politisch engagierte russische Migrant:innen bisher nur wenig Kontakt zur georgischen Gesellschaft und ihrer zivilgesellschaftlichen Organisationen aufgenommen haben. Dies könnte künftig den Spielraum ihres gesellschaftlichen Engagements einschränken.

Im Vergleich zu Georgien sprechen russische migrantische Initiativen in Deutschland ihre Zielpublika mit größerem Nachdruck an, und ihre Interaktionen mit zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren sind vielfältiger. Dies wird von verschiedenen Faktoren begünstigt: Allen voran von der vorherigen zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit und der institutionellen Unterstützung für die russische Zivilgesellschaft, wozu auch die Aktivist:innen im Exil zählen. Außerdem hat sich die Bundesregierung dazu bereit erklärt, Regimekritiker:innen aus Russland »humanitäre Visa« zu erteilen. Allerdings lässt die Umsetzung dieser Aufnahmeregelung bisher zu wünschen übrig. Mit dieser erklärten Bereitschaft ist auch eine Erwartungshaltung verbunden: Erstens sollen diese Regimekritiker:innen ihre Tätigkeit von Deutschland aus fortsetzen. Und zweitens sollen sie sich auch an »ältere« Gruppen postsowjetischer Einwanderer:innen wenden, um der (zum Teil realen, zum Teil vermeintlichen) Unterstützung für Putin entgegenzuwirken. Russische Aktivist:innen richten ihrerseits Erwartungen und Forderungen an die deutsche Politik: Einerseits soll sich Deutschland als internationaler »Big Player« konsequent vom russischen Staat distanzieren und die Ukraine unterstützen. Andererseits schätzen russische Regimekritiker:innen die Versammlungsfreiheit und bewerten die Möglichkeiten in Deutschland als günstig, um politisch aktiv zu handeln. Dieses Grundvertrauen in staatliche Institutionen wird gelegentlich von Konflikten gestört. So schränkten die Berliner Behörden bei dem Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. und 9. Mai 2022 in Berlin nicht nur die russische, sondern auch die ukrainische Symbolik stark ein. Hier kollidierte die Logik der Behörden, die auf den Schutz der öffentlichen Ordnung abzielte, mit der sichtbaren Unterstützung für die Ukraine, die unter anderem russische Antikriegsaktivist:innen von der Initiative Demokrati-Ja gefordert hatten. Tatsächlich wurde aber so die Symbolik des Aggressors Russland mit dem Opfer Ukraine gleichgestellt, was bei vielen Aktivist:innen Enttäuschung hervorrief.

Akteure der deutschen Friedensbewegung werden von russisch-migrantischen Antikriegsaktivist:innen distanziert betrachtet und nicht als potenzielle Kooperationspartner. So kritisierten russische Migrant:innen die Organisator:innen der Großdemonstrationen im Winter und Frühjahr 2022 dafür, dass diese die ukrainische Forderung »Close the sky« nicht übernommen und den Ukrainer:innen selbst nicht genug Sichtbarkeit gewährt hatten. Seitdem es keine Großdemonstrationen mehr gibt, gewinnen in der Friedensbewegung Akteure und Diskurse immer mehr an Bedeutung, die sich gegen die NATO richten und sich des Gedankenguts der Querfront bedienen; gleichzeitig fordern sie, dass sich Deutschland »heraushalten« solle und der Krieg sofort gestoppt werden müsse, ohne dabei den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine zu verlangen. Diese Diskurse weisen systematische Ähnlichkeiten mit der Rhetorik des Kremls auf, in der der Krieg als legitime Verteidigung von Russlands Interessen gegenüber der NATO gerechtfertigt wird. Migrantische Antikriegsaktivist:innen kritisieren dieses Framing scharf.

Die Aktivist:innen wenden sich bei bestimmten Anliegen gezielt an staatliche Institutionen in Deutschland. Besonders wichtig sind diese Kooperationen, wenn engagierte Personen und nichtstaatliche Initiativen russische Bürger:innen beraten und konkret dabei helfen, Russland zu verlassen und einen Aufenthalt in sicheren Ländern wie Deutschland zu bekommen. In erster Linie sind dies politische und zivilgesellschaftliche Aktivist:innen und andere Personen, die sich offen gegen das russische Regime und den Krieg gegen die Ukraine stellen und daher unmittelbar von politischer Verfolgung bedroht sind. Teilweise geht es auch darum, Personen, die sich schon in einem visafreien Land befinden, die legale Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Die Aktivist:innen sind unter anderem daran beteiligt, die Voraussetzungen für die Erteilung eines humanitären Visums nach Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes zu klären, indem sie bestimmte Fälle für die deutschen Behörden verifizieren. Sie bringen ihr Wissen über die Lage in Russland, ihre persönlichen Migrationserfahrungen und das soziale Kapital ihrer Kontakte ein, und fungieren somit als Vermittler:innen zwischen deutschen Netzwerken und Institutionen und jenen Akteuren, die sich noch in Russland befinden. Einige Akteure unterstützen dabei schon länger politisch Verfolgte bei der Ausreise, andere soziale Netzwerke haben sich erst kürzlich politisiert. Mehrere Aktivist:innen setzten sich bereits zu Beginn der Invasion gemeinsam mit anderen Akteuren wie transnational agierenden NGOs dafür ein, eine institutionalisierte Lösung für die Aufnahme von russischen Regimekritiker:innen zu schaffen. Dabei richtet sich das Handeln der Aktivist:innen an unterschiedliche Zielgruppen: Sie verbreiten Informationen über das recht neue Verfahren zur Erteilung humanitärer Visa und vergleichbare Aufnahmemöglichkeiten nicht nur an russische Aktivist:innen, sondern auch an deutsche und europäische Politiker:innen und Migrationsexpert:innen.

Ukrainer:innen als Zielgruppe

Einige Projekte in Georgien helfen ukrainischen Geflüchteten, sich vor Ort einzuleben. Dazu gehören ukrainische Bürger:innen aus der Ostukraine, die aus besetzten Gebieten nach Russland deportiert wurden oder gezwungen waren, nach Russland zu flüchten, weil dies für viele die einzige Möglichkeit war, dem Krieg zu entkommen. So, wurde im März 2022 in Tbilisi die Freiwilligeninitiative »Emigration for Action« gegründet, die Sammelaktionen und regelmäßige Spendenveranstaltungen organisiert. Die Spenden werden hauptsächlich für den Kauf von Medikamenten für ukrainische Geflüchtete in Georgien verwendet. Wie viele andere Freiwilligeninitiativen (»Volunteers Tbilisi«, »Foundation Motskhaleba«, »Choose to Help«, »Reforum«) ist dieses Projekt für die humanitäre Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine erst nach der Emigration aus Russland entstanden. Mehr als 270 russische Freiwillige beteiligen sich an der humanitären Hilfsorganisation von »Emigration for Action«. Georgien hat bisher etwa 60.000 ukrainische Geflüchtete aufgenommen, die vorwiegend aus der Ostukraine und den von Russland besetzten Territorien stammen. Allerdings bietet Georgien keinen Flüchtlingsstatus mit den dazugehörigen Versorgungsprogrammen. Geflüchtete Ukrainer:innen bekommen in Georgien eine moderate finanzielle Unterstützung, die eine kostenlose Unterkunft in Hotels (bis August 2022) beinhaltete. Es stehen dabei keine Notunterkünfte, medizinische oder psychologische Versorgung zur Verfügung. Deswegen bemühen sich russische Aktivist:innen, in Kooperation mit den lokalen Freiwilligen Abhilfe zu schaffen.

In Deutschland arbeiten russische Migrant:innen mit ukrainischen und anderen postsowjetischen Migrant:innen sowie mit Menschen ohne Migrationshintergrund intensiv zusammen, um humanitäre Hilfe für Ukrainer:innen zu leisten, die sich sowohl an Menschen richtet, die in der Ukraine verblieben sind als auch an Geflüchtete, die nach Deutschland eingereist sind. Bei dieser Zusammenarbeit nehmen Migrant:innen aus der Ukraine, die schon länger in Deutschland leben und inzwischen gut integriert sind (hierzu gehören auch Vertreter:innen der deutschen Minderheit aus der Ukraine), eine besondere Rolle ein. Sie sind hochmotiviert, verfügen über die nötigen Ressourcen und über transnationale Netzwerke. Der Krieg hat dabei die politische und identitäre Ausdifferenzierung »postsowjetischer Migrant:innen« in Deutschland beschleunigt, es haben sich Diasporagemeinschaften gebildet, die sich deutlicher voneinander unterscheiden. Einige Gemeinschaften beteiligen sich an der humanitären und politischen Unterstützung für die Ukraine. Andere wiederum bringen in sozialen Medien oder bei öffentlichen Versammlungen ihre Unterstützung für Putins Russland zum Ausdruck.

Die Antikriegsinitiativen von Migrant:innen, die sich als russisch und prodemokratisch identifizieren, stehen vor einer Herausforderung, wenn sie sich gleichzeitig an verschiedene Zielgruppen richten. Einerseits ist es diesen Aktivist:innen wichtig, sich als Menschen aus Russland zu positionieren, die gegen das Regime sind, um andere Migrant:innen aus Russland (auch transnational) zu mobilisieren, um Solidarität mit Gleichgesinnten in Russland zu zeigen und um international sichtbar zu machen, dass es Russ:innen gibt, die gegen den Krieg sind. Andererseits lehnen einige ukrainische Diaspora-Initiativen die Zusammenarbeit mit Akteuren, die sich öffentlich als russisch positionieren (zum Beispiel durch Nutzung der »blau-weiß-blauen« Flagge der russischen Antikriegsbewegung bzw. des zukünftigen freien Russlands) angesichts des brutalen russischen Krieges gegen die Ukraine und der systematischen Kriegsverbrechen der russischen Armee ab. Dabei bleibt die humanitäre Hilfeleistung noch ziemlich unstrittig.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass politische Netzwerke von Migrant:innen vielfältige Zielpublika in transnationalen Kontexten direkt oder indirekt ansprechen, dass die Kommunikation auf verschiedenen Wegen erfolgt und dass die Zielgruppen sich bisweilen überschneiden, woraus sich sowohl Spannungen als auch Kooperationspotenziale ergeben. Politisch aktive Migrant:innen stehen vor der Herausforderung, Menschen in Russland zu erreichen und die Kontakte mit den dortigen Aktivist:innen effizient zu pflegen, ohne sie darüber hinaus staatlichen Repressalien auszusetzen. Eine weitere große Herausforderung ist es, die Initiativen in den jeweiligen Aufnahmegesellschaften zu bündeln und das Engagement auch der internationalen Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Sie verfolgen dabei die Absicht, auch breitere Gruppen von Migrant:innen in Deutschland und in Georgien zu erreichen. In beiden Ländern besteht die Gefahr, dass aktivistische Andersdenkende sich überwiegend mit Gleichgesinnten austauschen und unter sich bleiben, ohne dass der politische Aktivismus auf weitere Migrant:innen und auf die breite Öffentlichkeit ausstrahlt. Dieser Echokammereffekt schwächt die soziale und politische Partizipation russischer Migrant:innen in den Aufnahmegesellschaften ab. Vor allem in Deutschland mit seiner vielfältigen postsowjetischen Einwanderungsgeschichte kommen noch interne Differenzen unter den Migrant:innen hinzu. Es machen sich soziale und ethnische Unterschiede bemerkbar, aber auch die Kluft zwischen den Generationen und Personen mit unterschiedlichen Migrationserfahrungen. Die Kooperation mit Teilen der »älteren« Communities beziehungsweise eine Annäherung an die lokale Zivilgesellschaft würden es jedoch erlauben, von deren kultureller und anderweitiger Integration zu profitieren und die Zielpublika in Aufnahmegesellschaften zu erweitern.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen


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