Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse

Einleitung von dekoder

Mehrere Tausende Söldner, mit Panzern und Artillerie ausgerüstet, besetzen die Millionenstadt Rostow am Don und marschieren gen Moskau. Die russische Regierung versucht, Straßen zu blockieren, und bereitet sich auf die Verteidigung der Hauptstadt vor. Doch der Aufstand ist nur von kurzer Dauer. Umso weitreichender aber sind die Folgen. dekoder bringt eine Chronologie der Ereignisse und Hintergründe zum Militär-Aufstand der Wagner-Truppen am 23. und 24. Juni.

Seit Anfang Februar 2023 schwelt ein Konflikt zwischen dem Wagner-Boss Prigoshin und dem russischen Verteidigungs­ministerium: Es geht, zumindest oberflächlich betrachtet, um ausbleibende Waffen- und Munitionslieferungen für die Wagner-Söldner, die für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden, die in Bachmut kämpfen und offensichtlich große Verluste erleiden. Immer öfter und immer lauter meldet sich Prigoshin zu Wort, Verteidigungs­minister Sergej Schoigu und den Chef des Generalstabs Gerassimow greift er persönlich aufs Schärfste an.

Ende Mai ziehen sich die Wagner-Leute sogar aus Bachmut zurück. Die russische Führung versucht, Wagner und andere Privatarmeen an die Kette zu legen und dazu zu drängen, Verträge mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen. Prigoshin weigert sich. Am 23. Juni nennt er den russischen Krieg gegen die Ukraine »ungerechtfertigt«. Der Konflikt eskaliert.

Raketenangriff auf Wagner-Camp?

Am 23. Juni um 21:09 Uhr veröffentlicht Prigoshin in seinem offiziellen Telegram-Kanal eine Audio-Botschaft, in der er das russische Verteidigungsministerium beschuldigt, Truppenlager von TschWK Wagner mit Raketen anzugreifen. In seinem aggressiven Duktus sagt er:

»Eine große Menge unserer Kämpfer, unserer Kampfgenossen wurde getötet. Wir werden eine Entscheidung treffen, wie wir auf diese Übeltat antworten werden. Den nächsten Schritt machen wir.«

Pressestelle von Jewgeni Prigoshin, 23. Juni 2023, 21:09

Es gibt sonst kaum Beweise für diesen Angriff, abgesehen von einer Reihe von kurzen Videos, die in Telegram-Kanälen von Prigoshin selbst veröffentlicht wurden. Journalisten von Meduza weisen darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um eine Inszenierung handelt.

Prigoshins Marsch der Gerechtigkeit

Dieser ersten Audio-Botschaft folgen in kurzen Abständen weitere Audio-Botschaften, in denen Prigoshin schließlich einen »Marsch der Gerechtigkeit« ankündigt:

»Wir sind 25.000 Mann, und wir werden herausfinden, warum in diesem Land Willkür herrscht. 25.000 warten als taktische Reserve, und die strategische Reserve – das ist die gesamte Armee und das ganze Land … Alle, die wollen – schließt euch an! Wir müssen diesem Spuk ein Ende setzen […] Alle, die Widerstand leisten … Wir werden davon ausgehen, dass das eine Bedrohung ist und werden sie sofort zunichte machen. Inklusive aller Checkpoints auf unserem Weg … Ich bitte alle, Ruhe zu bewahren, sich nicht provozieren zu lassen, in den Häusern zu bleiben. Nach Möglichkeit verlassen sie entlang unserer Route nicht ihre Häuser.«

Pressestelle von Jewgeni Prigoshin, 23. Juni um 21:25 Uhr

Wagner-Truppen besetzen Rostow am Don

In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni ziehen die Wagner-Söldner mit schwerer Militärtechnik in die Stadt Rostow am Don ein und besetzen administrative Gebäude, Militärobjekte und nach eigenen Angaben den Flughafen. Außerdem besetzen sie das Hauptquartier des Südlichen Militärbezirks. In einem Video, das auf dem Territorium des Hauptquartiers gedreht wird, sagt Prigoshin im Gespräch mit dem stellvertretendem Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow und dem stellvertretenden Leiter des Generalstabs Wladimir Alexejew:

»Wir sind hierher gekommen und möchten den Chef des Generalstabs (Waleri Gerassimow) und (Verteidigungsminister) Schoigu ausgehändigt bekommen. Solange wir die nicht haben, werden wir hierbleiben, die Stadt Rostow besetzen und weiter nach Moskau ziehen.«

Jewgeni Prigoshin in einer Videobotschaft am Morgen des 24. Juni

Im Laufe des Tages berichten Medien und Blogger über die Bewegung der Wagner-Truppen Richtung Moskau. Von der Oblast Rostow rücken sie in die Oblast Woronesh und Lipezk ein und ziehen weiter nach Norden.

»Die Söldner waren in zwei Gruppen aufgeteilt, die an zwei Stellen die Grenze auf russisches Staatsgebiet und in annektierte Regionen überquerten. Die erste Gruppe zog gegen Mitternacht über den Grenzübergang Nowoschachtinsk in die Oblast Rostow ein, erreichte die Autobahn M 4 und kam auf diesem Weg gegen Morgen nach Rostow […]. Die zweite Gruppe übertrat die Grenze ungefähr 120 km nördlich der ersten am Grenzübergang Woloschino. Von dort aus zogen die Söldner bis in die Stadt Millerowo und bogen auf die M 4, um sich von dort aus Richtung Moskau zu bewegen.«

Verstka

Es wird über einzelne Zusammenstöße mit der russischen Armee berichtet, sowie über Explosionen und Feuer, z. B. in der Stadt Woronesh:

»Augenzeugen berichten von einem Hubschrauberangriff am südlichen Stadtrand in der Nähe des Einkaufszentrums Dein Zuhause. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich das größte Öllager der Region. Dort bemerken Einwohner am Morgen Kämpfer der Wagner-Gruppe, die an einer Kreuzung zwischen der Don-Autobahn und der Straße, die direkt in das Wohngebiet Lewobereshny führt, Stellung beziehen.«

Verstka

Es wird auch berichtet, dass Wagner-Truppen einen Kampfjet und mehrere Kampfhubschrauber abschießen, die die Militärkolonnen angeblich aus der Luft beschossen haben.

Abgesehen von diesen Fällen und einigen lokalen Kämpfen stoßen die Wagner-Truppen auf keinen nennenswerten Widerstand. Meduza fasst den Vormarsch wie folgt zusammen:

»Im Endeffekt sind die Einheiten […] unterwegs auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen. Russische Truppen tauchten auf dem Weg der Kolonnen der TschWK nicht auf: Der Großteil der fest in den Oblast Rostow, Woronesh und Lipezk stationierten [russischen] Truppen befindet sich derzeit in der Ukraine. Alle nicht von Truppen geschützten Barrikaden aus Lastwagen, konnten von den Söldnern leicht überwunden werden.«

Meduza

Panik in der russischen Elite

Die Ereignisse der Nacht auf den 24. Juni und des darauffolgenden Tages sorgen für heftige Reaktionen im Kreml, bei russischen Politikern und beim Militär. Bereits in der Nacht auf den 24. Juni werden Videos von hochrangigen Militärangehörigen veröffentlicht, darunter von General Surowikin und General Alexejew, die von einem Putsch sprechen:

»Was auch immer Ihre Absicht ist – es ist ein Hieb in den Rücken des Landes und des Präsidenten. Nur der Präsident hat das Recht, den höchsten Stab der Streitkräfte einzuberufen. Und Sie versuchen da, seine Macht anzugreifen. Das ist eine Staatsrevolte. Ich bitte Sie, kommen Sie zur Vernunft. Denn ein größerer Schaden für das Image Russlands ist nicht denkbar. Eine derartige Provokation kann nur von Feinden der Russischen Föderation ausgehen.«

General Alexejew in einer Videobotschaft an die Wagner-Söldner

Die Lage wird immer ernster und gegen 10 Uhr wendet sich auch der russische Präsident Putin mit einer Video-Botschaft an die Bevölkerung:

»Russland führt heute den härtesten Kampf für seine Zukunft, es wehrt die Aggression der Neonazis und ihrer Herren ab. Praktisch die gesamte militärische, wirtschaftliche und mediale Maschine im Westen ist gegen uns gerichtet. Wir kämpfen um das Leben und die Sicherheit unserer Leute, für unsere Souveränität und Unabhängigkeit. Für das Recht, Russland sein und bleiben zu können – ein Staat mit einer tausendjährigen Geschichte.

Diese Schlacht, die das Schicksal unseres Volkes entscheidet, verlangt die Bündelung aller Kräfte, Einigkeit, Konsolidierung und Verantwortung. […] Darum sind Taten, die unsere Einheit spalten, im Grunde eine Abkehr vom eigenen Volk, von den Kampfgenossen, die aktuell an der Front im Einsatz sind. Das ist ein Hieb in den Rücken unseres Landes und Volkes.

[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt. […] Das ist ein Schlag gegen Russland, gegen unser Volk. Unsere Maßnahmen zum Schutz unseres Vaterlandes vor dieser Bedrohung werden hart sein. Wer sich bewusst auf den Pfad des Verrates begeben hat, wer einen bewaffneten Aufstand vorbereitet hat, wer sich auf den Pfad der Erpressung und der terroristischen Methoden begeben hat, wird unweigerlich bestraft, wird sich vor dem Gesetz und vor unserem Volk zu verantworten haben.«

Wladimir Putin

Das Online-Medium iStories berichtet mit dem Hinweis auf die Daten von FlightRadar, dass Putins Flugzeug um 14.16 Uhr aus Moskau Richtung Sankt Petersburg abhebt:

»Die Präsidentenmaschine IL96-300PU von Wladimir Putin ist in Moskau um 14:16 Uhr Ortszeit Richtung Petersburg gestartet, wie aus den Daten von FlightRadar hervorgeht. Der Zielort ist nicht angegeben. In der Nähe von Twer ist die Maschine aus dem Tracking-System verschwunden. In der Oblast Twer befindet sich eine von Putins Residenzen. Das Flugzeug verfügt über eine Ausrüstung, sodass es Kommandozentrale der Streitkräfte genutzt werden kann.«

iStories

Auch weitere Vertreter der Regierung sowie von Wirtschaft und Oligarchie haben möglicherweise Moskau oder gar Russland verlassen. iStories hat Informationen über Flüge der russischen Elite gesammelt. Der Pressesprecher des Präsidenten behauptete, Putin sei die ganze Zeit in Moskau geblieben.

Der Aufstand in den Staatsmedien

Die russischen Staatsmedien versuchen im Laufe des Tages einen Spagat: Einerseits betonen sie die Ernsthaftigkeit der Lage, andererseits signalisieren sie, dass alles unter Kontrolle sei. So berichtet der Korrespondent von RIA Nowosti am Morgen:

»Die Situation in Rostow am Don ist angespannt, aber insgesamt ruhig.«

RIA Nowosti

Die Züge fahren, so RIA Nowosti, nach Plan, Notdienste, Post, Versorgungsbetriebe funktionieren ordnungsgemäß, an manchen Orten werden Großveranstaltungen abgesagt oder es gibt Empfehlungen, die Häuser nicht ohne dringliche Notwendigkeit zu verlassen. RIA Nowosti veröffentlicht am laufenden Band Statements von Politikern, Militärangehörigen und Geistlichen, die ihre Unterstützung für Putin artikulieren und die Bevölkerung sowie Armeeangehörige auffordern, sich hinter dem Präsidenten zu stellen:

»Wir haben einen Oberbefehlshaber. Nicht zwei, nicht drei. Einen. Und er hat dazu aufgerufen, dass alle eine Einheit bilden. Das ist jetzt das Wichtigste […] Wenn wir jetzt nicht geschlossen dastehen, wenn jeder sich und seine eigene Einschätzung der Situation in den Vordergrund stellt, wird nichts mehr wichtig sein. Nur die Einigkeit. Einigkeit unter dem Banner des Oberbefehlshabers. […] Wir alle werden gerade in Versuchung gebracht, geprüft, wie standhaft wir sind. Gebt nicht nach! Zusammen mit dem Präsidenten! Gott schütze uns!«

Pressesprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa, 24. Juni um 11:11 Uhr

Ein Putschversuch

Analysten von unabhängigen Medien und aus dem liberalen Lager sehen in Prigoshins Aufstand ein Ereignis, das alles im politischen Lebens des Landes verändern wird. Der Politikwissenschaftler Alexander Baunow bewertet den Aufstand auf Carnegie Politika als eine logische Fortsetzung des Angriffskrieges gegen die Ukraine und sagt gravierende Folgen für das Putin-Regime voraus:

»Abgeprallt an der ukrainischen Front ist der Krieg […] nun übergegangen in die Phase einer inneren bewaffneten Konfrontation, bei der es um ein Neuformieren Russlands geht, unter der Führung von Prigoshin. […] Egal ob sein Unterfangen Erfolg haben wird oder scheitert – die Nachfrage nach einer Neuformierung Russlands hat extreme Formen angenommen. Egal wie Prigoshins Auftritt ausgeht – nicht nur die gegenwärtige Form des Putin-Regimes kann er beenden, sondern mit ihm auch das gesamte Erbe des postsowjetischen Russlands.«

Alexander Baunow, Carnegie Politika

Regimegegner, oppositionelle Politiker und unabhängige Analysten beurteilen den Aufstand, als er läuft, sehr unterschiedlich. Putin-Gegner Michail Chodorkowski beispielsweise fordert auf Telegram die Menschen in Russland auf, Prigoshin zu unterstützen:

  1. Wir sehen nun, dass nur bewaffnete Menschen einer Diktatur trotzen können.
  2. Prigoshins Aufstand endet damit, dass entweder er oder Putin persönlich ausgeschaltet werden. Als Reaktion werden danach in jedem Fall die Schrauben angezogen.
  3. So gibt es aktuell ein kleines Fenster von Möglichkeiten, solange auf den Straßen Chaos herrscht und die Silowiki die Situation nicht unter Kontrolle haben.
  4. Sollten Sie die Kraft dazu haben, zu den bewaffneten Menschen zu werden, die einem Putin oder Prigoshin trotzen, ist es jetzt an der Zeit sich zu bewaffnen.
  5. Prigoshin ist nicht unser Freund und auch kein Verbündeter. Er ist ein Bandit und Kriegsverbrecher. Aber sein Aufstand ist eine einzigartige Chance – eine zweite wird so schnell nicht kommen.

Michail Chodorkowski, 24. Juni um 16:34 Uhr

Anti-Terror-Regime

Bereits in der Nacht auf den 24. Juni leitet der FSB ein Ermittlungs­verfahren ein – »aufgrund des Tatbestandes des Aufrufs zur bewaffneten Meuterei seitens Prigoshins«. In Moskau und den Gebieten Moskau und Woronesh wird ein »Regime von Antiterrormaßnahmen« eingeführt. Auf der Route nach Moskau schaufeln die Bagger Gräben in die Straßen, um den Vormarsch der Wagner-Truppen zu verlangsamen:

»So sieht die Zerstörung der Straßendecke in der Oblast Lipezk aus.«

Telegram-Kanal Ostoroshno, nowosti

»In der Nähe von Lipezk wird die Straße aufgerissen, sehr wahrscheinlich, um den Vormarsch der Wagner-Kolonne zu behindern.«

Telegram-Kanal Sota

Auch Moskau bereitet sich vor. Medien berichten über die Verminung von Brücken im Gebiet Moskau. Im Laufe des Vormittags werden in Moskau mehrere Kontrollpunkte eingerichtet, in der Stadt wird Militärtechnik zusammengezogen.

»Angehörige des Militärs bei der Rosgwardija gehen entlang der Kaschirskoje Chaussee in Position und erwarten die Ankunft der Wagner-Kolonnen in Moskau.«

Telegram-Kanal Eto Rostow!

Der Fotograf Dmitry Markov hält die Stimmung in der Stadt und in den Medien fest, mit dem russischen Wort Nadwigajetsja – Es ist im Anrollen. Kommentatoren aus unabhängigen Medien rechnen damit, dass die Wagner-Truppen in Moskau einmarschieren werden. Der Chefredakteur des Exil-Mediums Novaya Gazeta Europa Kirill Martynow vermutet, dass Prigoshin einen Plan hat, einige wichtige Objekte in der Hauptstadt unter Kontrolle zu bringen, vor allem das Gebäude des Verteidigungsministerium und das TV-Zentrum Ostankino, damit er der russischen politischen Elite seine Bedingungen diktieren kann. Nicht nur den Plan, sondern auch seinen Erfolg hält er für nicht unrealistisch, denn die Wagner-Söldner haben einen Vorteil im Vergleich zur regulären Streitkräften der russischen Armee:

»Alle Kämpfe in Städten werden Wagner überlassen, nicht nur, weil die Russische Föderation einfach keine ausgebildeten Polizei- und Armeeeinheiten hat, um Gruppen von vielen Tausend schwer bewaffneter Profis auf heimatlichem Boden inmitten von Zivilbevölkerung zu neutralisieren. Sondern auch, weil die Bereitschaft der russischen Sicherheitskräfte zu sterben sehr gering ist.«

Kirill Martynow, Novaya Gazeta Europe

Die Verhandlungen

So plötzlich der Aufstand am Abend des 23. Juni begonnen hatte, so plötzlich nimmt er in den Abendstunden des 24. Juni eine Wende. Die Pressestelle des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko verkündet, dass den ganzen Tag lang zwischen ihm und Jewgeni Prigoshin Verhandlungen gelaufen seien. Das Ergebnis: der Aufstand wird beendet und die Wagner-Söldner kehren in die Truppen-Camps zurück.

Laut Recherchen von Meduza war es Prigoshin selbst, der bereits am Samstagmittag Kontakt zum Kreml suchte. »Er hat versucht, Putin zu erreichen, aber der Präsident wollte nicht mit ihm reden.« Nach Angaben der Informanten des russischen Online-Mediums habe Prigoshin wohl verstanden, dass er »das Maß überschritten« habe und »die Aussichten für die Perspektiven seiner Militärkolonne nebulös« seien. Eine zentrale Rolle bei den letztlich erfolgreichen Vermittlungen wird Alexei Djumin, dem Gouverneur der Oblast Tula und engen Putin-Vertrauten, zugeschrieben. Am Ende des Tages war es aber ein anderer, der für die erfolgreichen Verhandlungen gewürdigt wurde: Alexander Lukaschenko. Wie kam es dazu?

Am 24. Juni um 19:07 Uhr vermeldete der Pressedienst Lukaschenkos, dass Putin den belarussischen Machthaber am Morgen über die Situation im Süden Russlands telefonisch informiert und dass man »gemeinsame Handlungsschritte« vereinbart habe. Im Anschluss soll Lukaschenko in Absprache mit Putin Gespräche mit dem Chef der Wagner-Gruppe geführt haben. »Die Verhandlungen dauerten den ganzen Tag über an.« Rund drei Stunden später äußerte sich auch der Kreml-Sprecher: Lukaschenkos Vermittlungs­bemühungen, so Dimitri Peskow, würden dazu dienen, ein Blutvergießen zu vermeiden. Es sei Lukaschenkos »persönlicher Initiativvorschlag«, mit Prigoshin zu verhandeln, er kenne Prigoshin seit über 20 Jahren. Obwohl Putin den Wagner-Chef noch am Morgen in seiner Ansprache der Meuterei eines »Hiebs in den Rücken« Russlands bezichtigt hatte, sollte Prigoshin laut Peskow nun Amnestie erhalten und »nach Weißrussland gehen«.

Hat Lukaschenko also bei den Vermittlungen die aktive Rolle gespielt, die ihm zugeschrieben wird? Der belarussische Analyst Artyom Shraibman ist der Meinung, dass seine Rolle eher technischer Natur gewesen sei:

»Er erfüllte seine Aufgaben, diente den Vereinbarungen der Vermittler, die für beide Seiten des Konflikts von größerem Gewicht sind – und die der Kreml nicht in das Licht der Öffentlichkeit rücken will.«

Artyom Shraibman: Lukaschenko – der lachende Dritte?

Was geschah in Belarus?

Wie später bekannt wird, hält Alexander Lukaschenko zwei Treffen im Laufe des Samstags mit den führenden Silowiki- und Militär­strukturen des Landes ab. Er versetzt das Militär in höchste Alarmbereitschaft.

Am Nachmittag, als sich die Wagner-Leute noch Richtung Moskau bewegen, meldet sich die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja zu Wort. Sie befürchtet, dass sich Lukaschenko als enger Verbündeter Putins in den Konflikt hineinziehen lassen könnte.

»Ich möchte die belarussischen Diplomaten, Militärs und Sicherheitsbeamten dringend bitten, daran zu denken, dass wir unsere eigenen nationalen Interessen haben. Putin und Prigoshin sind keine Freunde von Belarus. […] Jetzt ist die beste Chance, um das russische Militär aus unserem Land zu vertreiben. Und wenn wir diese Chance verpassen, wird Russland mit uns machen, was es mit der Ukraine gemacht hat.«

Swetlana Tichanowskaja

Schon länger wird in der belarussischen Opposition die Möglichkeit diskutiert, die Macht in Belarus mit militärischen Mitteln zu ergreifen. Denis Kid Prochorow, Kommandeur des Kalinouski-Regiments, das auf Seiten der Ukraine kämpft, droht in einer Videobotschaft den belarussischen Machthabern, den Kampf um die Macht in Belarus in dieser Situation mit Gewalt führen zu wollen:

»Wir haben eine große Reserve auf dem Territorium von Belarus, die aus aktiven Militärs, Reservisten und einfachen Bürgern besteht, die bereit sind, zu handeln und Belarus von Diktatur und Besatzung zu befreien.«

Denis Kid Prochorow, Kommandeur des Kalinouski-Regiments

Die Wagner-Truppen ziehen sich zurück und verlassen auch die Stadt Rostow am Don. In mehreren, u. a. von russischen Staatsmedien veröffentlichten Videos ist zu sehen, dass sie von vielen Schaulustigen wie »Helden« verabschiedet werden.

»Der Kaiser hat gar nichts an«

Der Aufstand war zwar nur von kurzer Dauer, doch wird er offensichtlich langfristige Folgen haben. Der Meduza-Kolumnist Maxim Trudoljubow meint, der Aufstand sei ein Glied in der Kette von Ereignissen, die deutlich machen, dass »der Kaiser gar nichts anhat«:

»Der aus diesem Spektakel entstandene ›TschWK-Aufstand‹ dürfte trotz seiner Kürze Putins Macht einen ernsthaften Schlag versetzen. Die Meuterei hat die Verwundbarkeit von Putins Machtsystem in seinem Kern – dem Gewaltapparat – gezeigt. Prigoshin hat soeben bewiesen, dass es in Russland möglich ist, eine Millionenstadt einzunehmen, ohne dass ein einziger Schuss fällt, um dann ohne Widerstand auf Moskau zuzumarschierenn. Das könnte bedeuten, dass viele Sicherheitsleute und Militärs zumindest die Militärführung nicht unterstützen und nicht bereit sind, für deren Befehle ihr Leben zu riskieren. Das Unentschieden, mit dem die Konfrontation endete, ändert an dieser Tatsache nichts.«

Maxim Trudoljubow, Meduza

Der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman sieht in dem Aufstand bzw. daran, wie er verlief und wahrgenommen wurde, einen deutlichen Indikator für eine tatsächlich ausgebliebene Unterstützung von Putin in der Bevölkerung. All das sei ein Szenario dafür, wie schnell Putin eines Tages seine Macht verlieren könnte:

»Einerseits können wir feststellen, dass trotz der hohen Umfragewerte in dieser Krisensituation niemand das Regime und seinen Leader proaktiv unterstützt hat (Erklärungen, die auf Diktat der Führung abgegeben und nachgesprochen wurden, zählen nicht). Andererseits findet sogar eine imaginäre Alternative zum derzeitigen Regime (was es auch immer für eine Alternative sein mag) sowohl auf den Straßen von Rostow als auch in Teilen der politisierten Öffentlichkeit Zustimmung. Mit anderen Worten: Die politische Unterstützung des Status quo ist äußerst fragil und kann im unpassendsten Moment zerbrechen. Und ja, es kommt vor, dass der Nutznießer einer solchen Entwicklung der Ereignisse jene Alternative ist, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort ins Blickfeld gerät.«

Wladimir Gelman auf Facebook

Übersetzung: dekoder-Redaktion.

Stand: 27.06.2023

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder für die Erlaubnis zum Nachdruck.

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Analyse

Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland

Von Sharon Werning Rivera
Es ist ohne Zweifel schwierig zu bewerten, wie sich Russlands Politik gegenüber der Ukraine verändern würde, nachdem Wladimir Putin sein Amt verließe. Eine Möglichkeit, sich dieser Frage anzunehmen, besteht darin, die Einstellung derjenigen zu untersuchen, die ihre Positionen wenige Stufen unter der Führungsspitze des Landes haben, also der Eliten. Sie bestehen aus Individuen an der Spitze ihrer jeweiligen Berufsgruppen, die in der Zukunft in der Lage sein könnten, in Regierungskreise vorzudringen. Die Analyse von Trends aus dem einzigartigen Datensatz »Survey of Russian Elites« zeigt, dass die Eliten eine nuancierte Kombination aus Präferenzen zu den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine betreffenden Fragen zeigen. Obwohl die allgemeine Zustimmung zum Einsatz des russischen Militärs außerhalb der Landesgrenzen auf dem Höchststand seit Jahrzehnten ist, fällt die Unterstützung für eine Vereinigung der Ukraine mit Russland gering aus, ebenso wie die Zustimmung zu militärischen Abenteuern auf Kosten von Verbesserungen im Innern.
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